GELSENZENTRUM-Startseite

Entnazifizierung in Gelsenkirchen

← Volk und Vaterland

Header Gelsenzentrum e.V. Gelsenkirchen

Der Führer ist gegangen, die Nazis sind geblieben

Das zeigte sich in den frühen Jahren der Bundesrepublik allerorten, die meisten der NS-Täter kamen sehr schnell wieder zu Amt und Würden, in Gelsenkirchen und anderswo. Unzählige "Belastete" und "Dabei- gewesene" konnten später Versorgungsansprüche geltend machen und kassierten für ihre Tätigkeiten im so genannten "Dritten Reich" enstprechende Renten und Pensionen. Einige erstritten ihre "Ansprüche" vor bundesdeutschen Gerichten, wo die gleichen Richter saßen wie vor 1945. Die vielgepriesene "Entnazi- fizierung" kann im Rückblick als weitestgehend gescheitert betrachtet werden.

Mut zur Feigheit

Nach der "Befreiung" mussten die ehemaligen Partei- und Volksgenossen für ihre Gesinnung gradestehen und entwickelten erstmals Mut - den Mut zur Feigheit. Auch heute greift eine ähnliche Form von Feigheit weiter um sich. Viele Leute drücken alles weg, sind voller Abwehr, wollen sich weiterhin nicht den von ihren Eltern und Großeltern unterstützten oder gar begangenen Verbrechen in der Zeit zwischen 1933-1945 stellen. Sobald mal jemand daran rührt, hat das zumeist Ärger zur Folge. Die Wenigsten wollen sich persönlich auch nur in die Nähe des menschenverachtenden so genannten "Dritten Reiches" und seiner Verbrechen begeben. Ähnliches Verhalten finden sich in jüngerer zeit auch wieder vermehrt in den Reihen der etablierten Parteien und auch bei Institutionen.

Das Aufkommen der Rechten wie Pegida, AfD und Co. ist nicht zuletzt auch der gescheiterten Entnazifizierung und der in Teilen der Gesellschaft noch heute fehlenden moralischen und politischen Anerkennung der deutschen Verbrechen während der Nazi-Zeit geschuldet. Gerade in diesen Zeiten, in denen einige immer unverhohlener versuchen, die menschenverachtende Ideologie und den Völkermord der Nazis zu relativieren und zu verharmlosen, gilt es mehr denn je, die Stimme zu erheben. Und mitunter wünscht man sich eine weitere, gelingende Entnazifizierung.

Ein Hakenkreuz wird entfernt, Hamburg 1945

Abb.: Beispiel aus Hamburg: Ein Hakenkreuz wird entfernt, 1945.

Aspekte der Entnazifizierung in Gelsenkirchen

Von Anfang an hatten die Besatzungsmächte Gewerkschafter an der Entnazifizierung beteiligt. In Gelsenkirchen wurden vier Gewerkschafter in den Dienst der politischen Polizei abgeordnet. Franz Rogowski, Kommunist aus dem „Einheitsverband der Bergarbeiter Deutschlands", berichtet über seine Erfahrungen mit dem Beginn der Entnazifizierung in Gelsenkirchen:

"Ich wurde mit drei weiteren Gewerkschaftern zur FSS (englische Militärpolizei) abgeordnet. Im Polizeipräsidium Buer, unser Domizil für die nächste Zeit, herrschte ein wildes Durcheinander. Auf den Fluren lagen Akten herum, die von den Nazipolizisten nicht mehr vernichtet werden konnten, da die Amerikaner zu nahe an ihren Tatort gekommen waren. Der größte Teil der politischen Aktenunterlagen der Gestapo war im Hof des Präsidiums verbrannt worden. Einige ältere Polizeibeamte aus der Naziära befanden sich im Haus und erwarteten ängstlich die Anordnungen der amerikanischen Besatzer. Eingefunden hatten sich auch einige Polizeibeamte aus der Weimarer Zeit, die wegen ihrer Mitgliedschaft zum Schraderverband (Polizeigewerkschaft) suspendiert worden waren und nun beim Neuaufbau helfen wollten. Die deutschen Säuberungsbehörden und die Polizei bekamen von dem Militärkommandanten Major S. Abbey über die FSS Anweisungen zu ihrem Vorgehen. Festgenommen werden mußten alle Hoheitsträger der Faschisten und die Mitglieder der vom Kontrollrat als verbrecherisch erklärten Organisationen der NSDAP. Dies reichte von SS- und SA-Scharführern sowie der anderen Organisationen bis zu deren obersten Führern. Alle Hauptfunktionäre in leitender Stellung und die Mitglieder der "Alten Garde" fielen unter die Anordnungen der Militärregierung.

