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Die letzten Kriegstage: Berlin 1945 - Essay von Friedrich Luft


Über die ganze Stadt in den letzten irren Tagen des Krieges war kein Bild zu gewinnen. Sogar der Weitblick des "größten Feldherrn aller Zeiten" reichte in den letzten Tagen des Aprils nicht weiter als vom Bunker seiner Reichskanzlei bis an den Tiergarten. Der Rauch der Brände, das spritzen der Einschläge, Wolken von geschleudertem Staub und Dreck verhängen den Blick. Über die Häuser jagten die gurgelnden Geschosse der Stalinorgeln. Tiefflieger hielten auf alles, was sich unvorsichtig an die Oberfläche wagte.

Die Welt war der eigene Keller, falls der noch hielt. Ohne Licht war diese Welt oder doch nur erleuchtet von den Resten einiger Kerzen. Das Wasser war versiegt. Man trank die rostige Flüssigkeit, die aus den geöffneten Tanks der Warmwasserheizung kam. Der letzte Koffer war unsere Heimat. Draußen war das Inferno. Lugte man hinaus, sah man einen hilflosen deutschen Tank sich durch die Glut der Häuserzeilen schieben, halten, schießen, beidrehen. Hin und wieder stolperte ein Zivilist , von Deckung zu Deckung stürzend, über den aufgeborstenen Fahrdamm. Eine Mutter jagte mit ihrem Kinderwagen aus einem ausgeschossenen brennenden Haus in die Richtung des nächsten Bunkers. Tieffliegerbrummen. Das sinnlose reißen der nahen Abschüsse. Eine Mutter schob ihr Kind durch den letzten Aufruhr des Krieges. Einschläge unweit von ihr, dass einem der Atem fortblieb. Und sie hatte - das rührende Bild bleibt haften - den weißen Kinderwagen mit ersten Frühlingsgrün gegen Flieger "getarnt", wie es im Buch des Krieges gestanden hatte. Sie jagte, von Granatsplittern umfegt, dem Bunker zu. Die bittere Lektion ging zu Ende.

Vorgestern noch war der Volltreffer einer Fliegerbombe auf den Luftschutzschacht unter dem eigenen Garten gegangen. Zwei Frauen, die, uns fremd, dort Schutz gesucht hatten, lagen zerquetscht unter den zementernen Trägern. Einen Hausgenossen hatten wir herausgraben können, dass Bein aufgerissen, von dem Schock für Tage gelähmt. Vorgestern hatte man gespenstischerweise noch mit Freunden in nahen Stadtgebieten telefoniert. Sie aßen schon russisches Brot. Ein Major war bei ihnen einquartiert. Sie hatten es überstanden. Hier aber, vor dem Zentrum der Stadt, ging die Hölle noch stündlich los. Ein Mann tauchte auf; er war aus einem Gefängnis entlassen und hatte sich hierher durchgeschlagen. Eine der beiden am Vortage zerquetschten Frauen war seine. Der Mann brach zusammen.

Und musste doch voll Vorsicht sein mit uns. Bis zuletzt gingen die Häscher der SS durch die Häuser und Keller. Bis zur letzten Minute konnte man gegenwärtigen, das man in das sinnlose Toben geworfen werden sollte oder den Genickschuss erhielt. An der nahen Weidendammbrücke hingen die Leichen derer zur Schau, die die hilflosen Waffen fortgelegt hatten. Der Mord ging um.

Das Gerücht ging um. Ahnten wir, dass vor den Treppen der Reichskanzlei-Bunkers, kaum tausend Meter von hier, der "Führer Großdeutschlands", der nun schon kaum mehr den Bezirk Berlin-Mitte beherrschte, sein kindisches Autodafe vorbereitete? Wer sagte uns, dass die norddeutsche Restregierung in Verhandlungen war? Uns war zuletzt mit dem Datum des 28. April das "Kampfblatt Berlins", "Der Panzerbär", zugereicht worden. Dort stand zu lesen, dass sich in Berlin die große Schlacht wenden würde. Und das ein Herr Generalmajor Bärenfänger die "Schwerter" erhalten habe. Er hielt wacker eine U-Bahn-Station. Herr Generalmajor sei in seinem Element und zuversichtlicher denn je.

