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Spurensuche in Gelsenkirchen-Horst

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Anfang und Ende einer Odysee

Herman Neudorf, 11 Jahre

Abb.: Herman Neudorf, Schüler am Realprogymnasium in Gelsenkirchen-Horst. (Heutige Gesamtschule Horst)

Was am 28. Oktober 1938 geschah, die massenhafte Ausweisung polnischer Juden aus dem Deutschen Reich, ist bislang vergleichsweise wenig erforscht worden. Die Ereignisse werden überschattet von den einige Tage später beginnenden Novemberpogromen. Die Quellenlage ist schwierig: Täterdokumente sind kaum überliefert. Aber – es gibt zahlreiche Spuren von Betroffenen der sogenannten "Polenaktion", so die des Gelsenkircheners Herman Neudorf.

Mit der Abschiebung von Gelsenkirchen nach Zbaszyn (Bentschen) im Oktober 1938 begann Herman Neudorfs Odysee durch Lager und Ghettos der deutschen Faschisten.

Herman war 13 Jahre alt, als sein Leidensweg in Gelsenkirchen-Horst begann. Dieser Weg endete erst sieben Jahre später, als Herman als einziger Überlebender seiner Familie im April 1945 auf einem der Todesmärsche bei der Auflösung des KZ Buchenwald von amerikanischen Soldaten befreit wurde.

 

Herman Neudorf: Meine Gedanken zum 28. Oktober 1938

An einem trüben Herbsttag nahm meine Kindheit ein tragisches Ende. Es war der 28. Oktober 1938, ich war damals 13 Jahre alt. Ich hatte mich grade umgezogen und trug meinen Turnanzug, die übliche Turnstunde am Freitag stand bevor, als plötzlich ein Polizist in unsere Klasse am Realprogymnasium in Horst kam. Vor meinen überraschten Mitschülern befahl er mir in barschem Ton, mit ihm zu kommen. Ich traute mich nicht, den Mund aufzumachen, ich konnte mich nicht einmal mehr umziehen. Völlig verängstigt, verwirrt und frierend folgte ich ihm zum Polizeigefängnis am Horster Stern. Dort sperrte man mich in eine Zelle, in der sich schon meine Mutter und andere Juden befanden. Sie alle waren völlig betäubt und erschrocken. Am Abend wurden wir von Polizisten zum Bahnhof gebracht und mußten in einen wartenden Zug einsteigen, niemand sagte uns, wo die Fahrt hingehen sollte. Später fanden wir heraus, dass man uns an die polnische Grenze in die Nähe eines Ortes Namens Bentschen (Zbaszyn) gebracht hatte. Nachdem der Zug anghalten hatte, warf man uns hinaus und wir standen mitten im Niemandsland an der deutsch-polnischen Grenze.

Aus den Gesprächen der deutschen Grenzer mit den Polen entnahmen wir, das wir nicht als Deutsche galten, obwohl viele von uns in Deutschland geboren waren. Da mein Vater in Polen geboren wurde, sah man seine ganze Familie als polnische Staatsangehörige an, obwohl meine Mutter in Herford und ich in Gelsenkirchen geboren worden war. Zwei schreckliche Tage folgten, ich bekam eine beidseitige Lungenentzündung. Meine hilflose und verzweifelte Mutter pflegte mich, so gut sie konnte. Glücklicherweise konnte Mutter Kontakt mit der Familie meines Vaters in Lodz aufnehmen, sie schickten uns Bahnfahrkarten, so konnten wir zu ihnen fahren. Dort erholte ich mich langsam von meiner Krankheit, dank Mutters liebevoller Pflege und der Hilfe eines Arztes. Zwei wochen später fand dann in Deutschland die "Kristallnacht" statt. Unser Geschäft und unsere Wohnung an der Markenstraße 19 in Gelsenkirchen-Horst wurden völlig zerstört, wir hatten alles verloren. Diese Odysee in die Hölle, die am 28. Oktober 1938 für mich als 13jähriger begann, endete auf wundersame Weise im April 1945, als ich ausgemergelt und dem Tode nahe während eines Todesmarsches von amerikanischen Soldaten befreit wurde. Meine Eltern und alle meine Angehörigen waren tot, ermordet vom Nazi-Regime.

