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Ernst Wiechert - Der Totenwald

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Dieser Bericht will nichts sein als die Einleitung zu der großen Symphonie des Todes, die einmal von berufeneren Händen geschrieben werden wird. Ich habe nur am Tor gestanden und auf die dunkle Bühne geblickt, und ich habe aufgeschrieben, nicht so sehr was meine Augen gesehen haben, sondern was die Seele gesehen hat. Der Vorhang hatte sich erst zum Teil gehoben, die Lampen brannten noch matt, die großen Schauspieler standen noch im Dunklen. Aber die Speichen des schrecklichen Rades begannen sich schon zu drehen, und Blut und Grauen tropften schon aus ihrem düster blitzenden Kreis. Meine Stimme wurde aufgerufen, und sie erzählt. Andere werden aufgerufen werden und erzählen, und hinter ihnen wird die große, jenseitige Stimme sich erheben und sprechen: "Es werde Nacht!"

Der Totenwald - Bericht aus dem KZ Buchenwald, Auszug:

Ernst Wiechert

Ernst Wiechert, 1950

(...) Es dauerte eine geraume Zeit, bis die Welt des Lagers in allen Zusammenhängen und Einzelheiten sich ihm erschloß. Es gab etwa achttausend Gefangene - eins von wie vielen Lagern (!) - und sie waren nach ihren farbigen Abzeichen unterschieden. An der Spitze von Haltung und Achtung, wenn von einer solchen die Rede sein konnte, standen die Roten. Hinter ihr folgten die Grünen, die Berufsverbrecher, die schwarzen Abzeichen der Arbeitsscheuen, die rötlichen der Homosexuellen, die violetten der Bibelforscher und die gelben der Juden. Von diesen hatten die meisten ein gelbes und schwarzes Dreieck ineinandergenäht, so daß sie wie mit einem Stern gezeichnet waren. Rückfällige, die zum zweitenmal in einem Lager waren, trugen einen schmalen Streifen unter ihrem Dreieck, und die Strafkompanie, die Ärmsten der Armen, hatten einen schwarzen Punkt neben ihrem Abzeichen. Daneben gab es Blinde mit drei schwarzen Punkten und eine Anzahl solcher, auf deren Armbinde das Wort "Blöde" gedruckt war (auch Blinde und Blöde können einen Staat gefährden). Die Kleidung war verschieden gestreift, je nach den Vorräten, die man besaß, und die meisten der langjährigen Gefangenen trugen alte Militäruniformen, blau, grün und grau. Das meiste war unsäglich abgerissen, Flick auf Flick gesetzt, in allen Farben schillernd, Bettlerkleider, von Sonne und Regen gebleicht, gegen die ein Zuchthauskleid ein Staatsgewand war.

Wenn in der Frühe, Ende August noch in der Dämmerung, die Tausende zum Morgenappell zogen, gebeugt und frierend, im strömenden Regen, im Schlamm des Platzes, der ihnen bis über die Knöchel reichte, viele an langen Stöcken, um sich aufrecht zu erhalten, manche schwerkrank auf den Schultern der Kameraden, manche auf behelfsmäßigen Bahren; wenn der Wind die Nebelfetzen um die Kolonnen trieb, sie einhüllend und wieder in das bleiche Licht entlassend; wenn am Fuße eines der Bäume oder eines Lichtmastes ein Sterbender lag, das schon jenseitige Gesicht dem Morgenschein preisgegeben; dann war das Ganze wohl ein Bild der Verfluchten, aus einer Unterwelt wie ein Spuk hervorgetaucht, oder eine Vision aus einer Hölle, an die kein Pinsel eines der großen Maler, keine Nadel eines der großen Radierer heranreichte, weil keine menschliche Phantasie und nicht einmal die Träume eines Genies an eine Wirklichkeit heranreichten, die ihresgleichen nicht in Jahrhunderten, ja vielleicht niemals gehabt hatte.