Jeden Tag wurden uns Faschisten zur ersten Vernehmung von englischen Soldaten vorgeführt oder Listen mit zu verhaftenden Nazis übergeben. Aus den noch vor kurzem sich gebärdenden Herrenmenschen waren armselige, erbärmliche Kreaturen geworden, die größtenteils unter Weinen versicherten, zur Mitgliedschaft und ihren Taten bei den Faschisten gezwungen worden zu sein. Nach den Vernehmungen wurden sie von Soldaten der FSS abgeholt und in das Militärcamp nach Recklinghausen eingeliefert. Insgesamt wurden in Buer 188 Nazis inhaftiert, in Gelsenkirchen 209, die ins Lager gebracht wurden. Auch für die Nachprüfstellen zur Entfernung der Nationalsozialisten begann eine harte Arbeit. Von der Militärregierung kam die Anordnung, sämtliche Beschäftigten der öffentlichen Ämter zu überprüfen. Ebenfalls sollten die Funktionäre von Industrie und Wirtschaft den Beweis erbringen, nicht Faschisten gewesen zu sein.

Flugblatt, 1946

Abb.: Flugblatt, 1946. Nach 1945 behaupteten allzu viele Deutsche, sie seien gar keine Nazis gewesen, obwohl sie fast alle an ihrer Stelle im NS-System funktioniert haben.

Die vom Military Gouvernment of Germany herausgegebenen Fragebogen mußten mit dem Lebenslauf ausgefüllt dem Entnazifizierungs- ausschuß abgegeben werden und wurden von diesem überprüft. Besetzt war der Ausschuß von Mitgliedern der bis dahin gebildeten demo- kratischen Parteien, der Naziverfolgten und Christen beider Konfessionen.

Zur Überprüfung von undurchsichtig ausgefüllten Fragebogen wurde die FSS und zuletzt die politische Polizei eingeschaltet, um die Echtheit der Angaben festzustellen. Von uns wurden dann Recherchen angestellt und die zugelassenen Parteien mit eingeschaltet, die in Mitglie- derversammlungen berieten, wie der betreffende Persilschein-Bewerber als Mensch oder Faschist einzuschätzen sei. Danach wurde vom Entna- zifizierungsausschuß entschieden, wie der Bewerber in die neue Demokratie zu entlassen war, als Nazibelasteter oder als freier Mensch.

Konnten die Entnazifizierungsbehörden kein Urteil fällen, was öfter vorkam, bekamen wir die Unterlagen zu weiteren Überprüfungen zurück und es wurde erneut nachgeforscht. Danach gingen die Unterlagen gleich zum öffentlichen Ankläger beim Spruchgericht in Recklinghausen oder in schwereren Fällen (bei Kriegsverbrechern) an das Spruchgericht in Bielefeld, mit einer Durchschrift an den Oberstaatsanwalt Essen. Die allerletzte Instanz blieb aber die Militärregierung. Das zeigte sich besonders bei den führenden Leuten der Industrie. Sie kamen nicht vor den zuständigen Ausschuß, sondern wurden in den beschlagnahmten Villen von den britischen Offizieren persönlich "entnazifiziert" - mit dem Ergebnis, daß sie bald fast alle wieder auf ihren Posten saßen."

Der erste Schwerpunkt der Entnazifizierung war die Verwaltung. Das öffentliche Leben sollte entnazifiziert werden. Bis zum Jahresende 1945 waren bei der Stadtverwaltung Gelsenkirchen 275 Beamte, Angestellte und Arbeiter aus politischen Gründen entlassen worden. Bereits am 19. Oktober 1945 hatte der neugebildete Bürgerrat auf seiner ersten Sitzung einstimmig die von den Nationalsozialisten verliehenen Ehrenbürgerrechte aberkannt.

