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Die Vertreibung der polnischen Juden aus Deutschland 1938

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Die so genannten "Polen-Aktionen" 1938/39

Abgeschobene deutsche Juden in Bentschen (Zbąszyń)

Abb.: Aus dem Deutschen Reich ausgewiesene Juden in Bentschen (Zbąszyń)

Im Rahmen der ersten "Polenaktion" zwischen dem 27. und 29. Oktober 1938 wurden etwa 18.000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit (so genannte "Ostjuden") über Nacht aus dem "Dritten Reich" ausgewiesen. Diese Diskriminierungsmaßnahme des NS-Regimes gegenüber jüdischen Menschen stellte einen ersten Höhepunkt der Verfolgung dar und war der eigentliche Auftakt zur Vernichtung der europäischen Juden.

Einige Tage nach der Ausweisung seiner Eltern im Rahmen der ersten "Polenaktion" erschoß der 17jährige Herschel Feibel Grynszpan aus Verzweiflung darüber am 7. November 1938 einen Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Paris. Das Attentat nahmen die deutschen Faschisten bekanntermaßen zum Anlass, um die Pogrome zwischen dem 7. bis 13. November 1938 gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland zu initiieren, deklariert als angeblichen "spontanen Ausbruch der kochenden Volksseele."

Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 bildete den traurigen Höhepunkt der gewaltsamen Ausschreitungen, diese Nacht wird im allgemeinen Sprachgebrauch auch "Reichskristallnacht" oder "Reichspogromnacht" genannt, in dieser Nacht wurden Synagogen und Betsäle im gesamten Reichsgebiet vorsätzlich niedergebrannt.

Erste gegen die jüdische Minderheit gerichtete Ausschreitungen gab es bereits am Abend des 7. November mit Bekanntwerden des Attentats von Paris bspw. in Kassel. Im Laufe des 8. November 1938 wurden von unbekannten Tätern die Fenster der Marburger Synagoge eingeworfen. Am 8. November wurde - als eine der ersten in Deutschland im Zuge der sogenannten Novemberpogrome - die Synagoge in Bad Hersfeld in Brand gesetzt, später am Abend brannte dann auch die Gelsenkirchener Synagoge in der Altstadt.

In Gelsenkirchen gab es nach 1945 ein Verfahren gegen den mutmaßlichen Brandstifter der hiesigen Synagoge in der Altstadt. In den → Strafprozeßakten wird in den Aussagen und der Anklageschrift durchweg von einer Inbrandsetzung der Gelsenkirchener Synagoge am Abend des 8. November 1938 gesprochen, ebenso im Urteil. Auch in so genannten "Wiedergutmachungsakten" findet sich für den Zeitpunkt der Brandstiftung dieses Datum.

Am 26. Oktober 1938 verhängte der Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei, Heinrich Himmler, ein sofortiges Aufenthaltsverbot für die im "Deutschen Reich" lebenden Juden polnischer Herkunft, die seit mehr als fünf Jahren in Deutschland ansässig waren und durch eine kurz zuvor ergangene neue Verordnung der polnischen Regierung zu staatenlosen Menschen erklärt worden waren. Während die Gestapo im Auftrag des Auswärtigen Amtes die Abschiebeaktion veranlaßte und die einzelnen Maßnahmen koordinierte, lag die konkrete Durchführung bei der Schutzpolizei. In den beiden folgenden Tagen wurden etwa 18.000 "Ostjuden", gegen die die NS-Propaganda seit Jahren Front gemacht hatte, festgenommen und an die polnische Grenze gebracht. Ein Großteil der Deportierten sammelte sich in dem damaligen Grenzort Bentschen (Zbąszyń).

Vor dem Hintergrund der antijüdischen Novemberpogrome 1938 sind die Vorgänge um die so genannte erste "Polenaktion", die bis dato größte Ausweisungsaktion des NS-Regimes in der deutschen Geschichte, jedoch fast völlig vergessen.