On a dreary autumn day of Oct 28, 1938 at the age of 13, my childhood came to a tragic end. I had changed my underwear into a gymnastic outfit for the usual Turnen-Klasse on Fridays at the Real-Pro-Gymnasium in Horst, a Policeman suddenly appeared in my class room and forcibly marched me out to the surprised glanzes of my schoolmates. I could not even changed my clothes into warmer underwear. Cold, bewildered and frightened I did not dare to open my mouth as he marched me to the local Gefaengnis am Horster Stern. My mother was already there together with other dazed and terrified Jewish people. In the evening all of us were taken to the train station by policemen loading us on a train without telling us where we will be going. Later we found out we went to the polish border and a town called Zbaszyn (Bentschen). After the train stopped,we were dumped into No-mans-land on the German-Polish border.

Listening to the negotiations between he Polish and German Officials we realized that we were not considered German Citizens despite the fact that many of us were born in Germany including myself. Since my father was born in Poland, his entire family was considered Polish Nationals, although my mother was born in Herford, Germany. Two awful days followed in Zbanzsyn. I became ill with double-pneumonia,nursed by my helpless desperate mother. Fortunately she was able to contact my fathers family in Lodz-Poland, who obtained for us train tickets to come to their home. Over there, with the help of a good doctore and their love, I slowly recuperated from my sickness. Two weeks later "Krystallnacht" broke out and our home and business in Horst auf der Markenstr. 19 was completely destroyed and we lost everything. An so, this Odyssey into Hell which began for this 13 year old boy on October 28, 1938 miraculously ended in April 1945 for an ematiated and near dead holocaust survivor, liberated from Riga/Buchenwald during a dead-march by the American Army. All his parents and family members were gone, murdered by the Nazi-regime.

Lebensstationen

Familie Neudorf in Gelsenkirchen-Horst, 1928/29

Abb.: Familie Neudorf in Gelsenkirchen-Horst, 1928/29

Am 28. und 29. Oktober 1938 fand in ganz Nazi-Deutschland die sogenannte "Polenaktion" statt. An diesen beiden Tagen wurden mehr als 18.000 Jüdinnen und Juden polnischer Staatsangehörigkeit (so genannte "Ostjuden") in ganz Deutschland mitten aus ihrem Lebensumfeld gerissen, festgenommen und an die polnische Grenze verschleppt. Den Transport dorthin übernahm die "Deutsche Reichsbahn".

Ein Großteil der Deportierten wurde zunächst in dem damaligen Grenzort Bentschen (Zbąszyń) gesammelt. Durch die dortigen Lebensumstände die nachfolgende Internierung starben bereits viele der verschleppten Menschen, oder sie wurden nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 von der NS-Mordmaschinerie eingeholt.

Diese Diskriminierungsmaßnahme des NS-Terrorregimes gegenüber den in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden stellte einen ersten Höhepunkt der physischen Verfolgung dar und war der eigentliche Auftakt zur nachfolgenden, fast vollständigen Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden. Vor dem Hintergrund der kurze Zeit später folgenden antijüdischen Pogrome in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 (die sogenannte "Reichskristallnacht") sind die Vorgänge um diese bis heute größte Ausweisungsaktion in der deutschen Geschichte fast völlig in Vergessenheit geraten.

Frieda Neudorf und ihr Sohn Hermann aus Gelsenkirchen-Horst waren von der Ausweisungs- und Abschiebeaktion ebenso betroffen wie mehr als 80 weitere Jüdinnen und Juden jeden Alters, die am 28. Oktober 1938 von der Polizei in Gelsenkirchen festgenommen und nach Polen abgeschoben wurden. Anlässlich des Jahrestages dieser Abschiebeaktion hat Gelsenzentrum sich auf Spurensuche begeben und die Lebensstationen der Familie Neudorf in Gelsenkirchen-Horst aufgezeichnet.

Familientreffen im Geschäft von Simon Neudorf an der Fischerstraße 37 in Horst-Emscher (Heute Gelsenkirchen-Horst)

Lebensstationen: Gelsenkirchen-Horst, Fischerstrasse 37.

Familientreffen im Bekleidungsgeschäft von Simon Neudorf an der Fischerstraße 37 in Horst-Emscher (Heute Gelsenkirchen-Horst). Auf dem Foto abgebildet, von rechts nach links: Josef Goldring, Röschen Thiel, Simon Neudorf, Robert Grünewald, Frieda Neudorf, geb. Grünewald, Else Grünewald und sitzend Hedwig Plone.

Handschriftlicher Vermerk auf der Rückseite des Fotos: 21. April bei Neudorf 1925, Horst.-E. Fischerstr.

