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Grundrecht auf freie Äußerung faschistischer Ansichten?


In Gelsenkirchen darf die NPD während der WM 2006 demonstrieren

In Deutschland findet die WM statt - viel strapazierter Slogan: "die Welt zu Gast bei Freunden". Einer der Austragungsorte der Spiele ist das Schalke-Stadion in Gelsenkirchen. Zeitgleich zu den wichtigen Eröffnungsspielen, vor den Augen der internationalen WM-Besucher und den TV-Übertragungen in alle Welt, zeigt die weltoffene und gastfreundliche BRD, was sie unter dem "Grundrecht auf freie Meinungsäußerung" versteht - unter anderem einen Aufmarsch der neofaschistischen NPD, die sich unverhohlen in Tradtition der NSdAP sieht und präsentiert.

Nach einem bizarren juristischen Hickhack - zunächst einem Verbot der NPD-Veranstaltung durch den Gelsenkirchener Polizeipräsidenten, einer späteren Aufhebung des Verbots durch das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, einem Wiederverbot durch das Oberverwaltungsgericht und einer letztinstanzlichen Genehmigung durch das Bundesverfassungsgericht ist klar: das Grundrecht auf freie Äußerung faschistischer Ansichten geht über die Außenwirkung der BRD in alle Welt und die "Freundschaft" - unter den unfreiwilligen Zuhörern der Nazi-Parolen düften unter anderem genug polnische Fußballfans gewesen sein; von den Vorgängern der NPD-Faschisten wurden immerhin ein Drittel ihres Volkes ermordet.

Zwei Gegenveranstaltungen richten sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit gegen den kleinen Haufen Neofaschisten (gehörte Zahl: ca. 80!): einmal die "offizielle" Veranstaltung des Oberbürgermeisters, bei der sich Vizekanzler Müntefering und Bundestagspräsident Lammert aufgrund der eminenten Gefahr für das "Ansehen Deutschlands" bequemten, gegen die "braune Soße" Stellung zu beziehen, allerdings vor ähnlich wenig Teilnehmern. Und eine von einem breiten antifaschistischen Bündnis organisierte Gegenkundgebung, die schon rein zahlenmäßig deutlich machte: auch in Gelsenkirchen, nicht nur während einer WM, ist kein Platz für neue und alte Faschisten in Deutschland!

Im Folgenden wird der ungekürzte Redebeitrag der VVN-Ortsgruppe Gelsenkirchen auf der antifaschistischen Gegenkundgebung am 10. Juni 2006 in Gelsenkirchen wiedergegeben:

"Liebe Fußballgäste,
liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Antifaschisten und Antifaschistinnen,

300 Meter entfernt von hier darf die NPD aufmarschieren. Seit Wochen wird es in den Medien diskutiert - national wie international. Das Bundesverfassungsgericht hat - leider wenig überraschend - sich dem Wunsch der NPD, ihre faschistische Demagogie vor der Welt ausplaudern zu dürfen, angeschlossen. Und dies geschieht an einem Tag, an dem sowohl lateinamerikanische als auch polnische Fußballfans sowie deren Nationalmannschaften sich noch in Gelsenkirchen aufhalten dürften. Heute marschiert genau die Partei auf, deren Anhänger für Gefahrenzonen in Deutschland verantwortlich sind. Das sind weltbekannte Zonen, in denen für farbige Menschen Lebensgefahr besteht. Die Partei, deren historische Bruderpartei NSDAP für die Ermordung von einem Drittel der polnischen Bevölkerung verantwortlich ist.

Ihre Losungen sind Demagogie reinsten Wassers - das ist Populismus, das ist Anbiederung an die Bevölkerung mit Losungen, die die Bedürfnisse der arbeitenden und erwerbslosen Menschen ausnutzen und die Menschen in die Irre führen sollen. Deshalb schauen wir uns die heutige "Losung" etwas genauer an: Arbeit für Millionen – sie meinen Arbeit in der Rüstungsproduktion, in Interventionsarmeen, in Foltergefängnissen, in den Lazaretten, begleitet vom Chor preußischen militaristischen Getöses, bei gleichzeitiger Ausschaltung von jedwedem Arbeitsrecht, begleitet von der Auflösung von Gewerkschaften und allen demokratischen Gruppen und Parteien, begleitet von dem Versuch der Ausschaltung jedweden eigenständigen Gedankens, der ihren wahnsinnigen Rassismus, Nationalismus, Chauvinismus und Antisemitismus – mit einem Wort: Faschismus - bekämpft. Nein - ihre Arbeit wollen wir nicht.

Statt Profit für Millionäre - ist doch ihre Herrschaft das Schlaraffenland für alle Millionäre. Wir erinnern uns an die Spenden an ihre Vorbildpartei, deren Gelder aus den Kassen der Stinnes, Thyssen, IG-Farben in Millionenhöhe geflossen sind, um nicht nur jeden kapitalkritischen Gedanken in den Betrieben, in den Wohnungen, in den Schlafzimmern, im Kegelclub, an der Bushaltestelle auszulöschen, sondern um einen Angriffskrieg vorzubereiten, dessen ideologische Vorlage der sogenannte 4-Jahresplan der IG-Farben lieferte. Jener Konzern, der zerschlagen werden sollte, deren Aufsichtsrat sich der "Rat der Götter" nannte, deren Nachfolgekonzerne – an erster Steller sei hier die BASF AG genannt, bis heute für internationales Aufsehen sorgen. Ihre Herrschaft beschneidet keine Profite, sie garantiert sie!

