Die Novemberpogrome vom 9. auf den 10. November 1938 waren eine vom nationalsozialistischen Regime organisierte und gelenkte Zerstörung von Leben, Eigentum und Einrichtungen jüdischer Menschen im gesamten "Deutschen Reich". Dabei wurden hunderte Menschen ermordet oder in den Tod getrieben. Ab dem 10. November wurden ungefähr 30.000 Juden in Konzentrationslagern inhaftiert, wo nochmals Hunderte ermordet wurden oder an den Haftfolgen starben. Fast alle Synagogen und viele jüdische Friedhöfe in Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei wurden zerstört.
Herman Neudorf: Meine Gedanken zum 70. Jahrestag der "Reichskristallnacht"
Der in Gelsenkirchen-Horst geborene Herman Neudorf hat den Holocaust überlebt. Herman Neudorf, der heute in den USA lebt, hat mir seine Gedanken zum 70. Jahrestag übermittelt. Die Botschaft in Hermans Zeilen richtet sich an uns alle:
"Viele Jahre sind vergangen seit meiner Befreiung aus der Hölle der Lager. Ich kann jedoch immer noch nicht fassen, wie ein scheinbar so kulturelles Volk in die Hände eines Fanatikers fallen konnte und von dem unzählige Mörder entsprangen. Die "Kristallnacht" war das Ergebnis eines Rassenhasses, der einst friedliche Nachbarn in wilde Tiere verwandelte. Mögen wir alle hoffen und wachsam sein, dass solche Untaten nie mehr geschehen...Vergeben muss man, aber vergessen ist unmöglich!
Herman Neudorf, im Oktober 2008
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70 Jahre danach - Die Pogrome vom 9. November 1938An diesem Tag vor 70 Jahren begann mit der so genannten "Reichskristallnacht" die von den Nationalsozialisten als "spontaner Ausbruch der kochenden Volksseele" deklarierten Pogrome gegen die Juden. Jeder in der Öffentlichkeit wusste, dass nicht die "kochende Volksseele", nicht "der spontane Volkszorn", wie es die staatlich gelenkte Presse schrieb, für die Pogrome verantwortlich war, sondern Hitler und seine Schergen. In dieser Nacht zerstörten die Nationalsozialisten überall in Deutschland jüdische Geschäfte, Wohnungen und Friedhöfe und setzten die Synagogen in Brand.
Bild: Brennende Synagoge in Gelsenkirchen, Gildenstraße
Auch die Synagoge in Gelsenkirchen brannte damals bis auf die Grundmauern nieder. Die Pogrome markierten den Übergang von der Diskriminierung und Ausgrenzung der deutschen Juden zur systematischen Verfolgung, die knapp drei Jahre nach der Pogromnacht in den Holocaust an den europäischen Juden im Machtbereich der Nationalsozialisten mündete.
Der 9. November 2004 war ein besonderer Tag für die jüdische Gemeinde in unserer Stadt. An diesem Tag legte Dr. Paul Spiegel, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, den Grundstein für die neue Synagoge in Gelsenkirchen. In nur einem Jahr Bauzeit wurde die neue Synagoge fertiggestellt und am 1. Februar 2007 feierlich eröffnet.
Das neue Zentrum der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen ist an der Stelle entstanden, an der sich auch die von den Nationalsozialisten zerstörte alte Synagoge befand. Entstanden auf dem Platz, wo vor 70 Jahren die Synagoge niederbrannte, hat das jüdische Gemeindezentrum nicht nur städtebaulich, sondern auch gesellschaftlich in den Kern der Stadt zurückgefunden. Heute zählt die jüdische Gemeinde Gelsenkirchen rund 600 Mitglieder. An der Einweihung der neuen Synagoge nahm auch Ilan Mor, der Gesandte des Staates Israel in Deutschland, teil. Er wünsche sich, dass mit der neuen Synagoge die jüdische Identität bewahrt, praktiziert und gestärkt wird, so Ilan Mor. Mit dem neuen Gemeindezentrum möge ein "Ort der Begegnung entstehen, der auch dem Austausch über die jüdische Religion und Kultur dient, das Gemeindeleben stärkt und nicht jüdische Besucher aus Ihrer Stadt, der Region und darüber hinaus, ansprechen und anziehen wird", betonte Mor. Dieser Wunsch von Ilan Mor hat sich bereits zum Teil erfüllt.
Die Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der Pogromnacht am 9. November 2008 beginnt am Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus im Stadtgarten mit der Verlesung der Worte von Herman Neudorf zum Jahrestag der Pogrome. OB Baranowski ist der Bitte des gemeinnützigen Vereins Gelsenzentrum nachgekommen und wird die Gedanken Herman Neudorfs verlesen. Anschließend ist ein Schweigezug durch die Gelsenkirchener Innenstadt zur neuen Synagoge geplant.