Entnazifizierung des Straßenregisters

Auch die Stadt Gelsenkirchen selbst war von den Nazis stark verändert worden, so durch Umbenennung zahlreicher Straßen und Plätze nach bekannten Nationalsozialisten oder Militaristen. Dies galt es nach 1945 zu entfernen. Die Westfälische Rundschau berichtete am 8. Mai 1946:

Familie Eichenauer

Abb.: Die wahrscheinlich für den Fotografen gestellte Abhängung eines Straßenschildes in einer der vielen Adolf-Hitler-Straßen 1945 in Trier (Quelle: National Archives)

Zahlreiche Gelsenkirchener Straßen vor der Umbenennung

Als 1933 die Nazis ans Ruder kamen, hatten sie in ihrem unbezähmbaren Geltungsdrang nichts Eiligeres zu tun, als überall schleunigst Straßen und Plätze mit den Namen nationalsozialistischer Größen zu schmücken. So bekam Gelsenkirchen u. a. eine Adolf-Hitler-Straße und Buer einen Adolf-Hitler-Platz. Einen Witz ganz besonderer Art leistete man sich damals, als man die sogenannte "Freiheit" am Buerschen Hauptpostamt in Hermann-Göring-Platz umtaufen wollte. Die hervorstechendsten NS-Straßennamen sind bereits vor einem Jahr aus dem Straßenbild unserer Stadt verschwunden. Viele andere Namen sind jedoch noch da und auch noch amtlich in Gebrauch.

Sicherlich waren es in erster Linie praktische Gründe, die eine Übereilung der allgemeinen Straßenumbenennung nicht dringlich erschei- nen ließen. Inzwischen ist ein umfassender Plan zur Entnazifizierung der Gelsenkirchener Straßennamen vorbereitet und ausgearbeitet worden. Dieser Plan, der vielleicht noch hier und da eine Überarbeitung erfahren wird, im übrigen aber in Übereinstimmung mit den bestehenden politischen Parteien usw. entstanden ist, sieht eine vollständige Ausmerzung aller Straßennamen in der Gesamtstadt Gelsenkirchen vor, die eine Verherrlichung des Nationalsozialismus darstellen. So werden z. B. alle Namen nationalsozialistischer Persönlichkeiten aus dem Straßenregister verschwinden. Auch an eine gewisse Entmilitarisierung unseres Straßenregisters ist gedacht worden. So werden denn nun Namen wie "Platz der SA", "Stürmerstraße" und viele andere mehr verschwinden. Statt dessen werden wir Namen wie "Platz der Demokratie", "Synagogenstraße" usw. bekommen. In den Gelsenkirchener Straßennamen sollen künftig auch Namen von Männern verewigt werden, die in den national- sozialistischen Konzentrationslagern und Zuchthäusern ihr Leben haben lassen müssen, Namen von Männern aus unserer Stadt und aus dem ganzen Reich.

Alte, weit über Gelsenkirchens Grenzen hinaus bekannte Straßennamen unserer Stadt wird man zweckmäßig im Besitz ihres eingebürgerten Namens belassen. Das trifft z. B. auf die Bahnhofstraße zu. Ob es zweckmäßig ist, auch Namen von Lebenden in das Straßenregister einzufügen, darüber ließe sich allenfalls streiten. Wesentlich ist - und das ist der Kern der bisherigen Überlegungen zur Entnazi- fizierung des Gelsenkirchener Straßenregisters gewesen -, daß sich auch in den Straßennamen unserer Stadt das Bild eines freien, demokratischen Deutschland widerspiegelt; und dieses Ziel ist gewährleistet.