Lebensstationen: Gelsenkirchen-Horst, Fischerstrasse 37

Abb.: Lebensstationen: Gelsenkirchen-Horst, Fischerstrasse 37

Durch die fortschreitende Industrialisierung im Ruhrgebiet Anfang des 20. Jahrhunderts kamen auch viele Menschen aus Russisch-Polen nach Horst. Einer dieser jüdischen Zuwanderer war Simon Neudorf, der aus Łódź stammte. In den frühen 1920er Jahren war er nach Horst-Emscher gekommen. In diesem Haus an der Fischer- Ecke Harthorststrasse lebte Simon Neudorf, bevor er seine spätere Frau, die aus Herford stammende Frieda Grünewald kennenlernte. In diesem Haus eröffnete das junge Ehepaar bald nach ihrer Hochzeit im Jahr 1923 ein Bekleidungsgeschäft. Am 3. Juni 1925 wurde Sohn Hermann geboren.

Lebensstationen: Gelsenkirchen-Horst, Devensstrasse 18

Abb.: Lebensstationen: Gelsenkirchen-Horst, Devensstrasse 18

Kurzzeitig lebten die Neudorfs auch an der Devensstrasse 18. Das Haus existiert heute nicht mehr. Links ist das Hauptgebäude des ehemaligen Realprogymnasiums zu sehen (Heutige Gesamtschule Horst). Hermann Neudorf besuchte in den dreißiger Jahren zunächst die Jahn-Schule und wechselte dann auf das Realprogymnasium, welches er bis zur Festnahme durch die Polizei am 28. Oktober 1938 besuchte.

Lebensstationen: Gelsenkirchen-Horst, Markenstrasse 19

Abb.: Lebensstationen: Gelsenkirchen-Horst, Markenstrasse 19

In den dreißiger Jahren wurde das Bekleidungsgeschäft an die Markenstraße 19 verlegt, Neudorfs wohnten auch in diesem Haus. Heute steht hier ein nach dem 2. Weltkrieg erbautes Haus. Während der "Polenaktion" wurden Mutter und Sohn verhaftet - Hermann direkt aus dem Schulunterricht, die Mutter befand sich auf dem Weg zum Horster Wochenmarkt - und nach Polen abgeschoben. Dann fanden die Novemberpogrome (die so genannte Reichskristallnacht) statt, auch das Geschäft und die Wohnung der Neudorfs an der Markenstrasse 19 wurden von den Nazihorden verwüstet. Kurz nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 wurde Simon Neudorf in Horst verhaftet und in das KZ Sachsenhausen verschleppt.

Lebensstationen: Gelsenkirchen-Horst, Markenstrasse 29

Lebensstationen: Gelsenkirchen-Horst, Markenstrasse 29

Frieda Neudorf durfte dann aus Polen zurück nach Gelsenkirchen fahren, um hier bei der Enteigung (Arisierung) ihres eigenen Geschäftes mitzuwirken. Nach der Rückkehr wurde die Mutter von den Nazis gezwungen, in ein so genanntes "Judenhaus" an der Markenstrasse 29 zu ziehen. Hermann mußte zunächst in Polen bleiben. Die Nazis "erlaubten" schließlich im Sommer 1940 auch seine Rückreise nach Gelsenkirchen. Im März 1941 erhielten Mutter und Sohn dann die Todesnachricht: Der Vater sei "am 14. März 1941 im KZ an Lungentuberkulose" gestorben. Am 25. Januar 1942 wurden Frieda Neudorf und ihr Sohn dann von der Gestapo in Horst abgeholt, zum Sammellager (Ausstellungshalle) an der Wildenbruchstrasse gebracht und von dort nach Riga verschleppt.

Frieda Neudorf wurde am 28. Juli 1944 im Wald von Biķernieki (Hochwald von Riga) von deutschen Mördern erschossen. Hermann Neudorf überlebte den Naziterror der Deutschen und wurde im April 1945 von amerikanischen Truppen aus dem KZ Buchenwald befreit. Für eine kurze Zeit kehrte er danach in seine Geburtsstadt Gelsenkirchen zurück. Seine lebensgeschichtlichen Erinnerungen an die NS-Zeit in Deutschland, Polen und Lettland hat er bald nach seiner Befreiung niedergeschrieben. Herman Neudorf - seinen deutschen Vornamen Hermann hat er der amerikanischen Schreibweise angeglichen - lebt heute in den USA.

Update: Im Alter von 97 Jahren verstarb Herman D. Neudorf sel.A. am 26. April 2023 in seiner Wahlheimat Hallandale Beach (Florida). Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren.

→ Herman Neudorf: "Das war Riga"

→ Hintergründe: Die so genannten "Polen-Aktionen" 1938/39

Abbildungen: S/W Fotos aus dem Privatbesitz von Herman Neudorf, Gelsenzentrum e.V.

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Andreas Jordan, Oktober 2013, edit. 2023

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