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Vera Polyakova

Vera Nikitichna Polyakova, um 1943

Abb. 1: Vera Nikitichna Polyakova, um 1943. (Foto: "Ost- arbeiterkartei")

Die Buchhalterin Vera Nikitichna Polyakova war 24 Jahre alt, als sie im Herbst 1942 von Nowotscherkassk (30 km nordöstlich von Rostow am Don) zum Zwangsarbeitseinsatz gewaltsam nach Nazi-Deutschland verschleppt wurde.

Anhand der rudimentären Überlieferungen im Archiv des russischen KGB (Heute FSB) [1] im Abgleich mit den beim Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen vorhanden Dokumenten zur ihrer Person läßt sich zusammenfassend festhalten: Vom 4. Oktober 1942 war Vera Polyakova, geb. am 9. September 1918 in Rostow am Don im Lager Löhne untergebracht. Als Zwangsarbeitende wurde sie bei der Möbelfabrikation W. Budde in Löhne eingesetzt [2]. Auf der Mitgliederkarte der Krankenkasse ist unter dem 26. Oktober 1942 eine Arbeitsunfähigkeit vermerkt, wegen einem "Geschwür am Unterschenkel".[3]

Zwischenzeitlich wurde sie nach Gelsenkirchen verbracht, ihr Name findet sich auf einer Liste von Zwangsarbeiterinnen, die bei der Ruhrstahl AG, Gelsenkirchener Gußstahlwerke ausgebeutet wurden. Angegeben wird ein "Beschäftigungszeitraum" vom 18. September 1943 bis zum 8. November 1943. [4] diese Angabe deckt sich mit dem Eintragenen auf ihrer Karteikarte in der so genannten "Ostarbeiter-Kartei"[5]. Untergebracht war sie zu dem Zeitpunkt in einem Zwangsarbeiterlager der Ruhrstahl AG an der Dessauerstr. 72

Karteikarte Vera Polyakova, Rückseite; Ostarbeiterkartei

Abb.2: Ostarbeiterkartei, → Karteikarte Vera Polyakova. Auf der Rückseite handschriftlich vermerkt: 8.11.43 flüchtig.

Das Lager an der Dessauerstr. 72 war eines von insgesamt 10 Lagern der Ruhrstahl AG und wurde in der ersten Hälfte des Jahres 1942 auf dem Gelände des heute noch vorhandenen Sportplatzes errichtet. Laut Bauantrag vom 5.1.1942 plante man hier die "Unterbringung von 96 Arbeitskräften". (...) Abgesehen von einer Unterkunftsmöglichkeit auf dem Werksgelände befanden sich alle anderen Lager der Ruhrstahl AG in Sälen von Gaststätten, über die keine Aufzeichnungen vorhanden sind. [6]

Lageplan zum Bauantrag für die Errichtung eines Zwangsarbeiterlagers Dessauerstrasse 72 in Gelsenkirchen-Ückendorf

Abb.3: Lageplan zum Bauantrag für die Errichtung eines Zwangsarbeiterlagers an der Dessauerstrasse 72 in Gelsenkirchen

Zeitnah wurde Ihre Flucht beendet, für kurze Zeit musste sie wieder im Gußstahlwerk arbeiten. Dort musste sie miterleben, wie sich eine ebenfalls zwangsarbeitende Freundin, die Hunger und Qualen nicht mehr aushielt, in einen der Öfen stürzte und Suizid beging. Auch dieses schreckliche Erlebnis hat Vera Polyakova nicht mehr losgelassen.

Von Dezember 1943 bis April 1945 soll Vera Polyakova nach den Unterlagen des UFSB in einer Lederfabrik in Gelsenkirchen als Zwangsarbeitende ingesetzt gewesen sein. Bisher ist es nicht gelungen, diese Angabe zu verifizieren. In dieser Lederfabrik (Anm. d. Verf.: möglicherweise handelt es sich um das Zwangsarbeiterlager der Ota Schlesische Schuhwerke Ottmuth AG, Schalkerstr. 30) muss sie den französischen Zwangsarbeiter kennengelernt haben, der Vater ihrer Tochter ist. Am 12. April 1945 wurde Vera Polyakova von amerikanischen Truppen befreit und zunächst in einem Lager für Vertriebene in Braunschweig festgehalten, dann wurde sie von den Amerikanern zu den sowjetischen Truppen in Frankfurt an der Oder überstellt. Nach Internierung in einem "Speziallager" des NKWD - nach Deutschland verschleppte Zwangsarbeitende galten in ihrer russischen Heimat als vermeintliche/r VerräterIn - konnte sie in ihre Heimat zurückkehren. Der Rückführungszeitpunkt in ihre Heimatstadt Rostow ist mit dem 18. Juli 1945 angegeben.[7]