Fortsetzung der Ausweisungsaktion 1938/39

Ende Januar 1939 einigten sich Polen und das Deutsche Reich auf ein Abkommen, in dem Polen die Aufnahme der Ausgewiesenen und ihrer engsten Angehörigen zusagte und das Deutsche Reich seinerseits den Transfer des Besitzes und des Vermögens der Ausgewiesenen zubilligte. Zu diesem zweck durften insgesamt knapp 5000 Personen in einem Zeitraum von 14 Tagen nach einem vorherigen Antrag über die zu diesem Zweck eingerichtete gemeinsame polnisch-deutsche Grenzdienststelle bei Neu-Bentschen ins Reichsgebiet zurückreisen, um ihre Geschäfte und Vermögen zu "liquidieren" und ihre Angehörigen nach Polen zu holen. Weitere Personen konnten zum Zwecke der 'Emigration' kurzfristig nach Deutschland zurückkehren.

Die Ausweisungen hörten Ende Oktober 1938 nicht auf. Spätestens im Dezember 1938 nahm die Berliner Ausländerpolizei die Ausweisungspolitik wieder auf, auch reichsweit wurden Menschen ausgewiesen. Die bisher geschätze Zahl von 15.000 Personen, die bis zum August 1939 ausgewiesen wurden, ist vermutlich zu niedrig. Die Hauptwellen der Ausweisungen fanden im Mai und Juni 1939 statt, im Juni 1939 musste das Reichsministerium des Inneren an die nachgeordneten Behörden kommunizieren, dass die Ausweisungen abzuschwächen sein, da polnischerseits die Grenze mittlerweile zu intensiv bewacht wurde. Die Ausweisungen des Jahres 1939 wurden in kleineren Gruppen, quasi dauerhaft entlang der nicht engmaschig bewachten "grünen Grenze" durchgeführt.

Ende Juli endete die Frist, die allen Jüdinnen und Juden polnischer Staatsangehörigkeit im Reichsgebiet per individuellen Ausweisungsbefehl zum endgültigen Verlassen des Reichsgebietes vorgegeben war. Hiernach drohte die Ausweisungshaft in einem Konzentrationslager. Diese Androhung ist dann in der zweiten "Polenaktion" partiell umgesetzt worden, mit wenigen Ausnahmen wurden die Inhaftierten allerdings nicht freigelassen.

Die zweite "Polenaktion" war eine exzeptionelle Verfolgungsmaßnahme, die bisher in der Fachliteratur weder als als eigenständiges historisches Ereignis noch in Verbindung mit der ersten "Polenaktion" und den Ausweisungen des Jahres 1939 betrachtet und diskutiert worden ist. Knapp zusammengefasst handelt es sich um eine Masseninhaftierungs- und Verschleppungsaktion von männlichen Juden polnischer und vormals polnischer Staatsangehörigkeit. Frauen wurden auf Rückfrage der untergeordneten Behörden explizit nicht einbezogen. Den Befehl zur Verhaftungsaktion gab Reinhard Heydrich. Im Befehl wurde die reichsweite Verhaftung und Internierung von Juden polnischer Staatsangehörigkeit in den Konzentrationslagern Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen angeordnet.

Die Sichtbarkeit der ersten "Polenaktion" setzte sich in der zweiten "Polenaktion" im September 1939 fort. Auch hier wurden die Verhaftungen öffentlich durchgeführt. Jerzy Tomaszewski hat die Polenaktion "den Auftakt zur Vernichtung" genannt, womit er eine überzeugende Interprätation vorgegeben hat. Wenn man genauer hinschaut, kann man erkennen, dass die erste "Polenaktion" eine zentrale Radikalisierung der verfolgung der Jüdinnen und Juden darstellte, erstmals wurde eine große Gruppe, deren Erfassung monatelang vorbereitet worden war, systematisch über die Grenze verbracht. Weiterhin ist es ein relevanter Moment des Täter"lernens", in dem Handlingswissen generiert wird, dessen Nutzung in späteren Deportationen naheliegend ist.

Eine Kernerkenntnis der nationalsozialistischen Täter müssen die deutliche Zustimmung und der kaum erkennbare Widerstand gewesen sein. Die erste "Polenaktion" hat den ausführenden Behörden den Möglichkeitsraum der Gewalt aufgezeigt, der dann zunächst bei der zweiten "Polenaktion"- den Ausweisungen des Jahres 1939 - und anschließend systematisch ausgeweitet wurde. Die gesellschaftliche Akzeptanz des Vorgehens ist eine Schlüsselerkenntnis, zeitgenössisch wie retrospektiv.