Im Innenhof der neuen Synagoge hält der Oberbürgermeister der Stadt Gelsenkirchen eine Gedenkrede, anschließend werden Gedenktafeln für die Gelsenkirchener Deportationsopfer enthüllt. Finanziert wurden die Gedenktafeln durch den Förderverein Neue Synagoge. Rabbiner Chaim Kornblum wird ein Kaddish (Gebet der Trauernden) sprechen. Männliche Besucher der Veranstaltung werden gebeten, während des Gebetes eine Kopfbedeckung zu tragen.
Andreas Jordan, November 2008
Rede des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. h.c. Paul Spiegel
anläßlich der Grundsteinlegung für die neue Synagoge am 09. November 2004 in Gelsenkirchen:
Die gerade skizzierten Empfindungen werden von vielen Nichtjuden geteilt: Die Mehrheit der nichtjüdischen deutschen Bevölkerung empfindet den Bau neuer Synagogen und die damit verbundene Wiederbelebung jüdischen Lebens als erfreulich oder doch zumindest positiv. Die in den vergangenen Jahren immer häufiger stattfindenden Grundsteinlegungen für jüdische Gotteshäuser werden mit einer gewissen Erleichterung wahrgenommen oder auch als Trost empfunden angesichts der während des Zweiten Weltkriegs von Deutschen begangenen Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung. Insgesamt gelten die neuen Synagogen als Symbole der Hoffnung für eine bessere gemeinsame Zukunft. Diese Empfindungen teilt die Mehrheit, keinesfalls jedoch die Gesamtheit der Bevölkerung.
Rund vierzehn Prozent der Nichtjuden in Deutschland tragen antisemitische Vorurteile mit sich herum und viele von ihnen zählen zum extrem rechten Wählerspektrum. Ein leider nicht kleiner werdender harter Kern dieser Personengruppe ist gewaltbereit und macht in Worten und Taten keinen Hehl aus ihrem Hass gegen Juden und andere Minderheiten. Die Grundsteinlegung für eine Synagoge ist für diese Menschen eine Provokation. Ein beängstigender Beweis für die Richtigkeit dieser Feststellung war genau vor einem Jahr die Bombendrohung anlässlich der Grundsteinlegung für das jüdische Zentrum Jakobplatz in München. Dank der Arbeit der deutschen Sicherheitsbehörden konnte der geplante Terroranschlag verhindert werden. Inzwischen sind die Drahtzieher ermittelt und stehen in diesen Wochen vor Gericht. Der Prozess offenbart, dass allem Anschein nach zwar kein bundesweit operierendes rechtsradikales Terrornetz existiert, einzelne regionale Gruppen jedoch brandgefährlich und in ihrer Gewaltbereitschaft zum Teil entschlossen sind, bis zum Äußersten zu gehen. Einmal mehr zeigt sich zudem, wie hoch der Organisationsgrad an der Basis ist. Sympathisierende Jugendliche werden eingegliedert in eine Art rechtsextremes Sektenleben und mit Drohungen oder Gewalt bei der Stange gehalten. Strukturen, die besonders in Ostdeutschland, aber, wie der Münchner Prozess zeigt, auch im Westen anzutreffen sind. Der Anteil von zwanzig Prozent Erstwählern am Wahlergebnis der NPD in Sachsen spiegelt das Ausmaß an Einfluss der rechten Rattenfänger auf die Jugendszene wider. Eine verhängnisvolle Entwicklung, die in ihrem ganzen Ausmaß nur ungenügend registriert und bekämpft wird. Der entsetzte Aufschrei am Wahlabend über den Einzug von Vertretern rechtsradikaler Parteien in die Landesparlamente von Sachsen und Brandenburg ist längst verhallt. Inzwischen haben sich die Landtage konstituiert und die übrigen Fraktionen haben sich über Strategien im parlamentarischen Umgang mit den Rechten verständigt – nun wird wieder der Alltag einziehen.
Dabei besteht dringender Handlungsbedarf. Auch mit Blick auf die nächste Bundestagswahl. Eine rechtsradikale Fraktion im Deutschen Bundestag wäre für die hier lebenden Minderheiten ein ebenso verheerendes Signal wie für das Ausland. Politik und Gesellschaft sind deshalb gefordert, möglichst viele gefährdete Jugendliche und junge Erwachsene von ihrem Irrweg abzubringen. Die aktuellen Wahlergebnisse und das Erstarken der NPD bereiten uns Sorge, erschüttern jedoch nicht unser prinzipielles Vertrauen in die demokratische, rechtstaatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland.