Die Reste eines OKW-Büros wurden zeitweise in unsere Keller gespült, gehetzte, willenlose, kranke Kerle. Jeder schleppte neben dem Gewehr 98 einen Pappkarton mit sich. Zivilkleidung für den Ernstfall. Aber sie waren trotz unseres Zuredens zu feige, die rettende Konsequenz zu ziehen. Zwei grimmige Unteroffiziere wären mit ihnen. Es ginge nicht. So mussten sie gehen. Wir wollten sie nicht als Soldaten in unserer Nähe, wenn es aufs Letzte ging. Wir selber gaben das Gerücht aus: beim Zoo sei zum Sammeln befohlen. Der Ring sei bei Spandau durchbrochen. Sie rafften sich auf mit ihren Pappkartons. Einer warf Hundert-Mark-Scheine ins Feuer, bevor er ging. Es schien doch alles gleich. Ein anderer ließ einen Koffer voll Schokolade zurück. Sie hatten auch jetzt nicht die Courage zum Zivil. Man sah sie nicht wieder.

Am gleichen Tage fegte eine Granate genau vor das Kellerfenster. Ein alter, freundlicher Mann schrie auf, kreischte und starb. Sein Leib war mitten durch geschnitten. Tellerwäscher bei Aschinger war er gewesen, mit einem Hang zur großen Literatur. In Gefechtspausen hatte er uns Schiller rezitiert. Und wir hatten, aufatmend, gelacht zuweilen. Jetzt trugen wir seine Reste hinaus und machten ihm ein Grab. Die Splitter klirrten ans Haus, letzte Scheiben brachen. Jemand sprach ein Vaterunser in den Aufruhr. Dann ging es zurück in den Keller bis zum Abend.

Am Abend kam scheinbare Ruhe in die räucherige Welt. Der Artilleriebeschuss ließ nach. Von der Potsdamer Straße klang heftiges Schießen. Hier aber war es vergleichsweise still. Die Hausfrauen regten sich. Man ging in die Reste der Wohnungen. Man ging über die Straßen und Plätze, wenn auch an der Deckung der Häuser haftend. Vor den Läden formten sich Schlangen. Man stand an wie immer. Hier gab es noch Brot. Dort sollte Fleisch zu bekommen sein. Im nächsten Kolonialwarengeschäft aber wurde schon Behutsam geplündert. Ordnung und Aufruhr wohnten nah beieinander.

Drei Hinterhöfe weiter war ein Weingroßhändler angesiedelt. Er gab keinen Tropfen aus und bestand auf seinen Schein: die nächste Zuteilung sei erst in einem Vierteljahr fällig. Die Berliner zogen ab, überzeugt und von dem gestempelten Schein erschlagen. Bis ein Beherzter zur Axt griff und in eines der gewaltigen Fässer im Hofe schlug. Jetzt trugen sie den Tokaier in schmutzigen Eimern davon. Ein Pakgeschütz fuhr im Dämmern noch an der Straßenecke auf und durchlöcherte die unheimliche Stille mit seinem Abschuss. Und die Antwort kam deutlich von allen Seiten. Die Hölle war wieder losgelassen. Die Hast in die Keller setzte ein. Der Tokaier schwappte beim Rennen. Die Schlangen vor den Geschäften lösten sich auf. Ich sah, wie eine Frau neben mir zerrissen wurde. Ich warf mich zu ihr auf das Pflaster. Ihr konnte niemand mehr helfen. Gefallen beim Gang ums Brot. Eine Mutter war tot.

Man hockte wieder auf seinem Koffer im Keller, trank Tokaier aus den schmutzigen Eimern, nährte sich von den letzten Vorräten und lauschte hinaus, wie das näher kam, bellte, heulte und schwieg. Das Krachen der Abschüsse, unterbrochen von dem rechthaberischen Mähen der Maschinengewehre. Wozu?

