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Pietro Farina aus Italien

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Pietro Farina - Zwangsarbeitender in Gelsenkirchen

Pietro

Abb.: Pietro "Pierino" Farina

Pietro Farina wurde am 20. November 1923 in Cremona/Italien als ältestes Kind von Giovanni Farina und Rosa Ghizzoni geboren. Es folgten die Geschwister Sergio (1925), Luigina Speranza (1929), Anna Maria (1935) und schließlich Liliana, die im Jahr 1945 geboren ist und deswegen Pierina genannt wurde.

Pietro, von Freunden und der Familie zumeist "Pierino" genannt, lebte in Spinadesco, wo seine Eltern lebten und arbeiteten, aber auch zeitweilig in Cremona bei seinen Großeltern. In Cremona lernte Pietro Geige spielen und ging zur Berufsschule "Ala Ponzone". Er lernte Elektriker, spezialisiert auf Radiotechnik. Nach dem Diplom sandte er sein Lebenslauf an "EIAR" in Turin (Anm. d. Verf.: Das "Ente Italiano per le Audizioni Radiofoniche" war der öffentlich-rechtliche Rundfunkveranstalter im faschistischen Italien und das einzige Unternehmen, das von der Regierung ausgestrahlt werden durfte; nach 1945 "Rai"). Pietro Farina arbeitete für eine Weile in Turin und in Mailand, bis er im Jahr 1942 zur Armee einberufen wird. 1942 gerät er in deutsche Gefangenschaft. Ab Dezember 1944 erhielt seine Familie dann keine Briefe mehr, Pietro galt als vermisst. Es ist davon auszugehen, das Pietro Farinas Gesundheitszustand sich ab dieser Zeit kontinuierlich verschlechterte - auch wegen unzureichender medizinischer Versorgung.

Pietro Farina, kurze Zeit später gerät er in deutsche Gefangenschaft

Abb.: Soldat Pietro Farina, kurze Zeit später gerät er in deutsche Gefangenschaft

Pietro Farina wurde am 9. September 1943 in Jugoslawien von deutschen Truppen gefangengenommen. Als so genannter "Italienischer Militärinternierter" (IMI) wurde auch Pietro Farina wie viele tausend andere Italiener zur Ableistung von Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Zunächst wird er im Mannschafts-Stammlager VI A Hemer bei Iserlohn unter der Gefangenen-Nr. 89056 interniert.

Völkischer Beobachter, Ausgabe vom 9. September 1943

Abb.: Völkischer Beobachter (VB), Ausgabe vom 9. Sep- tember 1943. Der VB war das publizistische Parteiorgan der NSDAP, in scharfer Abgrenzung zu bürgerlichen Zeitungen bezeichnete sich der VB als "Kampfblatt" und war program- matisch mehr an Agitation als an Information interessiert.

Die so genannten "Italienischen Militär- internierten (IMI)", die ab Herbst 1943 (nach Abschluss des Waffenstillstandes zwischen Italien und den Alliierten) u.a. über das Stammlager Stalag VI A in Hemer auch auf Arbeitskommandos bei den Gelsenkirchener Betrieben der Rüstungsindustrie und des Ruhrbergbaus verteilt wurden, waren durch eine erbarmungslose Ausbeutung ihrer Arbeitskraft, Nahrungsmittelentzug und fehlende medizinische Betreuung teilweise sogar schlechter gestellt als die sowjetischen Kriegsgefangenen. Auf der politisch-rassistisch Diskriminierungsskala der Nationalsozialisten waren die ehemaligen Verbündeten nun plötzlich ganz weit unten angesiedelt; die deutsche Bevölkerung beschimpfte sie als "Verräter" und "Badoglios", die abwertende Bezeichnung "Itaker" hat sich bis heute gehalten.

Kriegsgefangenenpost, Pietro Farina teilt seinen Eltern die Postanschrift des Lagers mit

Abb.: Kriegsgefangenenpost, Pietro Farina teilt seinen El- tern die Postanschrift des Internierungslagers mit.

"Wie meisten seiner Kameraden litt auch Pietro Farina während seiner Gefangenschaft in Deutschland an Hunger, Kälte und Demütigung. Er verlor jedoch nicht die Hoffnung, eines Tages nach Hause zurückehren zu können. Er glaubte fest daran, das auch sein persönliches Opfer der Freiheit und dem Frieden in Italien und Europa diene. Sein Glaube an Gott, das Gebet und der Mut, den er im Briefwechsel mit seiner Familie fand, gaben ihm Kraft zum Leben. Ein Kamerad, der aus einem Dorf nicht weit von Spinadesco kam, sah vor seiner Rückkehr nach Italien Pietro Farina ein letztes Mal im Krankenhaus in Buer. Diesen Kameraden bat Pietro kurz vor seinem Tod noch um einige Buntstifte, um zeichnen zu können. Er zeichnete damit sein Heim, das Haus und seine Familie - und den Himmel darüber, denn er glaubte fest daran, in den Himmel zu kommen", schreibt uns seine Nichte Maria Rita Merati.

Pietro Farina schickt eine Postkarte in die Heimat, Datum 11. Juni 1944


Pietro Farina schickt eine Postkarte in die Heimat, Datum 11. Juni 1944

In NS-Deutschland bestanden 17 Wehrkreise, die mit römischen Ziffern bezeichnet waren. Die Stammlager (Stalag) trugen die Ziffer ihres Wehrkreises und in der Reihenfolge ihrer Aufstellung einen Großbuchstaben. Im Wehrkreis VI (Münster) bestanden die Lager VI A Hemer, VI B Neu Versen (bei Meppen), VI C Bathorn (in der Grafschaft Bentheim), VI D Dortmund (Westfalenhalle), VI F Bocholt, VI G Bonn (Duisdorf), VI H Arnoldsweiler (im Kreis Düren), VI J Fichtenhain (bei Krefeld) und VI K Senne (bei Paderborn). Grundsätzliche Regelungen über Aufbau, Organisation und Funktion der Gefangenen- lager regelte das Oberkommando der Wehrmacht in speziellen Dienstvorschriften.