Im folgenden erlaube ich mir, in leicht abgewandelter Form aus der Rede des Landesvorsitzenden der VVN, Ulrich Sander, zu zitieren, die er am 3. Juni in Düsseldorf gehalten hat. Euch Nazis muss der Boden entzogen werden. Juristisch, indem ihre Illegalität festgestellt wird. Insbesondere die NPD als organisatorisches Rückgrat des Neofaschismus muss endlich aufgelöst werden. Politisch muss der Boden für Nazis ausgetrocknet werden, indem eine der Naziideologie entgegengesetzte Politik betrieben wird. Darum sind wir hier. Wir werden keine Ruhe geben.

Ich spreche für die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten. Unsere Landesorganisation wurde vor ziemlich genau 60 Jahren in Düsseldorf von den 500 Delegierten der rund 50.000 überlebenden politischen Gefangenen des NS-Regimes und der anderen Opfer des Faschismus aus NRW gegründet. Heute haben die Kinder und Enkel und die Freunde der damaligen Gründer den Stafettenstab übernommen. Wir fühlen uns dem Schwur von Buchenwald verpflichtet, in dem die Häftlinge des Konzentrationslagers nach der Befreiung versicherten: "Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel. Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht."

Das ist ein großes Vermächtnis, das wir erfüllen müssen: Denn der Nazismus wurde noch nicht mit seinen Wurzeln vernichtet. Die Welt des Friedens und der Freiheit harrt noch ihrer Verwirklichung. Und unzählige Schuldige haben nie vor ihren Richtern gestanden. Noch vor zwei Wochen haben AntifaschistInnen in Mittenwald, in Bayern, dagegen protestiert, dass die Kriegsverbrecher der Gebirgstruppe sich mit Hilfe der Bundeswehr und Bundesregierung versammeln und ihrer mörderischen Helden gedenken konnten. Wir fordern die Entschädigung der Opfer und die Bestrafung der Täter. Was die Richter anbetrifft, so stellen wir fest, daß sie sich sehr unterschiedlich gegenüber den Neonazis verhalten. Richtig ist die Feststellung oberster Richter von NRW, die erklärten: "Eine rechtsextremistische Ideologie lässt sich auch nicht mit den Mitteln des Demonstrationsrechts legitimieren." Damit wird zur Wiederherstellung des Verfassungsprinzips des Artikels 139 GG beigetragen, das die 1945/46 geschaffenen Bestimmungen zur Zerschlagung von NS-Organisationen auch für das Heute verbindlich regelt.

Auf der Gründungskonferenz unserer VVN, über die ich sprach, sagte der Ministerpräsident unseres Landes, der christliche Politiker Dr. Rudolf Amelunxen: "Unduldsamkeit; Verhetzung und Hass haben Völker und Staaten vernichtet. In der Ausübung der Toleranz darf und muss nur eine einzige Ausnahme gemacht werden, nämlich die, dass es keine Freiheit gibt für die Mörder der Freiheit. Wir kennen diese und werden alles tun, um sie nicht noch einmal zum Zuge kommen zu lassen."

Diese Haltung, die vor 60 Jahren allgemeingültig war, hatten kürzlich auch die Kommunalpolitiker hier von Gelsenkirchen eingenommen, als sie den Aufmarsch der NPD zur Fußballweltmeisterschaft untersagten und erklärten, man wolle verhindern, dass vor den Augen der Weltöffentlichkeit während der WM 2006 Rechtsextremisten durch die Straßen ziehen, um ihre rassistischen und ausländerfeindlichen Parolen zu verbreiten." Doch ein Gericht erklärte dazu, "diese Begründung sei unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht tragfähig. Das Ansehen Deutschlands beruhe besonders auf der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, für die auch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit bestimmend sei." (2. Juni 2006)

Man muss sich das mal vorstellen: Das Ansehen unseres Landes beruht auf der Errungenschaft der freien Entfaltung des Faschismus! In welchem Tollhaus leben wir mittlerweile eigentlich, in dem solche Gerichtsurteile möglich sind? Nein, es gilt das Wort des ersten Ministerpräsidenten unseres Bundeslandes: Keine Freiheit für die Mörder, keine Freiheit für die Faschisten, die Mörder der Freiheit.

Ihre Blutspur zieht sich schon wieder durch Deutschland. Über 120 Todesopfer der Nazis sind seit 1990 zu beklagen. Doch wie manche Richter, so handeln auch viele hohe Beamte. Die Innenministerien sind voll von Leuten, die im Amt für Verfassungsschutz ein Amt für den Schutz von Nazis sehen. Das V-Leute-System auch unseres Landes NRW hat dafür gesorgt, dass die NPD vom Bundesverfassungsgericht nicht verboten werden konnte. Das ist der eigentliche große Geheimdienstskandal des Landes. Wir fragen: Wann wird auch dieser größte Geheimdienstskandal vom Parlament untersucht, der darin besteht, dass das V-Leute-System der Verfassungsschutzämter die neonazistische NPD vor einem Verbotsverfahren bewahrte?

Auch unser Land könnte etwas gegen die Neonazis tun. Es gilt die nazistischen "freien Kameradschaften" endlich als Nachfolgeorganisationen zu verbieten und aufzulösen. Den Faschisten keinen Fußbreit Boden - Das sind wir den Millionen Opfern des Faschismus schuldig, wie es im → Schwur von Buchenwald abschließend heißt."

VVN-BdA Gelsenkirchen

Quelle: www.secarts.org, 10. Juni 2006, von Ivan

Andreas Jordan, September 2008