Der erste Tag verlief ihnen noch wie Gästen. Sie mußten zur Schreibstube, zur Revierstube, sie mußten auch Bretter oder Decken tragen oder die schweren Eßkübel, die bei der geringsten Unvorsichtigkeit ihnen die Haut der Hände zu Blasen verbrannten. Alles im Lager geschah durch ihresgleichen : die Bereitung des Essens, die Pflege der Kranken (wovon noch zu sprechen sein wird), der Bau der Häuser und Straßen, die Herstellung der Lichtanlagen, die Sorge um Wasserleitungen. Vom Geringsten bis zum Größten lag ihrer Hände Arbeit, ihr Schweiß, ihre Tränen, ihr Blut in allem, was man sah. In den Baracken und Stacheldrähten, in den Kasernen der SS außerhalb des Lagers, in den Prunkvillen der Führer, den Asphaltstraßen, den Gärten, den Lautsprechern, den großen Raubvogelhäüsern und Bärenzwingern, in der Dressur der Bluthunde, die man zur Verfolgung der Flüchtigen brauchte, in den Musikkapellen, die aufgestellt wurden, ja selbst in der Anfertigung der Särge, in denen man die "Erledigten" zum Weimarer Krematorium brachte. Ihrer war die Arbeit und die Knechtschaft, jener war die Macht und das Herrentum. Ihrer war die Leistung, das Wissen, die Planung, das Schöpfertum aus dem Nichts, jener war die Unwissenheit, die Peitsche, der Kolben, das Richten, die Marter.


"Nur wer die Herzen bewegt, bewegt die Welt"

Ernst Wiechert


Hier war das ganze Volk vom Bettler bis zum Reichstagsabgeordneten, vom namenlos Geborenen bis um Freiherrn, Handwerker und Gelehrte, Ärzte, Juristen und Pfarrer. Dort war die Uniform, unter der sich nichts verbarg als das Gleichmaß einer Weltanschauung. Dort waren siebzehnjährige Wachtposten, Knechte nach äußerer und innerer Bildung und Haltung, vor denen der Adlige der Geburt oder des Geistes mit der Mütze in der Hand zu stehen hatte. Dort waren Blockführer, deren Sprache und Gebärden die von Zuhältern waren. Dort war ein Lagerführer, der Schlossergeselle gewesen war und der im Delirium mit der Peitsche durch die Bunker ging.

Da waren zwei Welten, die Johannes langsam zu begreifen trachtete. Zu begreifen, daß dies Teile eines und desselben Volkes waren, die dieselbe Sprache sprachen, die einmal zu den Füßen des gleichen Gottes gesessen hatten, die mit denselben Formeln die Taufe und die Einsegnung empfangen hatten. Desselben Volkes, in dem Goethe gelebt hatte, das durch den Dreißigjährigen und den Großen Krieg gegangen war und dessen Mütter oder Größmütter in der Abendstunde gesungen hatten "Der Mond ist aufgegangen...".

Eines Volkes, das nun nicht geschieden war durch Besitz und Armut, durch Gottesdienst und Heidendienst, durch zwei Sprachen, zwei Religionen, zwei Naturen, sondern das zerrissen war durch nichts als ein politisches Dogma, durch ein papierenes Kalb, das zur Anbetung aufgerichtet war und von dessen Verehrung oder Verachtung es abhing, ob man aufstieg auf der Leiter der Ehren oder in die Arme des Moloch gestoßen wurde, geschändet, gemartert, geopfert, ausgelöscht aus Leben und Gedächtnis. Nichts galt, was gewesen war, keine Leistung, keine Güte, nicht Arbeit und Müheeines ganzen Lebens. Nur das Gegenwärtige galt. Das Bekenntnis zum Götzen, der Kniefall vor dem Cäsaren, die blinde Wiederholung der Phrase, die falsche Pathetik der Halbbildung, der Schrei des Demagogen.

Masseninstinkte, Massenfreuden und -laster, Brot und Spiele, und in den Arenen der Gladiatoren standen nun sie ohne Waffen, ohne Hoffnung, den Tieren preisgegeben, die man auf sie losließ. Und von den Sitzen schaute eine "herrische" Welt ihnen zu, ohne Mitleid, ohne Gnade, die mit den Stiefelspitzen die Glieder der Toten aufhob und fallen ließ, um zu sehen, ob sie auch wirklich tot seien. Hier stand die wahre Bewährung fordernd auf, nicht zu vergleichen mit einer früheren, die erbarmungslos ihren Finger auf das Letzte im Menschen legte, um zu prüfen, ob er bestehen werde.