Die Umbenennungsaktion erfaßte eine lange Reihe von Straßen. In den "Bekanntmachungen der Stadt Gelsenkirchen" vom 15. Juni 1946 heißt es: Straßen-Umbenennung. Der Haupt- und Finanzausschuß hat, wie Oberbürgermeister Zimmermann in der letzten Stadtverordneten-Versammlung mitteilte, folgende Straßen-Umbenennungen beschlossen:

Nach 1945

Berger Allee/Adenauer Allee
Alemannenstraße
Am Markenwald
Arminstraße
Bickernstraße
Boystraße
Braunschweiger Straße
Breslauer Straße
Brukterer Straße
Drechsler Straße
Dresdner Straße
Drosteweg
Ebertstraße
Elisabethplatz
Elisenstraße
Feldmarkstraße
Florastraße
Frankampstraße
Franz Bielefeld Straße
Gerichtstraße
Gildenstraße
Göttinger Straße
Goldbergstraße
Hauptstraße
Heidelberger Straße
Heinrich Heine Platz
Hellkampstraße
Herbertstraße
Herner Straße
Hölderlinstraße
Hüssener Straße
Husemannstraße
Josefstraße
Kennedyplatz
Königsberger Straße
Kurt-Schumacher-Straße



Leipziger Straße
Lessingstraße
Liebfrauenstraße
Ludwig Jahn Platz
Magdeburger Straße
Mindener Straße
Munckelstraße
Munscheidtstraße
Neustadtplatz
Olgastraße
Pestalozzi Hain
Pothmannstraße
Rathausplatz
Regensburger Straße
Ringstraße
Robert Koch Straße
Robert Schmidt Straße
Ruhrstraße
Rüttgergasse
Schreinerstraße
Schwäbische Straße
Schwedenstraße


Sellmannsbachstraße
Siedlung Resser Mark
Sternstraße
Vattmannstraße
Vestische Straße
Virchowstraße
Wallstraße
Weberstraße
Westfalenplatz
Wilhelm Busch Straße
Rembrandtstraße

Zw. 1933-1945

Hermann-Göring-Allee
Felix-Allfrath-Straße
Graf-Spee-Straße
Karl-Laforce-Straße
Wilhelm-Ehrlich-Straße
Kluckstraße
Seydlitzstraße
Fritz-Felgendreher-Straße
Sachsenstraße
Wrangelstraße
Karl-Kuhn-Straße
Klaus-von-Pape-Straße
Litzmannstraße
Platz der SA und SS
Möldersstraße
Von-Richthofen-Straße
Franz-Seldte-Straße
Woltmannstraße
Ritter-von-transky-Straße
Dietrich-Eckart-Straße
Stürmerstraße
Yorkstraße
Ludwig-Knickmann-Straße
Adolf-Hitler-Straße
Scharnhorststraße
Schlageterstraße
August-Pfaff-Straße
Gottfried-Thomae-Straße
Zietenstraße
Gorch-Fock-Straße
Graf-Schwerin-Straße
Hindenburgstraße
Von-der-Pfordten-Straße
Kaiserplatz
Anton-Hechenberger-Straße
Gelsenkirchener Straße
Kaiserstraße
König-Wilhelm-Straße
Sutumer Straße
Landsbergstraße
Blücherstraße
Otto-Schlimme-Straße
Alfred-Meyer-Kampfbahn
Martin-Faust-Straße
Heinrich-Lersch-Straße
Gerichtstraße
Kurt-Neubauer-Straße
Moltkeplatz
Horst-Wessel-Straße
Emil-Kirdorf-Hain
Andres-Bauriedl-Straße
Adolf-Hitler-Platz
Bülowstraße
Von-Scheubner-Richter-Straße
Hans-Schemm-Straße
Admiral Scheer Straße
Roonstraße
Lichtschlagstraße
Moltkestraße
Bernhard-Gerwert-Straße
bis 1937 Herbertstraße
1937-1946 Herbert-Norkus-Straße
1946-1947 Quellenstraße
Gneisenaustraße
Robert-Ley-Siedlung
Hans-Maikowski-Straße
Hans-Rickmers-Straße
Schumacher Straße
Kirdorfstraße
Karl-Prinz-Straße
Wilhelm- Gustloff-Straße
Robert-Ley-Platz
Theodor-Casella-Straße
Wilhelm-Wolf-Straße

Schließlich erfolgten im Mai 1947 durch den Haupt- und Finanzausschuß noch weitere Umbenennungen:

Neue Straßennamen - Umbenennung von Straßen, die die Namen bekannter Militaristen tragen:

