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Diskriminierung und Kriminalisierung von Sinti und Roma in Gelsenkirchen nach 1945

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"Rassenpolitik" der sozialdemokratischen Stadtverwaltung Gelsenkirchen von 1978

Strategiepapier der sozialdemokratischen Stadtverwaltung Gelsenkirchen unter Oberbürgermeister Werner Kuhlmann (SPD) aus dem Jahre 1978. In dem städtischen Strategiepapier werden "alle rechtlichen Möglichkeiten", den "Zuzug weiterer Zigeuner" nach Gelsenkirchen zu verhindern, erkundet. Kernbegriffe des Papiers: "Ersatzzwangshaft", ",Zwangsgeld", "unmittelbarer Zwang"; Kernsatz: "Bei Hinweisen gegen Zigeuner wird von der Polizei auf Wunsch Vertraulichkeit zugesichert."

In Gelsenkirchen haben sich durch das Zusammenleben von Zigeunern und Obdachlosen auf engem Raum besondere Schwierigkeiten ergeben. Die Probleme sind durch die Vorkommnisse in letzter Zeit besonders deutlich geworden. Neben den Streitigkeiten mit anderen Bewohnern der Obdachlosenunter- künfte stellen die Wohnwagen der Zigeuner ein ständiges Ärgernis dar.

In den stadteigenen Obdachlosenunterkünften Katernberger Straße/Zollvereinstraße sind insgesamt 18 Zigeunerfamilien mit 93 Personen untergebracht. Außerdem wohnen im Nahbereich dieser Unterkünfte ca. 15 Zigeunerfamilien mit etwa 100 Personen in Häusern privater Eigentümer mit Mietvertrag. In den Wintermonaten steigt die Zahl der sich in diesem Gebiet teilweise auch in Wohnwagen aufhaltenden Zigeuner auf ca. 300 Personen an. Eine etwa gleich große Zahl von Zigeunern hält sich dann auch in dem benachbarten Essener Stadtgebiet auf.

Es ist anzustreben, die Zahl der Zigeuner in dem sozialen Brennpunkt zu reduzieren. Durch gezielte Maßnahmen soll möglichst erreicht werden, daß den Zigeunern kein Anreiz mehr für einen Aufenthalt in diesem Bereich gegeben wird. Es muß versucht werden, die z. Z. in stadteigenen Unterkünften untergebrachten Zigeunerfamilien aus dem sozialen Brennpunkt Katernberger Straße herauszunehmen und schrittweise anderweitig wohnungsmäßig zu versorgen. Zur Herbeiführung eines ordnungs- gemäßen Zustandes müssen alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft werden.

1. Versorgung der Zigeunerfamilien mit geeignetem Wohnraum außerhalb des sozialen Brennpunktes

Es ist anzustreben, daß die Wohnbereiche der Obdachlosen und der Zigeuner getrennt werden. Der Neubau von geeigneten Wohnungen für Zigeuner kommt nicht in Betracht, weil finanzielle Gründe entgegenstehen und ein gewisser Anreiz ausgelöst würde. Es bleibt somit nur noch die Möglichkeit, Zigeunerfamilien in bereits vorhandenen Häusern unterzubringen. Diese Häuser sollten möglichst an der Peripherie des Stadtgebietes und möglichst gestreut liegen, um einer Ghetto-Bildung entgegen- zuwirken. Nach dem Wunsch der Zigeuner müßte bei diesen Häusern die Möglichkeit bestehen, in kleinen Gruppen - etwa 3-4 Familien - zu wohnen.

Für das Abstellen der Wohnwagen und Fahrzeuge müßte ein ausreichend großer Platz vorhanden sein. Über Stadtamt 23 - Liegenschaftsamt -, die Gelsenkirchener Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft und auch andere Wohnungsbaugesellschaften in Gelsenkirchen wird versucht, geeignete Wohngebäude bereitzustellen. Wird festgestellt, daß sich Zigeuner unberechtigt in Obdachlosenunterkünften aufhalten, werden vom Stadtamt 50/6 - Sozialamt - Abt. Obdachlosenwesen - unverzüglich Maßnah- men zur Räumung der Unterkunft eingeleitet.