(Vgl.: Alina Bothe in 'Informationen' Nr. 89, S.8-11, Mai 2019, 44 Jg.)

Strecken der Reichsbahn - Ausweisung Polnischer Juden Oktober 1938

Abb.: Auf den Strecken der deutschen Reichsbahn wurden die polnischen Juden aus dem "Reichsgebiet" an die polnische Grenze transportiert.

Nazi-Propaganda in der Rheinisch-Westfaelischen Zeitung (Essen) vom 29. Oktober 1938

Nazi-Propaganda in der Rheinisch-Westfaelischen Zeitung (Essen) vom  29.10.1938)

Abschrift des nebenstehenden Artikels:

Juden verlassen Essen

Essen, 28. Okt. Ein großer Teil der Juden ist nach 1918 nach Deutschland gekommen; viele Juden aus Polen und Ostgalizien waren auch nach Essen gekommen. Da diese Juden noch immer polnische Staatsbürger waren, so blieb dem polnischen Staat schließlich nichts anderes überig, als sie jetzt zur Rückkehr aufzufordern und andernfalls ihnen anzudrohen, daß sie sonst die polnische Staatsbürgerschaft unweigerlich verlieren würden. So sammelten sich am Freitag nachmittag auf verschiedenen Plätzen Essens insgesamt 461 galizische Juden, um hier unter polizeilicher Aufsicht die Abreiseformalitäten zu regeln. Am 29. Oktober müssen sie alle drüben in Polen sein, sonst werden sie nicht mehr hineingelassen. Mit Schmunzeln betrachtete die Bevölkerung Essens den Ausmarsch der Juden.

Nazi-Propaganda in der National-Zeitung (Essen) vom  29.10.1938)

Abb.: "Ein schmerzloser Abschied - Ostjüdisches Gesindel verließ spontan Essen". Demütigende Nazi-Karikatur aus der "National-Zeitung" Essen, 29. Oktober 1938

Literaturhinweis:

"Ich war ein seltener Fall" - Die deutsch-jüdisch-polnische Geschichte der Leni Zytnicka

Abgeschobene deutsche Juden in Bentschen (Zbąszyń)

Der 28. Oktober 1938 veränderte das Leben der Essenerin Helene Zytnicka von Grund auf: Mit ihrem jüdischen Ehemann und zwei Kindern deportierte man sie, wie fast alle „Ostjuden“ aus dem Reich, an die deutsch-polnische Gren- ze. Nach einem mehrmonatigen Provisorium in Zbaszyn geriet die Familie 1939 nach War- schau, wo sie unter deutscher Besatzung schon bald gezwungen wurde, im Ghetto zu wohnen.

Im Jahre 2000 berichtete die damals 96-jährige Zeitzeugin, wie sie diese Gewaltaktionen erfuhr und mit falschen Papieren und illegalen Geschäften ihre Angehörigen zu retten suchte.

Ihre Erinnerungen an die Vorgeschichte und die dramatischen Folgen der Zwangsausweisung von 1938 werden in diesem Band in den zeitgeschichtlichen Rahmen gestellt. In diesem zum Jahrestag der "Polenaktion" 2018 erschienen Band gehen die Autoren Heidi Behrens und Norbert Reichling dem Schicksal der seinerzeit nach Zbaszyn ausgewiesenen Essener Familie Zytnicki/Zytnicka nach (darin auch Gesenkirchen-Erwähnungen).

Ausweisung Gelsenkirchener Juden 

Am 28. Oktober 1938 wurden in Gelsenkirchen etwa 80 Juden jeden Alters mit polnischer Staatsangehörigkeit von der Schutzpolizei verhaftet und in Abschiebehaft genommen. Darunter war auch Herman Neudorf, dessen Verfolgungsschicksal hier exemplarisch erwähnt wird. Der damals 13jährige wurde von einem Polizisten vor den Augen seiner Mitschüler aus dem Schuluntericht am Horster Realgymnasium (später Werner-Mölders-Schule, heute Gesamtschule Horst) herausgeholt und in das Polizeigefängnis in Gelsenkirchen-Horst an der Buerer Strasse gebracht. Dort traf er auf seine zwischenzeitlich ebenfalls inhaftierte Mutter. Alle Festgenommenen wurden mit der Reichsbahn nach Bentschen (Zbąszyń) verbracht.