In einem Brief vom 18. Juni 1944 Brief schreibt Farina nach Hause, wie eintönig das Leben tagtäglich für ihn sei: "Arbeit-Holzhütte, Holzhütte-Arbeit". Einzelheiten kann er nicht mitteilen, die Briefe werden zensiert. Er hoffe sehr, bald wieder nach Hause zu kommen. Mit der "Statusänderung" vom "Italienischen Militärinternierten (IMI)" im Sommer 1944 zum "Zivilarbeiter" versprach sich Pietro Farina Besserung der Verhältnisse, in denen er leben musste. Am 11. September 1944 schrieb er an seine Eltern, das er sich "freier" fühle, da vor seinem Fenster nun keine Eisenstangen mehr seien. Letztlich änderte sich für die gefangenen Italiener nichts, sie blieben dennoch und gezwungenermaßen "dienstverpflichtete Arbeiter bei der Wehrmacht". Ihre weitere "Behandlung" übernahmen die Arbeitsämter und die Gestapo. Für die einzelnen Menschen in den Betrieben war das ganze letztlich nur ein Etikettenschwindel, sie lebten zwar als Zwangsarbeiter teilweise auch außerhalb der Lager, waren aber Gefangene in Deutschland. Für die Männer wie Pietro Farina, die in den Internierungslagern verblieben, änderte sich praktisch nichts. (Anm. d. Verf.: Die Bundesregierung erklärte den o. g. Statuswechsel 2001 für völkerrechtlich unwirksam. So gelten die überlebenden italienischen Zwangsinternierten weiterhin als Kriegsgefangene und blieben, wie alle Kriegsgefangenen, von einer Entschädigung ausgeschlossen.)

Kriegsgefangenenpost, Pietro Farina schreibt im Oktober 1944 an seine Familie, Orginalbrief in italienischer Sprache

Abb.: Brief Pietro Farina vom 5. Oktober 1944, zu diesem Zeitpunkt muss Pietro im "Arbeitskommando 213I, Koke- rei Hugo, Gelsenkirchen-Buer" Zwangsarbeit für die deut- sche Kriegsproduktion leisten. Orginalbrief (italienisch) als PDF: Abbildung anklicken!

Ab dem 5. Oktober 1944 wird Farina im "Arbeitskommando 213I, Kokerei Hugo" in Gelsenkirchen-Buer ausgebeutet. (Anm. d. Verf.: Der Großbuchstabe hinter der Nummer des Arbeitskommandos steht für die jeweilige Natio- nalität der Gefangenen).

Auf der Kokerei Hugo wurde Pietro Farina zumeist bei der Beseitung von Bombenschäden zu Instandsetzungsarbeiten an elektrischen Anlagen eingesetzt. Diese Arbeit in den Trümmern der zerbombten Anlagen war wesentlich schwerer und gefährlicher als die Arbeit zuvor.

In seinem Brief vom 21. Oktober 1944 berichtet er, das den Gefangenen nach langer Zeit an einem Samstag das Baden ermöglicht wurde - die Zwangsinternierten litten sehr unter der man- gelhaften Hygiene in den Lagern, und auch Pietro wollte nicht "stinken" - das Essen schlecht und noch immer unzureichend sei. Seinen letzten Brief schrieb er am 27. Dezember 1944. Wie Pietro Farina die letzten Monate seines jungen Lebens ver- brachte, konnte bisher nicht geklärt werden.

Pietro Farina sollte seine Heimat Italien niemals wiedersehen, er starb, körperlich geschwächt von den Folgen der erlittenen Gefangenschaft, am 22. Mai 1945 in Gelsenkirchen an Lungentuberkulose. Zunächst in Gelsenkirchen-Buer begraben, wurde sein Leichnam exhumiert und zum Hauptfriedhof in Frankfurt a. M. gebracht. Dank seiner noch vorhandenen Erkennungsmarke wurde der Leichnam auf Wunsch seiner Angehörigen schließlich 1958 in Pietro Farinas Heimatort Spinadesco, Provinz Cremona, Italien überführt und auf dem dortigen Friedhof, wo auch seine Eltern und Bruder Sergio ihre letzte Ruhestätte haben, würdig bestattet.

Pietro Farinas späte Heimkehr

Leichenpass Pietro Farina

Leichenpass Pietro Farina

Abb.: Die Sterbeurkunde hält fest: Der italienische Arbeiter Pietro Farina, wohnhaft in Gelsenkirchen-Buer im Ausländer- lager der Zeche Hugo II ist am 22. Mai 1945 um 6.45 Uhr in Gelsenkirchen-Buer im städtischen Hilfskrankenhaus ver- storben. Der Verstorbene war 21 Jahre alt, geboren in Spina- desko (Italien). Todesursache: Lungentuberkulose.

Abb.: Ausgestattet mit einem so genannten Leichenpass für den grenzüberschreitenden Transport, wurden Pietro Farinas sterbliche Überreste 1958 nach Italien überführt

Quelle: Informationen, Dokumente und Fotos: Maria Rita Merati, mit freundlicher Genehmigung.

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Andreas Jordan, April 2019

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