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Wenn unsere katholische Kirche uns nicht in ihren Schutz nimmt

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Die katholischen Bischöfe und die Deportation der Sinti und Roma nach Auschwitz-Birkenau

Ein Aufsatz von Romani Rose

Während der Deportationen nach Auschwitz richteten verzweifelte Sinti Bittschreiben an die katholischen Bischöfe: Sie blieben unerhört. Bis heute bekennt sich die Katholische Kirche nicht zu ihrer historischen Verantwortung.

Am 6. Mai 1943 erreichte den Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz, Kardinal Bertram, ein verzweifeltes Bittgesuch von Angehörigen unserer Minderheit. Hintergrund waren die Deportationen deutscher Sinti- und Roma-Familien in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, die seit Anfang März im gesamten Reichsgebiet auf der Grundlage des Himmler-Erlasses vom 16. Dezember 1942 durchgeführt wurden.

Gleich zu Beginn des anonymen Schreibens heißt es: "Alle Zigeuner sowie Zigeunermischlinge werden in das Konzentrationslager Auschwitz/Oberschlesien gebracht. Ihr Hab und Gut sowie ihre ersparten Pfennige werden ihnen abgenommen." Ausdrücklich heben die Verfasser hervor, dass sich die Betroffenen "als Deutsche gefühlt und betätigt" hätten: "Im Weltkrieg 1914/18 haben die Zigeuner Leben und Blut geopfert. In ihren Reihen sind Träger hoher Tapferkeitsauszeichnungen." Das Gesuch endet mit den Worten: "Man geht systematisch dazu über unseren Stamm auszurotten ... Es kann nicht der Wille des Gesetzgebers sein, dass Frauen und Kinder in Konzentrationslager gesteckt werden. Ganze Familien nur wegen ihrer Zugehörigkeit zu einem Stamm dort sterben, ohne auch nur die leiseste Begründung irgend eines kriminellen oder staats-feindlichen Verbrechens in Händen zu haben. Aus all den angeführten Gründen erachten wir es als ein Gebot der Menschlichkeit, diese Vorgänge zur Kenntnis zu bringen und um Fürsprache und Prüfung zu bitten."

In einem weiteren, am gleichen Tag eingegangenen Bittschreiben an Bertram heißt es nochmals in aller Eindringlichkeit, dass ihn "alle Zigeuner Deutschlands" anflehen würden, im Namen der deutschen Bischöfe etwas zu unternehmen, "denn wenn unsere katholische Kirche uns nicht in ihren Schutz nimmt, so sind wir einer Maßnahme ausgesetzt, die moralisch wie auch rechtlich jeder Menschlichkeit Hohn spricht. Wir betonen hierbei, dass es hier nicht um einzelne Familien geht, sondern um 14 000 katholische Angehörige der römisch-katholischen Kirche, und an die folgedessen unsere katholische Kirche nicht achtlos vorübergehen kann."

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Eine nahezu wortgleiche "Bittschrift mit Tatsachenbericht" richteten die Sinti wenige Tage später an den Freiburger Erzbischof Conrad Gröber. Sie appellieren an dessen "bekannten Gerechtigkeitssinn" und betonen erneut den umfassenden Charakter der Verfolgungsmaßnahmen: Es handle sich um 14.000 gläubige Katholiken, "die fest auf die Fürsprache Ew. Eminenz rechnen".

Erzbischof Gröber leitete eine Abschrift sowohl Kardinal Bertram als auch Bischof Heinrich Wienken zu, der innerhalb der Bischofskonferenz als Unterhändler zu den staatlichen Stellen fungierte. Gröber hatte sich schon Anfang April 1943 an Wienken gewandt, um sich für eine "arbeitsame und friedliebende" Sinti-Familie aus Freiburg einzusetzen. Deren "Wegführung" – gemeint war die Deportation der Familie nach Auschwitz – habe, so Gröber, bei den Nachbarn "nicht geringe Aufregung und herzliches Bedauern erweckt".

In seinem Antwortschreiben teilte Wienken mit, dass er leider keine Möglichkeit sehe, "dass dieser Vorgang als Einzelfall durch die zentralen Stellen bearbeitet und eine Rückkehr der Familie" erwirkt werden könne. Spätestens im Mai 1943 musste den Verantwortlichen innerhalb der deutschen Bischofskonferenz jedoch klar sein, dass es sich mitnichten um "Einzelfälle" handelte, sondern um eine vom NS-Staat planmäßig organisierte Vernichtungspolitik, die sich gegen unsere Minderheit in ihrer Gesamtheit richtete. Dies belegen nicht nur die zitierten Bittschriften, sondern auch Vorgänge, die die katholische Amtskirche in ihrem Kern betrafen: nämlich die Deportation von Sinti- und Roma-Kindern aus katholischen Heimen bzw. Fürsorgeeinrichtungen. Die meisten Kinder waren dorthin eingewiesen worden, nachdem man ihre Eltern in Konzentrationslager verschleppt hatte.