Die zum Abtransport eintreffenden Juden sind auf dem schnellsten Wege zur deutsch-polnischen Grenze zu schaffen.

Abb.: Im Schreiben des Polizeipräsidenten Recklinghausen vom 28. Oktober 1938 angegebener Verteiler: Polizeiämter Gelsenkirchen, Gladbeck, Bottrop

Salomon Lieber, Gelsenkirchen - Ausweisung Polnischer Juden Oktober 1938

Abb.: Aufenthaltsverbot im Zuge der so genannten "Polenaktion", gerichtet an Salomon Lieber, Gelsenkirchen. Seine Lebensspur verliert sich im Sommer 1939 im Internierungslager Bentschen (Zbaszyn).
(Quelle: Entschädigungsakte Otto Lieber, StA Gelsenkirchen, 50/6, 6130, A285)

Aus Gelsenkirchen am 28. Oktober 1938 nach Bentschen deportiert: → Namensliste

Herman Neudorf ist der letzte lebende jüdische Zeitzeuge aus Gelsenkirchen, der persönlich von der "Polen-Aktion" betroffen war. Herman, der heute in den USA lebt, erinnert sich:

"Wir hatten überhaupt nichts bei uns. Meine Mutter war auf dem Weg zum Markt festgenommen worden, außer ihrer Handtasche hatte sie nichts bei sich. Mein Vater war zu der Zeit in Düsseldorf beim Polnischen Konsulat, um Papiere zu besorgen. So wurde er zunächst nicht ausgewiesen. Als er zurück kam, waren wir schon an die deutsch-polnische Grenze geschafft worden. Die Deutschen hatten uns herausgeworfen, und die Polen wollten uns nicht hereinlassen. Die SS hat uns mit Stöcken geschlagen und über die Grenze ins Niemandsland getrieben. Es war Ende Oktober, es war kalt, es regnete und wir hatten nichts - keine Decken keine Mäntel - gar nichts. Wir kampierten in Schulen, lagen auf Stroh, es gab dort überhaupt nichts."

Harte Monate der Internierung

Abgeschobene deutsche Juden ind Bentschen (Zbąszyń) Die Abgeschobenen wurden schließlich auf polnischen Boden gelassen, mußten aber zunächst in Zbąszyń bleiben, wo die örtlichen Behörden ihnen auf einem alten Kasernengelände leerstehende Pferdeställe zur Verfügung stellten, deren Boden notdürftig mit Stroh bedeckt waren. Die hygienischen Bedingungen dort waren katastrophal, da jegliche Voraussetzungen für eine Versorgung von tausenden Menschen fehlte. Die polnischen Behörden erlaubte die Abreise fortan nur noch unter bestimmten Voraussetzungen. Diese waren erfüllt, wenn der Betroffene nachweisen konnte, dass er in Polen entweder bei Familienangehörigen bzw. Bekannten unterkommen würde oder entsprechende Papiere für eine bevorstehende Emigration besaß. Auch sind Fälle dokumentiert, in denen die Betroffenen kurzzeitig in das "Deutsche Reich" zurückkehren "durften", um dort an der Auflösung ihrer Haushalte oder Geschäfte mitzwirken und ihre Vermögensverhältnisse zu klären. Im Anschluss daran wurden sie wieder nach Polen ausgewiesen.

Polnische Juden Anfang November 1938 in Zbąszyń

Der aus Hamburg stammende Zeitzeuge Dan Gelbart schrieb später über die Verhältnisse in dem polnischen Grenzort:

"Tausende von Menschen waren im Bahnhof Zbąszyń auf der polnischen Seite der deutschpolnischen Grenze zusammengepfercht. Körper an Körper, Kopf an Kopf, dicht gedrängt wie eine Herde Vieh, die Zuflucht vor einem herannahenden Sturm sucht. Nur einen Tag vorher waren sie als Hausfrauen, Familienoberhäupter und Schulkinder in aller Ruhe noch ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgegangen. Dann plötzlich wurden sie mit Zügen zur Grenze gebracht und bei Nacht von aufgepflanzten Bajonetten durch das Niemandsland getrieben. Die Schwachen stolperten, die Kranken fielen. Arme umklammerten verzweifelt einige wenige Habseligkeiten. Bald nachdem sie die Bahnhofshalle erreicht hatten, ließen sich die Verzweiflung der Eltern, der Hunger der Kinder und das Leid der Kranken nicht länger unterdrücken. Bald schon konnten auch die polnischen Grenzposten das Schluchzen und Schreien nicht mehr unter Kontrolle halten, das gegen die dunklen Mauern der Bahnhofshalle anstürmte."