Diese Feststellung aus dem Munde eines Juden, dessen Familie unmittelbar vom Holocaust betroffen war, verdeutlicht die gewaltige politische und gesellschaftliche Entwicklung, die in diesem Land in den vergangenen sechs Jahrzehnten vonstatten gegangen ist. Gewaltig ist die treffende Charakterisierung für diesen Prozess angesichts der Tatsache, dass in Deutschland ab 1933 zwölf Jahre hindurch ein Zustand der Rechtlosigkeit vorherrschend war. Es existierte eine staatliche Ordnung, die in ihrer Brutalität, ihrer Menschenverachtung, ihrer rechtlichen Willkür und der Konsequenz ihres verbrecherischen Handelns einzigartig war. Der Novemberpogrom 1938 mutet vor diesem Hintergrund wie ein perverser, barbarischer "Testlauf" an: Die Nazi-Führung stellte die nichtjüdische Bevölkerung gleichsam auf die Probe, wie brutal in der Verfolgung der Juden vorgegangen werden kann, ohne Widerstand zu provozieren. Nach Auswertung der nächtlichen Gewaltorgie konnten sich die Strategen der Vernichtung in ihren Plänen gestärkt fühlen. Die übergroße Mehrheit der Nichtjuden hatte in dieser Nacht bei Plünderungen, Gewaltverbrechen und Verhaftungen verschämt weggeschaut, gegafft, teilweise sogar applaudiert oder, wie in der Gelsenkirchener Gildestraße, die Zerstörung der Synagogen und jüdischen Einrichtungen schweigend hingenommen.
Goebbels und Konsorten konnte nicht einmal der Vorwurf gemacht werden, nicht mit offenen Karten gespielt zu haben. Schließlich hatten sie in den vorangegangenen fünf langen Jahren immer stärker, immer hasserfüllter, immer reißerischer und polemischer den Weg in den Abgrund skizziert. Kein Artikel und keine Ansprache waren zweideutig, hintersinnig oder etwa nur für Eingeweihte verständlich gewesen. Die schlichten Worte, raffinierten Verleumdungen und vermeintlich schlüssigen Argumentationsketten zielten auf die Massen ab und erreichten sie. Durch die Gleichschaltung der Medien war zudem die flächendeckende Verbreitung der teuflisch-genialen Polemik sichergestellt worden. Das schon zu dieser Zeit von Goebbels beschworene Ziel eines "judenreinen Reichs" mag für den Einzelnen nicht erkennbar gleichbedeutend gewesen sein mit dem, was wenig später in den Todesfabriken von Auschwitz, Majdanek und Treblinka stattfand. Doch war nicht alles, was bis Mitte November 1938 geschehen war, schon schrecklich und menschenverachtend genug?
Diese Frage wird für alle Zeit ebenso unbeantwortet bleiben wie die Frage nach der Seele, den Gefühlen und dem Gewissen der Täter und Millionen Mitläufer. Für die Millionen Toten, die Überlebenden und Nachgeborenen bleibt nur die Hoffnung auf eine höhere Gerechtigkeit.
Am 9. November 2004 und wenige Monate vor dem 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz legen wir hier in Gelsenkirchen gemeinsam den Grundstein für eine neue Synagoge und demonstrieren damit, dass ein Neuanfang auf deutschem Boden möglich ist. Ein Neuanfang, den die hiesige jüdische Gemeinde, das darf an diesem Tag nicht übergangen werden, nicht allein aus eigener Kraft hätte verwirklichen können. Erst der Zuzug von Jüdinnen und Juden aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion hat diese Wiederbelebung jüdischen Lebens ermöglicht.
Es zählt zu den seit Jahrhunderten zu beobachtenden grauenvollen, ja zynischen Auswüchsen des Antisemitismus, dass Flucht und Vertreibung von Juden eine Renaissance jüdischen Lebens an anderen Orten zur Folge hat. Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland erlebt diese Wiederbelebung nicht ausschließlich, aber im Wesentlichen aufgrund des nach wie vor antisemitischen Klimas in vielen Staaten Osteuropas. Ich möchte deshalb den heutigen Anlass auch nutzen, um die neu zugewanderten Gemeindemitglieder hier in Gelsenkirchen wie an anderen Orten Deutschlands einmal mehr willkommen zu heißen. Viele von ihnen haben gezwungenermaßen Ihre angestammte Heimat verlassen und Sie alle hoffen auf eine bessere Zukunft in Deutschland. Die hiesige jüdische Gemeinschaft, vertreten durch den Zentralrat, wird alles in ihren Kräften stehende tun, um Ihnen auf diesem schwierigen Weg zur Seite zu stehen.