(...) Zum Schluß beriet der Ausschuß über die Umbenennung der Straßen im Stadtgebiet. Ober- bürgermeister Geritzmann trug dazu vor, daß nach dem Erlaß des Innenministers vom 6. November 1946 alle Straßen und Plätze umbenannt werden sollen, die Namen bekannter Militaristen tragen. Ein ergänzender Erlaß vom 8. Februar 1947 habe die Begriffe „militärisch" und „Militarist" so ausgelegt, daß sie sich auf alle kriegerischen Ereignisse nach dem 1. August 1914 beziehen sollen, sowie auf Personen, die mit solchen Ereignissen direkt in Verbindung stehen. Wenn daher auch eine Umbe- nennung von Straßen, die den Namen von Moltke, Bismarck, Blücher, Sedan oder Metz tragen, nicht notwendig sei, so erscheine es nach Ansicht der Verwaltung doch grundsätzlich zweckmäßig, Namen, deren Bedeutung auf politischem Gebiet liege, zugunsten solcher Bezeichnungen zurückzustellen, die örtlich bedingte Flurnamen, geographische Merkmale der Heimat, Städte, die in besonderer Beziehung zu Gelsenkirchen stehen und ortsbedingte Produkte und Berufe ausdrücken. Nach Erörterung der einzelnen Vorschläge beschloß der Ausschuß die Umbenennung folgender Straßen:

Hindenburgstraße in Husemannstraße, Von-Richthofen-Straße in Feldmarkstraße, da sie den Stadtteil Feldmark in seiner ganzen Länge durchschneidet, Möldersstraße in Elisenstraße, den früheren Namen dieser Straße, Gneisenaustraße in Sellmannsbachstraße, da sie in der Nähe des Sellmannsbaches liegt, Moltkeplatz in Neustadtplatz, Roonstraße in Ruhrstraße, Seydlitzstraße in Braunschweiger Straße, Scharnhorststraße in Heidelberger Straße, Yorkstraße in Göttinger Straße, Zietenstraße in Herner Straße, Bülowstraße in Regensburger Straße; diese fünf letzteren Straßen liegen alle im Stadtteil Ückendorf dicht beieinander und tragen daher zur leichteren Orientierung einheitlich die Namen deutscher Großstädte.

Im Ortsteil Buer wurde die Blücherstraße in Lessingstraße umbenannt, da in ihrer Nähe bereits andere Straßen mit den Namen deutscher Dichter liegen; die Moltkestraße heißt künftig Schreinerstraße, die Wrangelstraße Drechslerstraße, da beide Straßen die Steinmetzstraße, die ebenfalls nach einem Handwerk benannt ist, umrahmen. Im Ortsteil Horst wurde die Kluckstraße in Boystraße umbenannt.

(Bekanntmachungen der Stadt Gelsenkirchen, Nr. 21/24. 5. 47, S. 1.)

Der Wert des politischen Gedankens

Die Entnazifizierung stand insgesamt vor großen Problemen, von denen eines der wichtigsten darin bestand, daß den Betroffenen oft das Schuldbewußtsein gänzlich fehlte. In einer Rede Ende 1945 brachte der Militärgouverneur des Regierungsbezirkes Münster, Oberst Spottiswoode, dies so zum Ausdruck:

Es gibt einen Mann, den die meisten Offiziere der Militärregierung in Deutschland gern treffen möchten. Und das ist ein Nazi - ein Mann, der sagen wird: „Ja, ich trat der Partei bei, weil ich davon überzeugt war, sie hätte die richtige Politik, an deren Verwirklichung ich helfen wollte, natürlich jetzt.. ."Aber was er jetzt denkt, hat nichts mit diesem Thema zu tun.

Wir haben viele frühere Parteimitglieder angetroffen, aber alle haben der Partei nur angehört, weil sie ihre Stellung behalten und ihre Familien ernähren mußten. Scheinbar hat niemand an ihre Politik geglaubt oder sie gar gebilligt; trotzdem aber haben alle für sie gearbeitet. Wir haben auch viele Leute angetroffen, die zwar Mitglied der Partei gewesen sind, aber keine Schritte unternommen haben, sich ihr zu widersetzen, obgleich sie nun ihren Abscheu offen aussprechen. „O ja, aber die Gestapo! Sie wissen nicht, was die Gestapo war." Natürlich wissen wir es nicht. Die Gestapo war ein Instrument, von Deutschen geschaffen, von Deutschen ausgerichtet und von einem Deutschen gehandhabt. Oder war es ein Oesterreicher?