Abgeschobene deutsche Juden ind Bentschen (Zbąszyń) Nachdem sich die polnischen Grenzposten darum bemüht hatten, die Ausgewiesenen zu registrieren bzw. ihre Pässe zu kontrollieren, konnten viele von ihnen innerhalb der ersten zwei Tage in das Landesinnere weiterreisen. Diejenigen allerdings, die nicht wussten wohin und denen man die Einreise verweigerte, wurden in Bentschen interniert. Ende November lockerten die polnischen Behörden ihre Bestimmungen, so daß einige wenige Kinder und Jugendliche, die Angehörige in Polen besaßen, das Lager verlassen durften. Auch Herman Neudorf gehörte zu dieser Gruppe. Er fuhr nach Lódz und verbrachte dort mehrere Monate bei der Familie seines Vaters.

Herman Neudorf berichtet:

"Es gab dort in Zbąszyń ein Telefon. So konnten wir unsere Verwandten in Polen anrufen - Großvater, Großmutter und Tanten. Wir konnten ihnen erzählen, wo wir waren. Sie schickten uns Geld für eine Bahnfahrt, um zu ihnen zu kommen. Unsere Verwandten nahmen uns zunächst einmal auf. Wir hatten Kontakt mit dem Vater aufgenommen und gegen Ende des Jahres kam er uns in Polen besuchen. Seine Mutter war aus natürlichen Gründen verstorben. Wir gingen zu der Beerdigung und wir waren zunächst alle wieder zusammen."

Auch von Markus und Cilla Jeckel aus Gelsenkirchen fehlt ab dem Zeitpunkt der Ausweisung nach Polen jedes weitere Lebenszeichen. Ein letztes Lebenszeichen von Sohn Isidor Jeckel ist ein von ihm in Zbąszyń geschriebener Brief, gerichtet an seinen ebenfalls aus Gelsenkirchen stammenden Freund Ernst Alexander. Dieser konnte bereits im Januar 1938 von seiner Mutter Frieda in die USA in Sicherheit gebracht werden. In dem nachstehend abgebildeten Brief aus Zbąszyń, datiert auf den 9. Januar 1939, beschreibt der damals 16jährige Isidor Jeckel auch die Verhaftung in Gelsenkirchen und die unmenschlichen Zustände im Internierungslager Zbąszyń. So schildert er, wie er und sein Vater von der (Zwangs)Arbeitstelle in Gelsenkirchen direkt in das Gefängnis gebracht wurden, ohne sich vorher entsprechende Bekleidung aus ihrer Wohnung holen zu dürfen. Weiter schreibt Isidor: "(...) wünsche ich alles Gute, vor allem wünsche ich keinem jüdischen Jungen in eine solche Lage zu kommen, wie ich es bin (...)."

Brief aus Bentschen

Abb.: Isidor Jeckel schreibt im Januar 1939 aus Bentschen (Zbaszyn) an seinen aus Gelsenkirchen stammenden Freund Ernst Alexander, der - bereits gerettet - in der USA lebte.

Der folgende Brief beschreibt exemplarisch die Umstände einer Verhaftung und die anschließende Deportation von Deutschland nach Zbąszyń im Zuge der so genannten "Polen-Aktion":

A Letter Describing the Deportation to Zbąszyń, December 1938:

My dear ones!

You have probably already heard of my fate from Cilli. On October 27 of this year, on a Thursday evening at 9 o’clock, two men came from the Crime Police, demanded my passport, and then placed a deportation document before me to sign and ordered me to accompany them immediately. Cilli and Bernd were already in bed. I had just finished my work and was sitting down to eat, but had to get dressed immediately and go with them. I was so upset I could scarcely speak a word. In all my life I will never forget this moment.