2. Verfahren bei der Anmeldung zuziehender Zigeuner

Der Zuzug weiterer Zigeuner muß verhindert werden. Beim Stadtamt 33/2 - Amt für Statistik und Einwohnermeldewesen - Meldeabteilung - wird für die Anmeldung von Zigeunern die Zuständigkeit einer zentralen Stelle begründet. Wenn Zigeuner dort vorsprechen, um sich anzumelden, wird in jedem Falle die schriftliche Zustimmung des Hauseigentümers gefordert. Wird diese Zustimmung nicht beigebracht, so kann zwar die Anmeldung nach den melderechtlichen Bestimmungen nicht verweigert werden, jedoch erfolgt die Anmeldung für Gelsenkirchen «ohne festen Wohnsitz» mit einer gleichlautenden Eintragung in den Personalausweis. Wird eine Anmeldung in eine stadteigene Obdachlosenunterkunft gewünscht, wird sofort die Abteilung Obdachlosenwesen des Sozialamtes unterrichtet. Von dort aus wird festgestellt, ob sich die Zigeuner tatsächlich und berechtigt unter der angegebenen Anschrift aufhalten. Über die in Gelsenkirchen «ohne festen Wohnsitz» angemeldeten Zigeuner erhält die Kriminalpolizei zum Zwecke der Überprüfung der Personalpapiere Mitteilung.

Die Gelsenkirchener Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft mbH.(GGW) und StA. 23 - Liegenschaftsamt -, die im Nahbereich des sozialen Brennpunktes Mietwohnungen haben, sind aufgefordert, in diesen Häusern ebenfalls keine Wohnungen an Zigeunerfamilien mehr zu vermieten und darüberhinaus auch die Zustimmung zur Anmeldung neu zuziehender Zigeuner zu vermeiden. Auch sollten Uberprüfungen stattfinden, ob nicht genehmigte Untermieterverhältnisse vorliegen, die Handhabe für Kündigung des Mietverhältnisses bieten. Die möglichen Maßnahmen sind zu veranlassen.

3. Gewährung von Sozialhilfe an Zigeuner

Die Fälle von Sozialhilfegewährung an Zigeuner werden sorgfältig geprüft, insbesondere hinsichtlich des wirtschaftlichen Zusammenlebens, der Unterhaltsleistungen und des Einsatzes von ggfs. vorhandenem Vermögen (z. B. Auto). Die Leistungen werden nicht monatlich im voraus gewährt, sondern nur tageweise. Die familiären und häuslichen Verhältnisse, die zur Sozialhilfegewährung geführt haben, werden ständig neu geprüft. Ergibt sich bei Prüfung der Unterlagen, daß offensichtlich falsche Angaben gemacht worden sind, wird Strafanzeige wegen Verdacht des Betruges erstattet.

4. Abstellen von Wohnwagen auf öffentlichen Straßen und Verkehrsflächen

Grundsätzlich stellen auf öffentlichen Straßen ohne Zugfahrzeug aufgestellte Wohnwagen ein Verkehrshindernis im Sinne des § 32 Abs. 1 Satz 1 StVO dar (Bundesverwaltungsgericht in NJW 1974, S. 761 f). Die Straßenverkehrsbehörde kann daher die Beseitigung der Wohnwagen aus dem öffentlichen Verkehrsraum verlangen oder ihr Aufstellen untersagen.

Wer demnach auf öffentlichen Straßen ohne Zugfahrzeug einen Wohnwagen aufstellt, handelt gemäß § 49 Abs. 1 Ziff. 27 StVO ordnungswidrig im Sinne des § 24 StVO, so daß ihm ein Bußgeld auferlegt werden kann.

Darüber hinausgehende Verwaltungszwangsmittel, mit denen die Beseitigung der Wohnwagen aus dem öffentlichen Verkehrsraum verlangt werden soll, unterliegen dem Prinzip, daß Zwangsmittel in einem angemessenen Verhältnis zu ihrem Zweck stehen müssen und möglichst so zu bestimmen sind, daß der Betroffene am wenigsten beeinträchtigt wird.