Wir sehen es keinesweg als Ergebnis eines glücklichen Zufalles an, daß wir keine britische Gestapo kennen gelernt haben. Wir empfinden es als eine natürliche Folge unserer Entschlossenheit, niemals ein derartiges Instrument zu besitzen, unserer inneren Anteilnahme an der Gestaltung, der Art und der Politik unserer eigenen Regierung und als Folge unserer Fähigkeit, solch ein Instrument sofort im Keime zu ersticken, selbst wenn genug Männer von dieser Art und von dieser Ruchlosigkeit gefunden werden könnten, die an ihr Anteil nehmen würden. Wir fühlen uns alle für unsere Regierung und ihre Politik verantwortlich, selbst wenn wir persönlich unsere Stimme nicht dafür abgegeben haben. Wir beobachten sie und ziehen sie zur Rechenschaft, wenn sie aufhört, unsere Meinung zu vertreten. Und jede neue Regierung weiß, daß auch sie zur Rechenschaft gezogen wird.

Ich möchte einen weiteren Ausspruch von Hans Schmidt anführen: „Zu Anfang taten die Nazis nur Gutes für Deutschland. Sie beseitigten die Arbeitslosigkeit, sie gaben uns unsere Selbstachtung zurück, sie führten die abgetrennten Gebiete Deutschlands dem Reich wieder zu. Wir machten uns keine Gedanken darüber, wohin dies alles führen würde, bis es zu spät war." Weshalb tatet Ihr das nicht? Wann wurde Euch „Mein Kampf" zu lesen gegeben? Ihr habt ja jede Gelegenheit dazu gehabt. Fandet Ihr dort nicht die Politik, die Hitler so unbeirrbar verfolgte? Die ruchlose Unterdrückung allen inneren Widerstandes, die unglaubliche und unmenschliche Ausrottung der Juden, die fast unbegrenzte Eroberungssucht? Wann habt Ihr aufgehört, aus eigener Initiative „Heil Hitler" zu rufen? Nach all den Jahren des Kampfes gegen Deutschland hatten wir erwartet, es fest mit dem Nationalsozialismus verwachsen vorzufinden. Und was fanden wir vor? Ein deutsches Volk, das fast einstimmig irgendeine Verbindung oder eine Sympathie zum Nationalsozialismus von sich wies. Was sollen wir darüber denken? Eine fast allgemeine innere Unehrlichkeit oder Feigheit? Ein Volk, das wie eine Schafherde unfähig ist, sich ihrem Hirten und ihrem Wachhund zu widersetzen und sich keine Gedanken darüber macht, wohin sie geführt wird und sollte es selbst zum Schlachthaus sein. Oder ist es ein Volk, das ganz bewußt auf irgendeine Gelegenheit wartet, um zu seinem eigenen eingebildeten Vorteil in eine friedliche Welt einzubrechen?

Keine Meinung ist hundertprozentig richtig und keine ist hundertprozentig falsch, aber beide sind für die Zukunft verhängnisvoll. Es gibt wahrscheinlich noch sehr viele Deutsche, die nicht einsehen, daß es ihre Pflicht ist, ihre zukünftige Regierung selbst zu gestalten, und die glauben, daß das Schicksal entscheiden wird, und daß sie sich alle seinen Befehlen unterzuordnen haben. Das sind jene Leute, die aus ihren persönlichen und alltäglichen Problemen losgelöst werden müssen, damit sie sich ihrer Pflicht der Zukunft Deutschlands gegenüber bewußt werden. Das sind jene Leute, die überzeugt werden müssen, ihr Wollen und ihr Denken demokratischen Zielen zuzuwenden. Nie wieder dürfen sie sich dieser großen Verantwortung für das unbeschreibliche Elend, die Not und die Verbrechen durch ihre passive Haltung entziehen. Diejenigen, die über eine tiefe demokratische Überzeugung verfügen, haben die Verpflichtung, das Interesse der Gleichgültigen zu erwecken.

(Bekanntmachungen der Stadt Gelsenkirchen Nr. 26/10. 11.45, S. 1.)

