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Romani Rose zum 27. Januar 2008

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Romani RoseRomani Rose

Romani Rose, der Zentralratsvorsitzende deutscher Sinti und Roma, hielt eine Gedenkansprache zum 27. Januar 2008, dem internationalen Holocaust-Gedenktag, im Sächsischen Landtag

Sehr geehrter Herr Landtagspräsident, sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
verehrte Abgeordnete, meine sehr geehrten Damen und Herren,

zunächst möchte ich mich für die Einladung bedanken, anlässlich des heutigen Gedenktags in diesem hohen Hause zu Ihnen zu sprechen. Ganz besonders herzlich begrüße ich die ehemaligen Verfolgten des Nazi-Regimes und die Holocaust-Überlebenden, die heute anwesend sind.

Vor nunmehr 63 Jahren, am 27. Januar 1945, befreite die Rote Armee die letzten Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Wir gedenken heute all jener Menschen, die der nationalsozialistischen Willkürherrschaft zum Opfer fielen: weil sie als Sinti, Roma oder Juden geboren worden waren, weil sie behindert oder krank waren, weil sie eine andere politische oder religiöse Überzeugung vertraten, weil sie sich zur ihrer Homosexualität bekannten oder weil sie sich in den besetzten Staaten Europas gegen den nationalsozialistischen Terror zur Wehr setzten. All diese Menschen verbindet das erlittene Unrecht, und ihr gemeinsames Vermächtnis gilt es auch künftig zu bewahren.

Der Name Auschwitz ist zum Symbol geworden auch für den systematischen Völkermord an den Sinti und Roma im nationalsozialistisch besetzten Europa. Es gibt unter uns kaum eine Familie, die mit dem Namen "Auschwitz" nicht den Verlust von Angehörigen verbindet. Das ehemalige Lagergelände von Auschwitz-Birkenau ist für uns in erster Linie ein riesiger Friedhof. Für die wenigen Überlebenden ist "Auschwitz" gleichbedeutend mit qualvollen Erinnerungen, die sich unauslöschlich in das Gedächtnis eingegraben haben – eine Wunde, die niemals wirklich heilen kann. Und auch das Bewusstsein und die Identität unserer künftigen Generationen wird geprägt sein von jenem schrecklichsten Verbrechen, das die Geschichte der Menschheit kennt.

Die historische Aufarbeitung des Holocaust an unserer Minderheit, der im Nachkriegsdeutschland jahrzehntelang verdrängt und geleugnet wurde, wie auch das Aufzeigen der ideologischen und personellen Kontinuitäten aus der NS-Zeit waren von Anfang an zentraler Bestandteil unseres politischen Engagements. Vor allem ging – und geht – es uns darum, unsere Menschen endlich vom Stigma des Fremden zu befreien und das Bewusstsein zu schärfen, dass Sinti und Roma seit Jahrhunderten in Deutschland sowie in den anderen europäischen Ländern beheimat sind, deren Geschichte und deren Kultur sie mit geprägt haben. Nach über zwanzig Jahren Bürgerrechtsarbeit ist in unserer Gesellschaft ein allmählicher Wandel im gesellschaftlichen Umgang mit unserer Minderheit und in ihrer öffentlichen Wahrnehmung zu spüren. Diesen Prozess möchte ich in meinem heutigen Vortrag nachzeichnen.

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Bevor ich auf die wichtigsten Stationen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gegenüber unserer Minderheit eingehe, erlauben Sie mir einige grundsätzliche Vorbemerkungen. Im Gegensatz zum Zerrbild des ewigen Nomaden bilden Sinti und Roma in den Staaten Europas alteingesessene und historisch gewachsene Minderheiten. Auch in Deutschland sind Sinti und Roma seit 600 Jahren beheimatet. Die heute hier lebenden 70.000 deutschen Sinti und Roma sind eine nationale Minderheit und Bürger dieses Staates. In ihren Familien verwenden sie neben Deutsch als zweite Muttersprache ihre eigene Minderheitensprache Romanes. Die Auseinandersetzung mit den gegen unsere Minderheit gerichteten Stereotypen bildet einen Kernbereich unserer Arbeit. Wir wollen aufzeigen, dass die Lebenswirklichkeit unserer Menschen grundsätzlich von den antiziganistischen Klischees unterschieden werden muss, die seit Jahrhunderten im kollektiven Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft verwurzelt sind und die auch die Nazi-Propaganda gezielt aufgegriffen und verbreitet hat.