Werden von Zigeunern Wohnwagen auf öffentlichen Straßen- und Verkehrsflächen abgestellt, wird Stadtamt 32 - Ordnungsamt - alle rechtlichen Möglichkeiten nutzen, um einen ordnungsgemäßen Zustand herzustellen. Die Halter der Wohnwagen werden durch Ordnungsverfügung aufgefordert, die Wagen zu entfernen. Gleichzeitig wird für den Fall der Nichtbefolgung der Anordnung ein Zwangsgeld angedroht und anschließend festgesetzt. Ist ein festgesetztes Zwangsgeld uneinbringlich, so kann durch das Verwaltungsgericht Ersatzzwangshaft angeordnet werden.

5. Abstellen von Wohnwagen auf stadteigenen Freiflächen

Hinsichtlich der auf den Freiflächen der städtischen Grundstücke abgestellten Wohnwagen kann die Stadt Gelsenkirchen als Grundeigentümer jederzeit die Beseitigung gemäß § 1004 BGB verlangen.

Ein von der Stadt als Grundeigentümer angeordnetes Abschleppen der Wohnwagen ist nach der einschlägigen Rechtsprechung nur zulässig, wenn diese Maßnahme unmittelbar nach der Eigentums- störung erfolgt.

Da dies in der Regel nicht möglich sein wird, können die Wohnwagen als letzte Möglichkeit nur mit den in der Zivilprozeßordnung vorgesehenen Vollstreckungsmaßnahmen beseitigt werden. Es ist entsprechend zu verfahren. Das Abstellen der Wohnwagen wird nicht mehr geduldet.

Das Gesundheitsamt wird die abgestellten Wohnwagen, in denen Zigeunerfamilien wohnen, überprüfen, da, in allen Fällen die hygienischen Voraussetzungen nicht gegeben sind (vor allem fehlende sanitäre Anlagen). Um der Gefahr der Verbreitung von Seuchen und ansteckenden Krank- heiten zu begegnen, wird im Anschluß an die erfolgte Uberprüfung das Ordnungsamt eingeschaltet. Das Ordnungsamt wird die Beseitigung der Wohnwagen durch Ordnungsverfügung verlangen und hierbei die nach dem Verwaltungsvollstreckungsgesetz möglichen Zwangsmittel (Ersatzvornahme, Zwangsgeld, unmittelbarer Zwang) einsetzen.

6. Zusammenarbeit mit der Kreispolizeibehörde

Die Polizei wird die Maßnahmen der Verwaltung unterstützen. Die Bewohner des sozialen Brennpunktes sind aufgefordert, bei Vorkommnissen mit Zigeunerbeteiligung unverzüglich die Polizei zu benachrichtigen. Zukünftig werden in diesem Bereich verstärkt Zivilstreifen eingesetzt. Bei Hinweisen gegen Zigeuner wird von der Polizei auf Wunsch Vertraulichkeit zugesichert.

Bei den das Einwohnermeldeamt aufsuchenden Zigeunern, aus deren Unterlagen sich Unstimmigkeiten ergeben, wird zwecks Durchführung eines Personenfeststellungsverfahrens die Kriminalpolizei eingeschaltet. Alle Zigeuner, die beim Sozialamt bzw. beim Ordnungsamt - Abt. Straßenverkehr - als Antragsteller erscheinen und deren Identität zweifelhaft ist, werden zunächst an die Kriminalpolizei (6. Kommissariat, Overwegstraße) verwiesen, wo sie durch die mit dem Milieu vertrauten Herren KHK Tiefenbach oder KHM Petershöfer einer Personenkontrolle unterzogen werden. In allen Zweifelsfällen ist die Abteilung Obdachlosenwesen des Sozialamtes einzuschalten.

In: "In Auschwitz vergast, his heute verfolgt", Zur Situation der Roma ("Zigeuner") in Deutschland und Europa. Herausgegeben von Tilman Zülch für die "Gesellschaft für bedrohte Völker", S. 241-244. Rowohlt Verlag, Hamburg, 1979.

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Andreas Jordan, Dezember 2010

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