Auf der Suche nach dem unbekannten Großvater

Obwohl es innerhalb der Lager so gut wie keine Privatsphäre gab, bestanden dennoch Liebesbeziehungen zwischen Zwangsarbeitern. Diese Beziehungen waren streng verboten und wurden hart bestraft.

Vera Polyakova mit ihrer Tochter Zhenya

Abb. 4: Vera Polyakova mit ihrer Tochter Zhenya, das Foto entstand kurz vor Veras tragischen Tod.

Zu diesem Zeitpunkt war Vera Polyakova im sechsten Monat schwanger. Am 18. Oktober 1945 wurde in Rostow am Don ihre Tochter Zhenya Polyakova geboren, in deren Geburtsurkunde bis heute noch immer kein Vater eingetragen ist. Im Jahr 1950 beging Vera Nikitichna Polyakova aufgrund tiefster Depressionen nach dem Krieg, der Verfolgung und des Drucks auf die ehemaligen 'Ostarbeiterinnen' in der Sowjetunion Selbstmord. Den Namen des Vaters ihrer Tochter nahm sie mit ins Grab. Für den Stolperstein, der schon bald (2021) an der Dessauerstraße verlegt werden soll, kann zur Finanzierung eine → Patenschaft übernommen werden.

Elena Gruzinova, die Enkelin von Vera Polyakova schreibt uns in einem Brief: "Am 18. Oktober 2015 wurde meine Mutter Evgenia Alexandrovna Leshchenko (geb. Polyakova) 70 Jahre alt. An dem festlich gedeckten Tisch erinnerte sich Mutter plötzlich an ihre ferne Nachkriegszeit. Zum ersten Mal in meinem Leben erzählte sie in Fragmenten von ihrem Vater, einem französchischen Zwangsarbeiter, den ihre Mutter in Gelsenkirchen kennen und lieben gelernt hatte. Er wusste von der Schwangerschaft, beide schmiedeten Pläne für Zeit nach der Befreiung. Der unbekannte Franzose wollte Vera Polyakova heiraten, mit ihr nach Frankreich gehen. Durch den Willen des Schicksals hat die Befreiung von der Sklaverei auch die Liebenden getrennt, was in der Folge mit zu den schweren Depressionen führte, an denen meine Großmutter litt und die letztlich zu ihrem Selbstmord führten. Wir haben vieles über meine Großmutter herausfinden können, doch eine Frage blieb bisher ohne Antwort: Wer war mein Großvater? Nach so langer Zeit darauf eine Antwort zu finden, erscheint fast unmöglich, aber wir haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben."

Unser besonderer Dank geht an Elena Gruzinova und Vladimir Gruzinov, die uns auf das Leben und Leiden von Vera Polyakova aufmerksam gemacht haben und dieser Dokumentation zugestimmt haben.

Quellen:
Abb.1+2: Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen, Ostarbeiterkartei
Abb.3: In: Roland Schlenker, "Ihre Arbeitskraft ist aufs schärfste anzuspannen" Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterlager in Gelsenkirchen 1940-1945. Essen, März 2003
Abb.4: Familie Gruzinov, mit freundlicher Genehmigung
[1] Archiv des russischen UFSB in der Region Rostow, Archivdatei FD - 83169
[2] Dokument 2.1.2.1 / 70661563, ITS Archives, Bad Arolsen
[3] Dokument 2.2.2.1 / 74305193, ITS Archives, Bad Arolsen
[4] Dokument 2.1.2.1 / 70630403, ITS Archives, Bad Arolsen
[5] Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen, Ostarbeiterkartei
[6] Roland Schlenker, "Ihre Arbeitskraft ist aufs schärfste anzuspannen" Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterlager in Gelsenkirchen 1940-1945. Essen, März 2003
[7] Archiv des russischen UFSB in der Region Rostow, Archivdatei FD - 83169

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