Tatsächlich waren Sinti und Roma bereits lange vor der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten als Nachbarn und Arbeitskollegen in das gesellschaftliche Leben und in die lokalen Zusammenhänge integriert. Viele hatten im Ersten Weltkrieg in der kaiserlichen Armee gedient und hohe Auszeichnungen erhalten. Obwohl sie damit ihre Loyalität für ihr Vaterland unter Beweis gestellt hatten, wurden Sinti und Roma nach 1933 ebenso wie Juden vom Säugling bis zum Greis erfasst, entrechtet, gettoisiert und schließlich in die Todeslager deportiert. Der nationalsozialistische Staat sprach unseren Menschen kollektiv und endgültig das Existenzrecht ab, nur weil sie als Sinti oder Roma geboren worden waren, und zwar völlig unabhängig von ihrem Verhalten, ihrem Glauben oder ihrer politischen Überzeugung.

Diese mit der so genannten "Rasse" begründete Politik der "Endlösung" unterschied sich grundlegend von allen Formen der Verfolgung, der Angehörige unserer Minderheit über Jahrhunderte hinweg immer wieder ausgesetzt waren. Nach Schätzungen fielen europaweit 500.000 Sinti und Roma dem Holocaust zum Opfer – einem Verbrechen, das in seinem Ausmaß bis heute unvorstellbar bleibt.

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Am Beginn der Verfolgung unserer Menschen im NS-Staat stand die systematische Entrechtung und Ausgrenzung. Sinti und Roma wurden ebenso wie Juden zu so genannten "Fremdrassigen" erklärt, die aus der nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft" auszuschließen und letztlich "auszumerzen" seien. Die berüchtigten "Nürnberger Gesetze" wurden auf Anweisung von Reichsinnenminister Frick in gleicher Weise auf Angehörige unserer Minderheit angewandt wie auf jüdische Menschen. Sinti und Roma sowie Juden standen bald außerhalb jeder Rechtsordnung.

Diese systematische Ausgrenzung betraf alle Bereiche des öffentlichen Lebens. So wurden Sinti und Roma aus Berufsorganisationen wie der Handwerkskammer oder der Reichskulturkammer ausgeschlossen. Sie mussten ihre Geschäfte aufgeben oder wurden als Arbeiter und Angestellte von ihren Arbeitsplätzen verdrängt. Darüber hinaus erließ der NS-Staat zahlreiche diskriminierende Sonderbestimmungen, die unsere Menschen in ihrem Alltag immer stärker einschränkten. So durften Sinti und Roma in manchen Städten nur zu festgesetzten Zeiten und in wenigen ausgewählten Geschäften einkaufen. Die Benutzung von Straßenbahnen oder Zügen war ihnen verboten. Vermieter wurden unter Druck gesetzt, keine Mietverträge mit Sinti und Roma abzuschließen und bereits bestehende zu lösen. Krankenhäusern wurde die Behandlung von Sinti und Roma untersagt. In Minden etwa ließ die Stadtverwaltung Schilder aufstellen mit der Aufschrift: "Zigeunern und Zigeunermischlingen ist das Betreten des Spielplatzes verboten". Auch der Besuch von Lokalen, Kinos oder Theatern war Angehörigen der Minderheit vielerorts nicht erlaubt. Sinti- und Roma-Kinder wurden vom Schulunterricht ausgeschlossen oder – wie es beispielsweise in Köln oder Gelsenkirchen der Fall war – als so genannte "Zigeunerklassen" getrennt unterrichtet.

Auch aus der Wehrmacht wurden Sinti und Roma ausgeschlossen. 1937 erging vom Kriegsministerium die Weisung, "Zigeuner" aus dem Wehrdienst zu entlassen. Im Februar 1941 und im Juli 1942 ordnete das Oberkommando der Wehrmacht auf Drängen der Parteikanzlei noch einmal den Ausschluss aller Sinti und Roma aus so genannten "rassen-politischen" Gründen an. Trotz der Fürsprache vieler Vorgesetzter wurden Angehörige unserer Minderheit, die noch kurz zuvor an der Front gekämpft hatten, nach Auschwitz deportiert. Als sie dort eintrafen, trugen manche noch ihre Uniform oder ihre Auszeichnungen, wie selbst der Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, in seinen Aufzeichnungen vermerkte.