I was then immediately locked up in the Castle prison like a criminal. It was a bad night for me. On Friday at 4 o'clock in the afternoon we were taken to the main station under strict guard by Police and SS. Everybody was given two loaves of bread and margarine and was then loaded on the freight cars. It was a cruel picture. Weeping women and children, heart-breaking scenes. We were then taken to the border in sealed cars and under the strictest police guard. When we reached the border at 5 o'clock on Saturday afternoon we were put across. A new terrible scene was revealed here. We spent three days on the platform and in the waiting rooms, 8,000 people. Women and children fainted, went mad, people died, faces as yellow as wax. It was like a cemetery full of dead people.

I was also among those who fainted. There was nothing to eat except the dry prison bread, without anything to drink. I never slept at all, for two nights on the platform and one in the waiting room, where I collapsed. There was no room even to stand. The air was pestilential. Women and children were half dead. On the fourth day help at last arrived. Doctors, nurses with medicine, butter and bread from the Jewish Committee in Warsaw. Then we were taken to barracks (military stables) where there was straw on the floor on which we could lie down....

H.J. Fliedner in "Die Judenverfolgung in Mannheim 1933-1945" ("The Persecution of the Jews in Mannheim 1933-1945"), II, Stuttgart, 1971, pp. 72-73.

This was the first deportation of Jews from Germany on October 27 and 28, 1938, which involved Jews holding Polish nationality. The Poles refused to allow the Jews to enter Poland, and they were concentrated near the border city of Zbąszyń.

From: Documents on the Holocaust, Selected Sources on the Destruction of the Jews of Germany and Austria, Poland and the Soviet Union, Yad Vashem, Jerusalem, 1981, Document no.55

Verschleppt und ermordet

Der Verbleib der in Bentschen (Zbąszyń) internierten Menschen hing von verschiedenen Faktoren ab. Konnten sie Bentschen nicht auf irgendeinem Wege vorzeitig verlassen, verblieben sie dort bis zur allmählichen Auflösung des Lagers im Sommer 1939. Vielen anderen indes gelang es nicht mehr rechtzeitig vor dem deutschen Überfall, aus Polen zu fliehen. Sie wurden während der Zeit der deutschen Besatzung in die Vernichtungslager verschleppt und dort ermordet. Darunter auch fast alle der aus Gelsenkirchen abgeschobenen Menschen.

Herman Neudorf berichtet:

Am 1. September brach der Krieg aus. Ich war in Lódz, mein Vater und meine Mutter waren in Deutschland. Am 2. oder 3. September wurde mein Vater als feindlicher Ausländer verhaftet. Man brachte ihn in das Konzentrationslager Sachsenhausen, nahe Berlin. So war meine Mutter alleine in Deutschland und ich war in Lódz. Wie ich mich erinnere, marschierten die Deutschen am 8. September in Lódz ein. Von da an veränderte sich alles dramatisch. Nun waren die Juden Freiwild. Sie wurden aufgegriffen, auf Lastwagen geladen und von einer Stunde auf die andere wussten die Menschen nicht, was aus ihren Ehemännern, Vätern und Söhnen wurde ... Juden wurden geschlagen oder vertrieben. Manche Polen freuten sich, Stellungen von Juden zu übernehmen. Juden konnten behandelt werden wie man wollte. Das war aber erst der Anfang.

1940, ich denke, es war im Januar, begannen die Deutschen damit, das erste Ghetto aufzubauen. Das war in Lódz. In dieser Zeit änderte sich der Name von Lódz in Litzmannstadt. Ich schaffte es, aus dem Ghetto herauszukommen, genau in der Woche, als sie das Ghetto endgültig absperrten. Meine Tante und ihr Mann nahmen mich auf.

Abgeschobene deutsche Juden ind Bentschen (Zbąszyń)

Abb.: Deutsche Juden in Bentschen (Zbąszyń), Novem- ber 1938

Einigen wenigen der Betroffenen der "Polen-Aktion" gelang die Emigration. Den meisten Menschen gelang es jedoch nicht, sich dem deutschen Zugriff auf Dauer zu entziehen. Viele holte der Krieg in den Niederlanden, Belgien oder Frankreich ein. Sie wurden von dort deportiert. Ähnlich erging es jenen, die aus verschiedenen Gründen in das "Deutsche Reich" zurückkehrten.