Auch erkannte Johannes schon am dritten Tage, daß, so unerschütterlich er im Seelischen bleiben werde, sein Körper diesem nicht gewachsen sein würde. Der dritte Tag reihte sie ein in die große Mühle, und am Abend wußten sie, wie ihre Steine mahlten.

Sie wurden vor vier Uhr geweckt, alltags wie sonntags, wuschen sich im Freien, empfingen ein braunes Getränk oder einen Becher Suppe, wozu sie ihr Brot aßen, und standen ein Viertel vor fünf auf dem Appellplatz. Sie wurden gezählt, gemeldet, eingeteilt, und wie sie dastanden, der neue Transport, Siebzehnjährige und Siebzigjährige, kamen sie zur Gruppe der Steinträger, "vorläufig", wie der Pfarrerssohn lächelnd bemerkte.

Sie standen bis sechs Uhr auf ihren Plätzen und wurden dann durch das Tor geführt, in den Wald hinein bis in die Gegend des Steinbruches, von wo sie dann ihre Lasten einen Kilometer weit bis zur Baustelle einer neuen Straße zu schleppen hatten. Sie wurden von Vorarbeitern beaufsichtigt, Gefangenen wie sie, die ihnen nichts zuleide taten, aber die mit Flüchen und Schlägen über die Schwachen herfielen, sobald ein Posten sich sehen ließ. Das System bestand darin, daß der Vorarbeiter abends "über den Bock ging", sobald die Arbeitsleistung nicht erfüllt war, und daß er sich natürlich an seine Leute hielt, um dem zu entgehen. Das Los fiel wie immer auf die Schwachen und Kranken. Johannes lud einen der Kalksteine auf seine Schulter und begann seinen Weg.

Die Sohne brannte erbarmungslos auf die nackte Erde, die Luft flimmerte, und schon nach der ersten Stunde stieg die Vision dessen vor den schmerzenden Augen auf, das hier am unerreichbarsten war: des Wassers. Es war bei Prügelstrafe verboten, vor oder während oder nach der Arbeit einen Tropfen Wasser zu trinken, unter dem Vorwand, das Wasser sei choleraverdächtig. Während einer fast dreizehnstündigen erbarmungslosen Arbeitszeit, in der es verboten war, sich auf zurichten und nur eine Minute zu eratmen, bei einer gnadenlosen Sonne und Temperaturen bis zu 35 Grad im Schatten, empfingen sie nichts als um die Mittagszeit einen halben Becher einer lauwarmen Brühe, indes der Körper in jeder Minute Ströme von Schweiß verlor.

Von allen Verruchtheiten, die ein menschlicher Sinn hier erdacht hatte, schien Johannes dies die verruchteste. Es wäre niemandem in den Sinn gekommen, Wasser für sie abzukochen - wenn der Vorwand schon auf Wahrheit beruhte - und es mit etwas Tee oder ähnlichem zu versetzen. Für sie, die das ganze Lager mit unzähligen Gebäuden, Straßen und Einrichtungen aus einem bewaldeten Berg herausgehoben hatten, mit in Wahrheit blutenden Händen und mit Toten, die sich zu Bergen getürmt haben würden, hätte man sie übereinandergelegt. Doch war es wahrscheinlich, daß es manchem in den Sinn gekommen war, aber daß ein besonderer Reiz darin lag, zu den ungezählten anderen Qualen auch diese zu fügen, von der man wußte, wie sie den Menschen zerbrach, und der man, im Schatten stehend, behaglich zuschauen konnte. (...)

Zitat aus: Ernst Wiechert, "Der Totenwald". 1939. Archiv Gelsenzentrum e.V.
Bildquelle: Nachruf Ernst Wiechert in den Schaffhauser Nachrichten vom 26. August 1950 mit Porträt.
Stadtarchiv Schaffhausen, Schweiz.
Hintergrundgrafik: Zaun KZ Buchenwald, Ettersberg.


Andreas Jordan, Juni 2008

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