Himmler, der als so genannter "Reichführer SS" beim Vernichtungsprogramm der Nationalsozialisten eine Schlüsselrolle spielte, forderte bereits in seinem Erlass vom 8. Dezember 1938 die (Zitat) "endgültige Lösung der Zigeunerfrage". Ziel nationalsozialistischer Politik sei, so Himmler, die "Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus". Eine Schlüsselrolle bei der totalen Erfassung unserer Minderheit spielte die so genannte "Rassenhygienische Forschungsstelle" unter Leitung von Dr. Robert Ritter, die 1936 in Berlin eingerichtet worden war und die eng mit dem SS-Apparat kooperierte. Mit Unterstützung staatlicher und kirchlicher Stellen führten Ritter und seine Mitarbeiter im gesamten Reich genealogische und anthropologische Untersuchungen an Sinti und Roma durch. Sie zwangen die Menschen, Auskunft über ihre Verwandtschaftsverhältnisse zu geben, und vermaßen sie von Kopf bis Fuß. Die von Ritters Institut bis Kriegsende erstellten 24.000 "Rassegutachten" bildeten eine entscheidende Grundlage für die Deportation der Sinti und Roma in die Konzentrations- und Vernichtungslager.

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Unmittelbar nach der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs beschloss die SS-Führung, dass alle deutschen Sinti und Roma sowie Juden in das besetzte Polen deportiert werden sollten. Als vorbereitende Maßnahme untersagte ein Erlass Himmlers vom Oktober 1939 allen Angehörigen unserer Minderheit, ihre Wohnorte zu verlassen. Ein halbes Jahr später, am 27. April 1940, ordnete Himmler die Verschleppung von zunächst 2.500 Sinti und Roma in das so genannte "Generalgouvernement Polen" an. In Hamburg, Köln und Hohenasperg bei Stuttgart wurden besondere "Sammellager" eingerichtet. Im Mai 1940 starteten von dort die ersten Deportationszüge mit deutschen Sinti- und Roma-Familien in die Konzentrationslager im besetzten Polen. Für die Mehrzahl der verschleppten Männer, Frauen und Kinder war es eine Fahrt in den Tod. Sie fielen dem Hunger und der Kälte, den Misshandlungen und zwangsläufig sich ausbreitenden Krankheiten zum Opfer oder wurden von den Mordkommandos der SS erschossen.

Im besetzten Polen sind bisher über 180 Orte bekannt, an denen Sinti und Roma durch Exekutionskommandos der SS, der Polizei und der Wehrmacht ermordet wurden. Zu den Opfern zählten sowohl die nach Polen deportierten deutschen Sinti wie auch die dort beheimateten Roma. Einer dieser Orte ist das Dorf Szczurowa. Am frühen Morgen des 3. Juli 1943 umstellte ein Polizeikommando die Häuser der Roma-Familien. Die Menschen wurden aus ihren Betten gerissen, mit Leiterwagen zum Friedhof gefahren und dort erschossen: 94 Männer, Frauen und Kinder. Ihre Leichen verscharrte man in einem Massengrab. Ihr Hab und Gut wurde geraubt, ihre Häuser niedergebrannt. Wie das Pfarrbuch ausweist, waren Sinti und Roma seit Generationen in Szczurowa ansässig. In vielen weiteren Ortschaften wurden die dort seit langem lebenden Sinti und Roma gezielt ausfindig gemacht und umgebracht.

Federführend bei der systematischen Vernichtungspolitik gegenüber den Sinti und Roma war das so genannte Reichssicherheitshauptamt, das im September 1939 in Berlin eingerichtet worden war. Dieser Zentrale des SS-Staates unterstanden auch die Befehlshaber der Einsatzgruppen, die nach dem Überfall auf die Sowjetunion hinter der Front operierten und dort systematische Massenerschießungen an Juden, Sinti und Roma und anderen durchführten. Otto Ohlendorf, Befehlshaber der Einsatzgruppe D, sagte vor dem Nürnberger Gerichtshof aus: (Zitat) "Es bestand kein Unterschied zwischen den Zigeunern und den Juden. Für beide galt damals der gleiche Befehl" (Zitat Ende).