Ein Nachbar kroch herein und wollte wissen, die Russen seien schon am Zoo. Bald sei die Qual zu Ende. Und wieder gurgelte eine Salve der Stalinorgel heran. Er sagte, es sei an der Zeit, die weißen Fahnen bereitzuhalten. Wir hielten sie lange bereit. Ein Flieger brummte mit alarmierender Gemächlichkeit über das Haus. Der Nachbar beschwor uns, weiße Armbinden anzulegen. Wir wussten. Wir winkten ab. Auf dem Kohlenhaufen lag der aus dem Gefängnis Entlassene und sprach mit fiebriger Stimme von seiner toten Frau. Die alte Schneiderin aus dem zweiten Stock hockte auf ihrem Luftschutzklappstuhl, sie betete laut und ununterbrochen. Der Hauswart machte sich gerade an den zweiten Eimer Tokaier. Er lallte schon. Am Boden war im Schein der Kerze die Blutlache des getroffenen Tellerwäschers zu sehen. Die Nacht wurde lang. Draußen tobte die schlacht, unwirklich, abstrus und wie in einer fremden Welt des Irrsinns. Man war überwach und betrachtete plötzlich alles mit einer Schärfe und Abgezogenheit, als stünde man neben sich selber. Dann nickte man ein.

Und erwachte von nahem Geschrei vor der Kellertür: Hier hätten welche auf einem platten Handwagen die Leiche des gefürchteten Blockwarts gebracht, des bis vorgestern volkssturmwütigen. Er habe sich aus dem Fenster gestürzt, sich selbst und seine Frau. Wohin mit der Leiche? Man solle sie in den Vorgarten werfen! Man tat es. Dort lag sie noch Tage. Wenn schon die kleinen braunen Beamten die Konsequenz zogen, dann konnte das Ende nicht fern sein. Mochte er im Vorgarten liegen und warten.

Man hockte im Keller und wartete. Ein Geruch aus Rauch, Blut, Schweiß und Fusel gemischt lag über allem. Einmal riefen sie uns heraus: In den Resten des Hauses gegenüber war ein groteskes Arsenal an Hakenkreuzflaggen und Hitlerbildern gefunden worden. Zwei ganze Räume voll. Würde der Unfug später angetroffen, wer weiß, ob man nicht uns haftbar machen würde. Die Besitzer der beiden Räume voller Gesinnung hatten schon vierzehn Tage zuvor die Stadt mit donnernden Limousinen westwärts verlassen. Wir steckten hastig die Fahnen in Brand. Und die Bilder splitterten auf.

Das Gewehrfeuer kam näher. Wir duckten uns in die Keller zurück. Beim Sprung in die Haustür sahen wir eine SS-Streife den Kopf über einen Mauerrest heben. Sie "kämmten noch durch", nach dem Gesetz, nach dem sie angetreten. Wir pressten uns neben die Tür. Jetzt pfiffen die Gewehrkugeln schon durch den Garten; bedrohlich kam das Simmsen der Querschläger bis zu uns herunter. Dann wurde es stiller. Als wir vorsichtig die schmale Treppe heraufstiegen nach einer Ewigkeit des lauschenden Wartens, regnete es sacht. Auf den Häusern jenseits des Nollendorfplatzes sahen wir weiße Fahnen glänzen. Wir banden uns weiße Fetzen um den Arm. Da stiegen schon zwei Russen über die gleiche niedrige Mauer, über die so bedrohlich vor kurzem erst die SS-Männer gekommen waren. Wir hoben die Arme. Wir zeigten auf unsere weißen Binden. Sie winkten ab, sie lächelten. Der Krieg war aus.

Friedrich Luft, geboren am 24. August 1911 in Friedenau bei Berlin, gestorben am 24. Dezember 1990 in Berlin. Er war einer der bedeutendsten Theaterkritiker Deutschlands.