Die Entnazifizierung scheiterte nach teilweise guten Zwischenergebnissen letztlich daran, daß sie als personelle mit den bekannten vielfältigen Schlupflöchern und nicht als strukturelle Entnazifizierung betrieben wurde. Es wurden lediglich einzelne schwerbelastete Personen zur Rechenschaft gezogen, in Zweifelsfällen wurden sie aber in ihren Positionen und Ämtern belassen. Das gilt auch für eine Vielzahl belasteter Personen, die angeblich in ihren Ämtern und Positionen unverzichtbar waren. Dadurch blieben in der Verwaltung, Richterschaft, Lehrerschaft, in der Industrie und in vielen anderen Bereichen die jeweiligen Führungseliten in ihren Positionen, die selbst auch als Struktur erhalten blieben, denn die Entnazifizierung war in diesen Bereichen nicht mit einer gesellschaftsverändernden Reform gegenüber der Nazizeit verbunden. Daß trotz der zweifellos vorhandenen Erfolge der Entnazifizierung vieles zur Farce wurde, wird an einem prominenten Beispiel in Gelsenkirchen deutlich. Der ehemalige Kreisleiter der NSDAP in Gelsenkirchen, Otto Plagemann, wurde von der II. Spruchkammer in Recklinghausen am 12. 2.1948 zu 5 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Berufungsinstanz verurteilte ihn am 16. 9.1948 zu 1 Jahr und 5 Monaten Gefängnis sowie DM 2.000 Geldstrafe. Da Plagemann IV2 Jahre Internierungshaft angerechnet wurden, verließ er den Gerichtssaal als freier Mann.


Der Gelsenkirchener Polizeibericht vom 25. Juni 1948 hält lakonisch fest:

"Eine Interessenlosigkeit der Bevölkerung an den Sitzungen der Entnazifizierungsausschüsse zeigt sich darin, dass die öffentlichen Verhandlungen fast garnicht besucht werden."


Daß die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer die Entnazifizierung von Anfang nicht nur aktiv und kritisch mittrugen, sondern auch noch nach mehreren Jahren nicht bereit waren, falsche Entscheidungen in den von ihnen beeinflußbaren Bereichen, den Betrieben, hinzunehmen, zeigen die beiden folgenden Beispiele. Gegen die Einstellung des Direktors von Velsen als 2. Direktor wehrte sich die Belegschaft der Schachtanlage Nordstern l/ll am Samstag, dem 2. Oktober 1948, in Horst mit einem eintägigen Streik. Dem Streik der Morgenschicht (800 Mann) schlössen sich Mittagschicht (700 Mann) und Nachtschicht (400 Mann) an. - Mit einem Generalstreik reagierte am 22. Dezember 1949 die Belegschaft der Vestischen Straßenbahnen auf den Beschluß des Aufsichtsrates, den politisch belasteten Direktor Alois Greve trotz des Protestes des Betriebsrates und der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr wieder einzustellen. Greve war nach Kriegsende als ehemaliger Obersturmbannführer fristlos entlassen worden und im Entnazifizierungsverfahren in Gruppe III (Aktivisten) eingestuft worden, nach mehreren Revisionsverhandlungen aber in Stufe IV b ohne Beschränkung gekommen.

Nachdem eine Abordnung von 15 Bürgermeistern der an den Vestischen Straßenbahnen interessierten Städte in ultimativer Form an den Vorsitzenden des Aufsichtsrates herangetreten war, stimmte der Aufsichtsrat den Forderungen der Streikenden zu, so daß der Streik am 23. Dezember 1949 beendet werden konnte. Knapp zwei Monate zuvor war in Gelsenkirchen die Entnazifizierung durch die Einstellung der Arbeit des Entnazifierungsaus-schusses beendet worden. Er hatte vom 2. Mai 1946 bis zum 31. Oktober 1949 gearbeitet. In dieser Zeit erledigte er 16.300 Fälle. Davon wurden 560 in die Kategorie III, 2.140 in IV und 13.600 in V eingestuft. Die Kammern des Berufungsausschusses erledigten 1.270 Fälle. Die am 31.10.1949 noch unerledigten Fälle wurden an den bei der Regierung in Münster gebildeten Entnazifizierungs-Hauptausschuß bzw. -Berufungsausschuß weitergeleitet.

