Was nun etwas allgemeingültig klingen mag, ist tatsächlich aber ein höchst persönlicher Einblick in die Familiengeschichte und das Gefühlsleben der Autorin. Sie erhebe ausdrücklich keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, auch wenn ihre Recherchen faktisch korrekt seien. Das macht auch den Reiz beim Lesen aus. Unkonventionell, weder chronologisch noch linear, reiht Esther Goldschmidt in ihrem Werk die Ergebnisse ihrer Recherchen, Erlebnisse von Wiedersehen mit "verschollenen" Verwandten und ihre ganz persönlichen Gefühle aneinan- der. Besonders beeindruckend sind original Briefe, die Verwandte aus der Gefangenschaft im KZ, zur Zeit der Machtergreifung der Nazis oder aus dem Exil geschrieben haben. Aktuelle Probleme des Judentums oder Antisemitismus im Alltag spricht sie mit gleicher Offenheit an. Was ihr Leben nachhaltig prägen sollte, begann recht zaghaft. Auf der Internetseite "Jewish Gen", einer Art Kontaktbörse für Juden auf Spurensuche, stieß Esther Goldschmidt auf eine erste Verwandte, Tante Hilde aus Sun City/Arizona. Stundenlangen Telefonaten, gegenseitigen Besuchen und natürlich weiterem Informationsaustausch stellen sich weitere Erfolge ein. In Stockholm stößt Esther Goldschmidt auf die Familie ihres Mannes, zu der sie bis heute engen Kontakt hält. "Ganze Familien erwachten zum Leben", schreibt sie. Die "heißeste Spur" führt aber ins Sauerland, genauer gesagt nach Madfeld. Ein Großteil ihrer direkten Vorfahren, so die Großeltern Fanny und Hermann Goldschmidt, stammen unmittelbar aus dem Dorf, viele weitere, wie auch die verwandten Familien Mansfeld und Kahlenberg aus Brilon, Messinghausen oder Marsberg. Esther Goldschmidt sucht Kontakt nach Brilon und findet offene Arme und Ohren in Museumsleiterin Sabine Vollmer, dem heutigen Agenda-Beauftragten Helmut Nürnberg, der Buchautorin Ursula Hesse ("Jüdisches Leben in Alme, Altenbüren, Brilon, Madfeld, Messinghausen, Rösenbeck und Thülen") und Bürgermeister Franz Schrewe. Im Oktober 2003 besucht Esther Goldschmidt Brilon (der SauerlandKurier berichtete damals) und kann sich vor Ort vergangene Bilder ins Bewusstsein rufen. In den Archiven der Stadt stoßen sie bis weit ins 19. Jahrhundert zurück auf Ahnen, bekommen aber auch Antworten auf die Frage, wie sich auch in Brilon die Judenverfolung abgespielt hat: "Nachdem die letzten Briloner Juden aus Brilon abtransportiert worden waren, hängte ein Briloner Handwerker ein Schild auf "Brilon judenfrei". Wie für ihre gesamte Arbeit habe auch für den Besuch in Brilon gegolten: "Bei allen, zumeist schrecklichen Erkenntnissen, habe ich auch viele neue, super Bekanntschaften gewonnen. Es ist richtig schön." Dementsprechend ist Esther Goldschmidt auch heute, nach der Veröffentlichung ihres Buches, noch weiterhin damit beschäftigt, alte Kontakte zu intensivieren und neue zu finden. Ein zweiter Band sei demnach nicht ausgeschlossen. "Vergangene Gegenwart" von Esther Goldschmidt ist erschienen mit der Unterstützung der Stadt Brilon und hat die ISBN 978-3-8334-8999-0
Die Westfalenpost schreibt am 31. Mai 2008: "Manchmal leide ich ihre Qualen mit" - Erika Esther Goldschmidt ist Spuren ihrer Madfelder Verwandten nachgegangen / Schicksale in VernichtungslagernBrilon. Eine sehr persönliche Verarbeitung des Schicksals ihrer Familie, deren Mitglieder in den Konzentrationslagern des Deutschen Reiches unter nationalsozialistischer Herrschaft umgebracht wurden, versucht Erika Esther Goldschmidt in ihrem Buch "Vergangene Gegenwart". Viele Familienmitglieder der Goldschmidts stammten aus Madfeld. So auch die Großeltern Fanny und Hermann Goldschmidt. Ein Verwandter - Ludwig Goldschmidt - heiratete Ilse Hesse aus Brilon. Mit Ilse Hesse starben in den Gaskammern von Auschwitz die Mutter Rika Hesse, die Brüder Norbert und Hel-muth. Die Liste der Getöten ist bedrückend lang. Erika Esther Goldschmidt schreibt zu Beginn ihres Buch "Und jetzt? ... Jetzt .mache ich mich auf den Weg, meinen Stamm und meine Wurzeln anzuschauen ... Es ist bestimmt das Alter, das mich auf diese Suche geschickt hat. Nach einem halben Jahrhundert scheint es an der Zeit zu sein, festen Boden in der Biografie zu erreichen." Das Werk ist nicht chronologisch geordnet, sondern Erika Esther Goldschmidt hat ihre Gedanken, Ängste, Hoffnungsschimmer und Recherchen so niedergeschrieben, wie sie ihr durch den Kopf gingen. Für den Leser ist das Familiengeflecht fast nicht durchschaubar. Umso klarer wird aber das unmenschliche Grauen, dass in den Jahren des Nationalsozialismus in Deutschland, in Europa und der Welt gewütet hat. In ihrem Vorwort schreibt die Autorin: "Manchmal leide ich ihre Qualen mit. Die Angst derer, die in stickige Waggons gepfercht einem unvorstellbaren Grauen entgegen fuhren. Ihnen gilt meine ganze Aufmerksamkeit, ihren Geschichten will ich hier einen Platz einräumen. Niemals sollen sie vergessen werden." Nie vergessen - das ist nach Lektüre von "Vergangene Gegenwart" eine Verpflichtung. "Vergangene Gegenwart" (Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH Norderstedt ISBN: 978-3-8334-8999-0)