Sinti und Roma gehörten neben Juden zu den ersten Opfern der fabrikmäßigen Massentötungen in den neu errichteten Vernichtungslagern im besetzten Polen. Wenige Wochen nachdem die systematischen Deportationen der Juden aus dem Reichsgebiet eingesetzt hatten, wurden im November 1941 etwa 5.000 österreichische Sinti und Roma – ein großer Teil waren Kinder und Jugendliche – in das Getto Lodz deportiert, wo die SS innerhalb des jüdischen Gettos ein so genanntes "Zigeunergetto" einrichten ließ. Zuständig für die Organisation dieser Transporte war Adolf Eichmann. Im Januar 1942 wurden die überlebenden Insassen des "Zigeunergettos" Lodz wie ihre jüdischen Leidensgenossen nach Chelmno gebracht und unmittelbar nach ihrer Ankunft in Gaswagen erstickt.

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Der als "Zigeunerlager" bezeichnete Abschnitt des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau wurde schließlich zum Zentrum des staatlich organisierten Völkermords an den Sinti und Roma. Im Anschluss an den Auschwitz-Erlass Himmlers vom 16. Dezember 1942 wurden 23.000 Sinti und Roma aus fast ganz Europa in die Todesfabrik nach Auschwitz deportiert, davon über 10.000 aus Deutschland. Fast 90% unserer Menschen fielen in Auschwitz-Birkenau dem Terror und den mörderischen Lebensbedingungen im Lager zum Opfer oder mussten in den Gaskammern einen qualvollen Tod erleiden.

Der Name Auschwitz steht für die totale Entmenschlichung des Menschen durch den Menschen. Die an der so genannten Rampe eintreffenden Frauen, Männer und Kinder wurden zu Nummern degradiert, die man ihnen auf den Arm – bei Säuglingen auf den Oberschenkel – tätowierte. Man raubte den Menschen den Namen und die Persönlichkeit; jeder Anspruch auf menschliche Würde wurde ihnen aberkannt. In den Augen der SS waren Häftlinge bloße Arbeitssklaven oder Objekte qualvoller medizinischer Versuche. Ihre Ausbeutung war eine totale: bis hin zu den Goldzähnen und den Haaren der Ermordeten, die zentral gesammelt und verwertet wurden. Die letzte große Mordaktion an Sinti und Roma in Auschwitz fand bei der so genannten "Liquidierung" des "Zigeunerlagers" am 2. August 1944 statt. In einer einzigen Nacht wurden die letzten 2.900 Überlebenden – zumeist Frauen, Kinder und alte Menschen – von der SS in die Gaskammern getrieben. Niemand kann die Qualen ermessen, die die Menschen dabei erleiden mussten. Es ist die spezifische Verbindung von menschenverachtender Ideologie und Barbarei, von kalter bürokratischer Logik und mörderischer Effizienz, die in der Geschichte der Menschheit ohne Beispiel ist.

Es gibt keinen eindringlicheren Beleg für die Totalität des nationalsozialistischen Vernichtungswillens gegenüber unserer Minderheit als das Schicksal der Kinder. Selbst in Kinderheimen wurden Sinti-Kinder zentral erfasst, um nach Auschwitz deportiert zu werden, und nicht einmal jene Sinti-Kinder, die in so genannten "arischen" Pflegefamilien aufwuchsen, blieben verschont. Von dem 14-jährigen Robert Reinhardt, der 1943 aus dem katholischen Nardini-Heim in Pirmasens von der Gestapo abgeholt wurde, um nach Auschwitz verschleppt zu werden, ist ein erschütternder Abschiedsbrief erhalten geblieben, den er noch unmittelbar vor seiner Deportation an die Schwestern des Heims abschicken konnte. Der Inhalt des Schreibens lautet: (Zitat)

"Ich habe meine Eltern und meine Geschwister wiedergefunden. Wir sind auf dem Transport in das Konzentrationslager. Ich weiß was uns bevorsteht, meine Eltern wissen es nicht. Ich habe mich nun innerlich soweit durchgerungen, dass ich auch den Tod ertragen kann. Ich danke noch einmal für alles Gute, das Sie mir erwiesen. Grüße an alle Kameraden. Auf Wiedersehen im Himmel! Euer Robert."