Der Bau einer neuen Synagoge wurde notwendig, weil die Gelsenkirchener Gemeinde erfreulicherweise inzwischen rund 600 Mitglieder umfasst. Das Leben lehrt uns, dass nicht alles, was notwendig wäre, realisiert werden kann. Auch dieses Projekt bliebe ein schöner Traum ohne die großzügige Unterstützung des Landes Nordrhein-Westfalen und der Stadt Gelsenkirchen. Den Verantwortlichen an den "Geldquellen" sei auf diesem Wege ausdrücklich auch für die sonstige umfangreiche Hilfe gedankt.
Dank und Anerkennung möchte ich zudem allen Spendern und Gemeindemitgliedern aussprechen, die mit ihren Gaben ebenfalls mithelfen, die Gildestraße wieder zu einem Treffpunkt von Juden und Nichtjuden werden zu lassen. Sie alle tragen zur Vollendung eines Gebäudes bei, das hoffentlich für immer ein Ort des Glaubens und des nachbarschaftlichen, freundschaftlichen Miteinanders im Gelsenkirchener Stadtleben sein wird. Ich danke Ihnen. Dr. h.c. Paul Spiegel, 9. November 2004 in Gelsenkirchen.
Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938
Hitler hatte von Rath sofort nach dem Attentat um drei Klassen zum Botschaftssekretär I. Klasse befördert. Beim jährlichen Kameradschaftsabend zum Gedenken des Hitler-Ludendorff-Putsches vom 9. November 1923 im Alten Rathaus in München erfuhr er gegen 21:00 Uhr vom Tod des Diplomaten. Sofort besprach er sich beim Essen mit Reichspropagandaminister Joseph Goebbels. Dann verließ er die Versammlung, fuhr in seine Privatwohnung und hielt sich in den folgenden Tagen nach außen hin zurück. Gegen 22:00 Uhr hielt Goebbels vor den versammelten SA-Führern eine antisemitische Hetzrede, in der er "die Juden" für den Tod vom Raths verantwortlich machte. Er lobte die angeblich "spontanen" judenfeindlichen Aktionen im ganzen Reich, bei denen auch Synagogen in Brand gesetzt worden seien, und verwies dazu auf Kurhessen und Magdeburg-Anhalt. Er machte deutlich, dass die Partei nicht als Organisator antijüdischer Aktionen in Erscheinung treten wolle, aber diese dort, wo sie entstünden, auch nicht behindern werde. Die anwesenden Gauleiter und SA-Führer verstanden dies als indirekte, aber unmissverständliche Aufforderung zum organisierten Handeln gegen jüdische Häuser, Läden und Synagogen. Nach Goebbels' Rede telefonierten sie gegen 22:30 Uhr mit ihren örtlichen Dienststellen. Danach versammelten sie sich im Hotel "Rheinischer Hof", um von dort aus weitere Anweisungen für Aktionen durchzugeben. Goebbels selbst ließ nach Abschluss der Gedenkfeier nachts Telegramme von seinem Ministerium aus an untergeordnete Behörden, Gauleiter und Gestapostellen im Reich aussenden. Diese wiederum gaben entsprechende Befehle an die Mannschaften weiter, in denen es etwa hieß (SA-Stelle "Nordsee"):
"Sämtliche jüdische Geschäfte sind sofort von SA-Männern in Uniform zu zerstören. Nach der Zerstörung hat eine SA-Wache aufzuziehen, die dafür zu sorgen hat, dass keinerlei Wertgegenstände entwendet werden können. (...) Die Presse ist heranzuziehen. Jüdische Synagogen sind sofort in Brand zu stecken, jüdische Symbole sind sicherzustellen. Die Feuerwehr darf nicht eingreifen. Es sind nur Wohnhäuser arischer Deutscher zu schützen, allerdings müssen die Juden raus, da Arier in den nächsten Tagen dort einziehen werden. (...) Der Führer wünscht, dass die Polizei nicht eingreift. Sämtliche Juden sind zu entwaffnen. Bei Widerstand sofort über den Haufen schießen. An den zerstörten jüdischen Geschäften, Synagogen usw. sind Schilder anzubringen, mit etwa folgendem Text: "Rache für Mord an von Rath. Tod dem internationalen Judentum. Keine Verständigung mit Völkern, die judenhörig sind. Dies kann auch erweitert werden auf die Freimaurerei."
Hintergrundgrafik: Alte Synagoge in Gelsenkirchen, Gildenstraße
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