Ein Gesamtresümee der Entnazifizierung in der Bundesrepublik Deutschland zog der Historiker Christoph Kleßmann 1982 in seinem Buch "Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955":

"Zweifellos bestehen Zusammenhänge zwischen den Auswirkungen der Entnazifizierung und den für die fünfziger Jahre bestimmenden Erscheinungen der Entpolitisierung in der Bundesrepublik. Man sollte sie jedoch nicht überschätzen. Sicherlich wurden schon vorhandene autoritäre Dispositionen verstärkt. Das im Entnazifizierungsverfahren erlebte Risiko politischen Engagements hat den Rückzug in Beruf und Privatleben gefördert und statt aktiver Umorientierung eher eine innere Abwehrhaltung forciert. Da zugleich die westlichen Besatzungsmächte eigenständige deutsche antifaschistische Ansätze mit dem Ziel gesellschaftlicher Strukturreformen abblockten, wobei der beginnende Kalte Krieg eine wichtige Determinante bildete, wurden im Ergebnis der Entnazifizierung wesentliche soziale Grundlagen für die vergleichsweise reibungslos verlaufende Westintegration gelegt."

Vgl.: "Für uns begann harte Arbeit - Gelsenkirchener Nachkriegslesebuch"; darin: Jürgen Dzudzek/Hartmut Hering: Von Potsdam zum Persilschein - Aspekte der Entnazifizierung in Gelsenkirchen S. 240-252 ff. Herausgeber: Hartmut Hering, Hugo Ernst Käufer und Michael Klaus. Oberhausen 1986.

Literatur: Niklas Frank, Dunkle Seele, Feiges Maul: Wie skandalös und komisch sich die Deutschen beim Entnazifizieren reinwaschen, 2016

Abbildungen:
Reeducation film 1945, screenshot
Fluglatt: Herman Neudorf
Entfernung Straßenschild: National Archives


Widerspruchslos akzeptiert

Das Entnazifizierungsschlussgesetz, am 11. Mai 1951 verkündet und am 1. Juli in Kraft getreten, markierte einen Schlusspunkt. Am 10. April 1951 hatte der Deutsche Bundestag bei nur zwei Enthaltungen das "Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen" (das so genannte 131er-Gesetz) verabschiedet. Dieses Gesetz sicherte nun mit Ausnahme der Gruppen I (Hauptschuldige) und II (Schuldige) die Rückkehr in den öffentlichen Dienst ab. Quasi zum moralischen Ausgleich hatte der Bundestag das "Gesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes" nur wenige Tage vorher einstimmig verabschiedet und gleichzeitig mit diesem verkündet. Die Entnazifizierung fand damit auf Länder- und Bundesebene ihr endgültiges Aus und dies wurde von vielen in der Bevölkerung widerspruchslos akzeptiert...

Auf der Suche nach Zeugen

Die hier gezeigten Dokumente sind exemplarisches Beispiel für das Bemühen der Dabeigewesenen, sich ihrer Verantwortung zu entziehen. Wer war dieser Hans Behrens, der um einen Leumundszeugen bemüht war? War er auch einer der Täter? Behrens bittet "vorsorglich" im Oktober 1946 um das Zeugnis des Rolf Risse, dessen Mutter als Jüdin nur wegen ihres Glaubens kurz vor Kriegsende von den Nazis ermordet wurde. Behrens ist nach eigenen Angaben vor 1937 in die NSDAP eingetreten, will aber nur "nominelles Mitglied" gewesen sein.

Anfrage von Hans Behrens

Persilschein

Rolf Risse schreibt einem "Dabeigewesenen" einen so genannten "Persilschein" - Risse bestätigt dem Herrn Pg. Behrens, dass dieser unter der braunen Uniform stets eine "schneeweiße Weste" getragen hat.

Das erbetene Zeugnis, geschrieben von Rolf Risse

Diese Dokumente stammen aus dem Nachlass Rolf Risse (Archiv Gelsenzentrum).

→ Lebens- und Leidenswege: Julie Risse aus Dortmund

Header Gelsenzentrum e.V. Gelsenkirchen

Andreas Jordan, März 2009. Überarbeitet Mai 2019

↑ Seitenanfang