Dieses bewegende Zeugnis eines 14-jährigen Jungen, der in Auschwitz ermordet wurde, zeigt noch einmal in aller Eindringlichkeit, dass sich hinter den abstrakten Dokumenten der bürokratisch organisierten Vernichtung unzählige zerstörte Lebenswege und menschliche Schicksale verbergen.

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Meine sehr geehrten Damen und Herren, während die neu gegründete Bundesrepublik die jüdischen Opfer – als Voraussetzung für die Wiederaufnahme in die internationale Staatengemeinschaft – schon bald anerkannte, wurde der Völkermord an unserer Minderheit jahrzehntelang verdrängt und geleugnet. Es fand weder eine politische noch eine juristische oder historische Aufarbeitung dieses Verbrechens statt. Unseren Überlebenden, die körperlich und seelisch von Verfolgung und KZ-Haft gezeichnet waren, verweigerte der deutsche Staat die moralische und rechtliche Anerkennung. Erst mit der politischen Selbstorganisation der Betroffenen und der Gründung einer Bürgerrechtsbewegung, die seit Ende der Siebzigerjahre durch öffentliche Veranstaltungen auf ihr Anliegen aufmerksam machte, wurde ein Wandel eingeleitet. Träger dieser Emanzipationsbewegung waren die Kinder der Opfergeneration, die im Schatten von Auschwitz aufgewachsen waren.

Unsere Eltern hatten den NS-Staat als übermächtige Diktatur erlebt, sie waren der Maschinerie der Vernichtung nahezu hilflos ausgeliefert gewesen. Nach 1945 gab es keinen Staat wie Israel oder die USA, der uns Schutz oder zumindest Unterstützung hätte gewähren können. Wir, die Angehörigen der Nachkriegsgeneration, mussten erleben, dass es zwar auch in der Bundesrepublik Rassismus und Diskriminierung gab, doch waren wir von dem Bewusstsein getragen, dass Demokratie zugleich die Chance beinhaltet, für unsere Rechte als deutsche Staatsbürger zu kämpfen und selbstbewusst für unsere Ziele einzutreten.

Eine wichtige Station in der Bürgerrechtsarbeit markierte der an Ostern 1980 in der Gedenkstätte Dachau durchgeführte Hungerstreik, über den in den Medien bis in die USA sehr ausführlich berichtet wurde. Unser damaliger Protest richtete sich insbesondere gegen die Methoden der rassistischen Sondererfassung von Sinti und Roma bei Justiz- und Polizeibehörden auf der Grundlage der alten Aktenbestände aus der Nazizeit und teilweise mit dem damaligen SS-Personal. Zwei Jahre später, im Februar 1982, erfolgte schließlich die Gründung des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma mit Sitz in Heidelberg. Diese Dachorganisation vertritt seither auf nationaler wie internationaler Ebene die Interessen der in Deutschland lebenden Sinti und Roma.

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Eine Zäsur unserer politischen Arbeit war der 17. März 1982, als der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt eine Delegation des Zentralrats empfing und in völkerrechtlich bedeutsamer Weise die nationalsozialistischen Verbrechen an unserer Minderheit als Völkermord aus Gründen der so genannten "Rasse" anerkannte. Eine weiterer wichtiger Erfolg unserer Arbeit war die Eröffnung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg mit der weltweit ersten Dauerausstellung zum Holocaust an unserer Minderheit am 16. März 1997. In seiner Eröffnungsansprache hat der damalige deutsche Bundespräsident Roman Herzog die historische Dimension des Holocaust an unserer Minderheit mit folgenden Worten zum Ausdruck gebracht: "Der Völkermord an den Sinti und Roma ist aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz und dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie der an den Juden. Sie wurden im gesamten Einflussbereich der Nationalsozialisten systematisch und familienweise vom Kleinkind bis zum Greis ermordet." Dieses Zitat des damaligen Bundespräsidenten ist Teil der Chronologie, die am nationalen Holocaust-Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma am Berliner Reichstag angebracht wird. Ich begrüße den einstimmigen Beschluss des Bundesrats für die Realisierung dieses Denkmals vom 20. Dezember letzten Jahres, dem sich auch der Freistaat Sachsen angeschlossen hat. Dafür möchte ich Ihnen, verehrter Herr Ministerpräsident, an dieser Stelle nochmals meinen Dank aussprechen. Wir haben uns sehr darüber gefreut, dass der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, am vergangenen Donnerstag im Abgeordnetenhaus offiziell erklärt hat, dass im Februar mit dem Bau des Denkmals begonnen werden soll und es bis September fertig gestellt sein wird.

Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang noch einige Anmerkungen zur aktuellen geschichtspolitischen Diskussion. Die notwendige Auseinandersetzung mit dem Unrecht der SED-Diktatur darf nicht dazu führen, dass die historische Einmaligkeit des Holocaust an den Sinti und Roma sowie an den Juden relativiert wird. Formulierungen wie jene von den "beiden deutschen Diktaturen" verwischen die fundamentalen Unterschiede zwischen dem Vernichtungskrieg im nationalsozialistischen besetzten Europa, der im deutschen Namen begangen wurde und dem Millionen unschuldiger Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fielen, und dem Unrecht der SED-Diktatur nach 1945.

Bundespräsident Roman Herzog sprach mit Blick auf den Völkermord an unserer Minderheit von einer "Barbarei unvorstellbaren Ausmaßes". Auschwitz, das Symbol der industriellen Vernichtung von Menschen nur aufgrund ihrer biologischen Existenz, markiert einen Zivilisationsbruch, der sich allen historischen Vergleichen entzieht. Die Verantwortung, die unserem Land aus der historischen Erfahrung des Holocaust erwächst, ist fundamentaler Bestandteil unserer politischen Kultur und unseres nationalen Selbstverständnisses. Wenn Rechtsextremisten dieses Verbrechen zu nivellieren oder zu leugnen suchen, verleugnen sie einen Teil unseres historischen Erbes, dem wir uns als Deutsche auch künftig nicht werden entziehen können. Wer Geschichte verzerrt oder zurechtlügt, der tut seinem Vaterland keinen guten Dienst.

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Ich habe dreizehn meiner Angehörigen in den national-sozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern verloren, darunter meinen Großvater und meine Großmutter. Viele Sinti aus der Generation meiner Großeltern waren deutsche Patrioten, sie trugen voller Stolz ihre Auszeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg. Ebenso wenig wie die deutschen Juden bewahrte sie dies davor, von selbst ernannten Herrenmenschen entrechtet, gettoisiert und schließlich in eigens errichteten Todesfabriken deportiert zu werden. Sinti und Roma sowie Juden wurde vom NS-Staat nur aufgrund ihrer Abstammung in ihrer Gesamtheit das bloße Menschsein abgesprochen. An ihrer systematischen Ermordung war nahezu der gesamte Staatsapparat beteiligt, ebenso die wissenschaftlichen Eliten des damaligen Dritten Reiches. An dieses beispiellose Verbrechen zu erinnern hat nichts mit dem Beharren auf einer spezifisch deutschen Schuld zu tun. Vielmehr geht es um unsere gemeinsame Verpflichtung, diesen Abgrund von Unmenschlichkeit niemals wieder zuzulassen. Es ist gerade diese historisch begründete Verantwortung, die einen elementaren Bestandteil unserer nationalen Identität ausmacht. Wir haben allen Grund, auf die Errungenschaften unserer Demokratie und unserer Zivilgesellschaft stolz zu sein und diese Werte selbstbewusst zu verteidigen. Dies gilt nicht zuletzt für die friedliche Revolution von 1989, mit der die Bürger der DDR ihr Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung erkämpft haben.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang noch einige Anmerkungen zur Erinnerungspolitik im Freistaat Sachsen. Ich bedauere es zutiefst, dass das vorliegende Stiftungsgesetz trotz langjähriger intensiver Bemühungen unseren Leitprinzipien für eine würdige Gedenkstättenarbeit nicht im dem Maße gerecht geworden ist, dass unserem Dokumentationszentrum eine Mitwirkung in der Stiftung möglich wäre. In einer gemeinsamen mit dem Zentralrat der Juden und anderen NS-Opferverbänden abgegebenen Erklärung haben wir noch einmal deutlich gemacht, dass Voraussetzung für diese Mitwirkung wäre, jeder Form der Gleichsetzung der nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschheit mit der Unterdrückung und Verfolgung in der sowjetisch besetzen Zone bzw. in der DDR entschieden entgegen zu treten. Vor allem muss es eine klare Trennlinie geben zwischen der persönlichen Verstrickung in NS-Verbrechen und den wirklichen Opfern stalinistischen Unrechts. Eine solche strikte Unterscheidung ist in der Vergangenheit auch in Sachsen nicht immer eingehalten worden. Diese erinnerungspolitischen Defizite sind angesichts der Gefahren des organisierten Rechtsextremismus das falsche politische Signal.