Überlebten sie die Inhaftierung in den Konzentrationslagern wie Sachsenhausen, Dachau oder Buchenwald, kamen auch sie in die Vernichtungslager, in das Ghetto Theresienstadt oder in eines der Arbeitslager. Die Spuren der nach ihrer Zwangsausweisung in Polen verbliebenen Juden verlieren sich zumeist in einem der unzähligen von den Deutschen dort errichteten Ghettos, wohin sie mit ihren Familienangehörigen oder Bekannten, bei denen sie einstmals Zuflucht fanden, deportiert wurden. Zu vielen Opfern der "Polen-Aktion" allerdings lassen sich bis heute noch keine genauen Aussagen treffen. Ihre Schicksale bleiben nach dem derzeitigen Kenntnisstand ungewiss. Es ist nicht bekannt, ob sie deportiert wurden, noch ins Ausland fliehen konnten oder den Krieg überhaupt überlebten.

Herman Neudorf berichtet:

In der Zwischenzeit hatte meine Mutter sich bemüht, bei der Gestapo eine Genehmigung dafür zu kriegen, daß ihr einziger Sohn zurückkommen könnte. Ich weiß nicht warum, und ich kenne auch keinen anderen Fall, aber sie gaben die Erlaubnis, daß ich von Polen zurück nach Deutschland kommen und mit ihr wieder zusammen gebracht werden konnte. Mit anderen Worten: In Lódz hatten wir schon den Gelben Stern auf der Kleidung vorne und hinten. In Polen hatten wir ein weißes Band um den Arm mit einem blauen Stern darauf, und nun erlauben Sie mir, mit einem deutschen Zug zu fahren. Bis heute hört sich das unglaublich an: Ein jüdischer Junge durfte mit den deutschen Truppen aus Polen nach Deutschland zurück fahren.

Und ich kam im Juni 1940 zurück nach Deutschland. Nach der "Kristallnacht" war meine Mutter aus unserer Wohnung in ein "Judenhaus" an der Markenstrasse 29 in Gelsenkirchen-Horst eingewiesen worden. Dort lebte ich nun mit meiner Mutter in einem Raum. Wir mussten aber noch keinen Stern tragen, konnten uns frei bewegen und zur Arbeit gehen. Ich ging zur Arbeit nach Essen. Wir bekamen Post von meinem Vater - einmal im Monat konnte er eine Karte aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen/Oranienburg schreiben. Wir wußten, daß dort die Hölle war. Als Kind wußte ich aber nicht wirklich, wie schlimm es war. Aber mein Vater schrieb immer, daß es ihm gut gehe. Ich schrieb ihm. Und ich schrieb auch Verwandten, daß er rauskommen würde wenn wir ein Visa von irgendeinem Land bekommen würden. Jedoch erfüllten sich unsere Hoffnungen nicht, denn schon bald begann der zweite Teil der Tragödie.

→ Die lebensgeschichtlichen Erinnerungen von Herman Neudorf: Das war Riga ...

Stolpersteine in Gelsenkirchen

Simon Neudorf, der aus Lódz in Polen stammte, wurde nach dem deutschen Überfall auf Polen in das KZ Sachsenhausen verschleppt und dort am 14. März 1941 ermordet. Die Urne mit seinen sterblichen Über- resten wurde der Familie gegen Gebühr zugestellt. Die Urnenbeisetzung fand am 16. April 1941 auf dem jüdischen Friedhof in Gelsenkirchen-Ückendorf statt. Frieda Neudorf und Sohn Hermann wurden am 27. Januar 1942 von Gelsenkirchen nach Riga deportiert. Frieda Neudorf wurde bei Auflösung des KZ Kaiserwald am 28. Juli 1944 erschossen. Auch die Verwandten der Neudorfs in Polen überlebten die Shoa nicht. Nur eine Schwester des Vaters von Herman Neudorf überlebten - wie Herman selber - die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten. Zur Erinnerung an Simon und Frieda Neudorf wurden am 13. Juli 2009 an der Markenstrasse 19 vor dem damaligen Wohnort der Familie Neudorf die ersten Stolpersteine in Gelsenkirchen verlegt.

Fotos: Yad Vashem

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Andreas Jordan, Juni 2010. Nachtrag 'Fortsetzung der Ausweisungsaktion 1938/39', Oktober 2019

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