Die Rhein - Zeitung schreibt in ihrer Beilage "Heimat" im Juni 2008: "Das erfahrene Leid blieb"
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Bild: Sigmund und Sarah Gottschalk, die Eltern von Marta
Vom Vater der Marta ist folgende Anekdote überliefert: Sigmund Gottschalk, der gerne Pfeife rauchte, hatte damit Probleme am Sabbat, an dem bekanntlich nach den jüdischen Riten über Tag weder eine Arbeit verrichtet, noch feste Speisen oder Genussmittel zu sich genommen werden durften. Wenn es dann in den späten Samstagnachmittag ging und der Raucher sich nach den ersten Zügen an seiner Pfeife sehnte, frage er schon mal den Nachbarsohn: "Wöllem, hass dau at de Mond jesehn?" Bejahte der dies, gab es für ihn kein Halten mehr und die Pfeife wurde angezündet. |
Bild: Das Haus an der Kirchstraße 19 in Kottenheim Das Haus in der Kirchstraße, welches die Eltern 1912 erworben hatten, wurde 1933 verkauft. Da Martas Vater bereits 1926 verstorben war, zog Mutter Sarah mit ihr nach Herne. Hier wurde am 22. Juni 1935 Martas und Arthurs Sohn Heinz Werner geboren. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten hatte sich das Leben der jüdischen Mitbürger in Deutschland schlagartig zum Negativen verändert. Höhepunkt war die einsetzende, planmäßige Deportation und Tötung dieser Menschen. Einer beabsichtigten Auswanderung der Familie Goldschmidt in die Vereinigten Staaten wurde nicht entsprochen. Bereits im Januar 1942 erhielten die Goldschmidts in Herne ihren Bereithaltebefehl zur Umsiedlung. |
Am 19. Januar 1942 schrieben Arthur und Marta Goldschmidt eine letzte Karte an Arthurs Schwester Hilde, die in Holland lebte. "Meine liebe Schwester! Nun ist die Reihe auch an uns, wir stehen vor der großen Reise, alles ist kopflos." Marta ergänzte: "Dein Päckchen, liebe Hilde, wird uns nicht mehr erreichen, da wir am 23. abfahren müssen. Es ist ein großes Elend, aber an dem Schicksal kann keiner mehr rühren, man muss stark bleiben, damit man die Nerven nicht verliert. (...) Die liebe Mama ist heute früh wieder abgereist, bin froh, dass wir uns nicht von ihr verabschieden brauchen, das Herz bricht einem ja. Der Transport soll nach Riga gehen. Ich habe noch viel zu tun, ich habe noch nicht gepackt, es gibt allerlei zu tun. Für Heinzi tut es einem sehr leid. Liebe Hilde, bleib gesund, halte Mut und Kopf hoch, vielleicht sehen wir uns doch noch mal im Leben. 1000 liebe Grüße und Küsse." Sie sahen sich nicht mehr wieder.
Laut Unterlagen des Bundesarchivs Koblenz sind Marta, ihr Mann Arthur und Sohn Heinz Werner am 27. Januar 1942 nach Riga deportiert worden. Am 2. November 1943 wurden sie offenbar nach Auschwitz verbracht, wo Marta, 38 Jahre alt, und Heinz Werner, acht Jahre alt, im November zu Tode kamen. Arthur Goldschmidt hat Auschwitz überlebt, weil er dort wohl als "arbeitsfähig" eingestuft wurde. Sein Überleben ist mutmaßlich auch Kottenheimer Zeitzeugen zur Kenntnis gekommen. Im Laufe der Jahre wurde jedoch von diesen offenbar die überlebende Person verwechselt. Man schilderte, dass der Fritz Levy, Ehemann von Meta Gottschalk, ehemals auch in der Kirchstraße im damaligen Anwesen Weiler wohnhaft, ein Überlebender des Holocaust gewesen sei. Dafür gab es jedoch weder früher noch gibt es heute einen stichhaltigen Beweis.
Arthur heiratete erneut. "Ein zweites Leben wurde begonnen. Doch das erfahrene Leid war niemals aus den Gedanken zu löschen. Keine Nacht schlief er noch ruhig. Jede Nacht die gleichen Träume. Im Traum schlug er um sich, er stöhnte und weinte", wie die Tochter Esther in ihrem Buch "Vergangene Gegenwart" die Betroffenheit ihres Vaters nach Auschwitz festhielt. Marta Goldschmidt, geborene Gottschalk, nahm 27 Jahre lang in Kottenheim am normalen Dorfleben teil. Ältere Mitbürger erinnern sich noch gut an sie. Bekannte in Herne beschrieben sie als "einen sehr fröhlichen, lebenslustigen Menschen".
Marta Gottschalk In Kottenheim hatte man Marta durch den Umzug nach Herne "aus den Augen verloren" und daher war ihr schlimmes Schicksal im Vernichtungslager Auschwitz hier niemandem bekannt. Ob die "Jüde Marta" tatsächlich das letzte bekannt gewordene Kottenheimer Opfer der Nazi-Zeit ist, muss offen bleiben. Für Angehörige der Familie Goldschmidt werden in Gelsenkirchen Stolpersteine des Kölner Künstlers Gunter Demnig verlegt. → Stolpersteine für Fritz, Grete und Mathilde Wertheim geb. Goldschmidt |
Andreas Jordan, Juni 2008 |