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Wir erleben seit Beginn der 90er Jahre eine dramatische Zunahme rechter Gewalt. Menschen wurden durch die Strassen deutscher Städte gejagt und brutal misshandelt oder gar erschlagen, Brandanschläge wurden auf Synagogen verübt, jüdische Friedhöfe und Gedenkstätten geschändet.

Bis heute reißt diese Kette rechtsradikaler Gewalttaten, die sich auch gegen Angehörige unserer Minderheit richtet, nicht ab. Zweifellos sind die Versäumnisse der Politik mit verantwortlich für diese fatale Entwicklung. Jahrelang wurde die Proklamierung von so genannten ausländerfreien Zonen, die systematische Einschüchterung oder Misshandlung von Menschen mitten in der Öffentlichkeit von den verantwortlichen staatlichen Stellen vielfach verharmlost oder einfach ignoriert. Unser besonderes Augenmerk muss der schleichenden, jenseits öffentlicher Wahrnehmung erfolgenden Aushöhlung unserer demokratischen Kultur durch Rechtsradikale, Neonazis und deren intellektuellen Vordenker gelten, die es sich zum Ziel gesetzt haben, den Staatsapparat gezielt zu unterwandern und schrittweise öffentliche Positionen zu besetzten. Mit der nahezu unkontrollierten Ausbreitung rassistischen Gedankenguts über das Internet ist zudem eine völlig neue Form der Bedrohung gerade der jungen Generation entstanden. Vor allem im Osten Deutschlands ist die Jugendkultur in weiten Teilen von der neonazistischen Ideologie geprägt.

Diesen besorgniserregenden Entwicklungen einen breiten gesellschaftlichen Widerstand entgegenzusetzen, bleibt eine der großen Herausforderungen für die Zukunft. Einfache Antworten auf das Problem der rechten Gewalt und des ihr zugrunde liegenden rassistischen Menschenbilds, das tief in die Mitte unserer Gesellschaft reicht, kann es nicht geben. Vielmehr geht es darum, langfristige Lösungen zu entwickeln. Zunächst ist es notwendig, die bestehenden Gesetze mit voller Härte gegen rechte Gewalttäter anzuwenden.

Darüber hinaus fordert der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma bereits seit vielen Jahren ein Gesetz gegen Gewalttaten mit einem eindeutig rassistischen Hintergrund. Um Angriffe auf Menschen anderer Hautfarbe und Minderheitenzugehörigkeit wirksam zu verhindern, muss im Strafgesetzbuch der besondere Tatbestand der "rassistisch motivierten Gewalttätigkeit durch Einzelne und Gruppen" berücksichtigt werden. Vor allem jedoch ist es wichtig, die sich herausbildenden lokalen Netzwerke, die sich gegen den dumpfen Rassismus von Rechts engagieren, auch staatlicherseits zu unterstützen. Die schwierige Lage der öffentlichen Kassen darf nicht dazu führen, dass dieser fundamentalen gesellschaftspolitischen Aufgabe die materielle Grundlage entzogen wird.

Bei der Entwicklung langfristiger Strategien gegen die rechte Bedrohung spielt historische Aufklärung eine Schlüsselrolle. Das Erinnern an die nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen muss zentraler Bestandteil schulischer wie außerschulischer Bildungsarbeit sein. Gedenken an die Opfer des Holocaust bedeutet immer auch, gegenüber heutigen Formen von Diskriminierung sensibel zu sein.

Wir müssen jungen Menschen vermitteln und vorleben, dass Demokratie und Menschlichkeit nicht selbstverständlich sind, sondern Menschen bedarf, die engagiert für diese Werte eintreten. In einer Zeit, in der ökonomische Gesichtspunkte und Zwänge immer mehr Lebensbereiche durchdringen, ist es umso wichtiger, grundlegende Werte der Mitmenschlichkeit glaubhaft zu vermitteln. Ob dies gelingt, ist möglicherweise von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung unseres Gemeinwesens.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

→ Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma


Andreas Jordan, Mai 2008

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