Nach dem Willen der nationalsozialistischen Machthaber wurden jedoch auch diese in ihren Augen "fremdrassigen" Heimkinder zentral erfasst und im Frühjahr 1943 zur Vernichtung nach Auschwitz deportiert. Den Bischöfen blieb der Abtransport der Sinti- und Roma- Kinder aus ihren Diözesen nicht verborgen. Am 6. März 1943 schrieb der Hildesheimer Bischof Joseph Godehard Machens an Kardinal Bertram:

"In den letzten Tagen sind an vier Stellen meiner Diözese – es können mehr sein – katholische Zigeunerkinder aus Heimen und Pflegestellen abgeholt worden durch die Polizei. Man befürchtet, dass ihr Leben in Gefahr ist ... Ich frage mich seit Tagen beklommenen Herzens, was kann geschehen, um unsere Glaubensbrüder zu schützen und zugleich vor unseren Gläubigen deutlich genug herauszustellen, dass wir von solchen Maßnahmen abrücken, die nicht nur Gottes- und Menschenrechte missachten, sondern das moralische Bewusstsein im Volke untergraben und Deutschlands Namen schänden." Die Regierung müsse wissen, so Machens, "dass die Bischöfe genötigt sind, laut zu ihren Gläubigen zu sprechen, wenn die Maßnahmen fortgesetzt werden, weil sie diese Belehrung ihrer Herde schuldig sind und von Gott zu Schützern der Bedrängten bestellt sind."

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Am gleichen Tag schrieb der Dominikanerpater Odilo Braun, der später wegen seiner Verbindungen zum Widerstand von der Gestapo verhaftet werden sollte, an den Fuldaer Bischof Johannes Dietz, "dass die Zigeunerkinder, auch die katholisch getauften, bereits in den Städten erledigt werden". Auch Braun forderte von den Bischöfen umgehende und konkrete Schritte zum Schutz der von der Deportation nach Auschwitz bedrohten Sinti und Roma. Dass selbst in Kardinal Bertrams eigenem Bischofssitz in Breslau Sinti-Kinder aus einem katholischen Kinderheim abgeholt wurden, bezeugt folgender Bericht der katholischen Ordensschwester M. Apollinaris Jürgens:

"Vom Jugendamt wurden den Armen Schulschwestern des Kinderheims Breslau-Ohlewiesen im Zweiten Weltkrieg zwei "Zigeunerkinder" zugewiesen, ein Mädchen, Maria, und ein Säugling. Von beiden Kindern waren den Schwestern die Eltern nicht bekannt. Es mag – nach den Erinnerungen der Schwestern – im Jahr 1943 gewesen sein, als plötzlich vier Männer der Gestapo im Kinderheim erschienen und die beiden Kinder zu sehen wünschten. Schwester Hyacintha ging mit der kleinen, knapp 10jährigen Maria ins Sprechzimmer und fragte unterwegs, ob das Kind wüsste, wohin es jetzt ginge. Die Antwort des Kindes: "In den Himmel".

Schwester Hyacintha war zunächst verblüfft ob dieser Antwort, später erschüttert. Als sie mit dem Kind ins Sprechzimmer kam, hieß es gleich, sie seien gekommen, das Mädchen abzuholen. Als Schwester Hyacintha dem Kind Wäsche und Kleider einpacken wollte, lehnten die Männer das ab, das sei nicht notwendig, und nahmen das Kind weg. Den Säugling holten sie aus seinem Bettchen mit der Bemerkung, Wäsche und dergleichen sei nicht notwendig. Lange standen die Schwestern unter dem Schock des Geschehens, das sich plötzlich ohne Voranmeldung und rasch abwickelte ... Von den Kindern haben die Schwestern nie mehr etwas gehört."

Im Frühjahr 1943, spätestens nach dem Eintreffen der anonymen Bittschriften, konnte innerhalb der deutschen Bischofskonferenz – wo man über die Vernichtung der Juden genauestens informiert war – kaum mehr ein Zweifel am genozidalen Charakter der gegen Sinti und Roma gerichteten staatlichen Maßnahmen bestehen.

Dies bestätigt ein von Wienken in Auftrag gegebener Bericht des "Katholischen Hilfswerks" beim Bischöflichen Ordinariat Berlin, den dieser am 27. Mai 1943 an Kardinal Bertram und an Erzbischof Gröber übersandte. Der mehrseitige Text, der im April oder Mai 1943 verfasst wurde, trägt den Titel "Zur Lage der Zigeuner". Unter Punkt III "Sondermaßnahmen ohne gesetzliche Regelung" wird festgestellt:

"In der Praxis konnte beobachtet werden, dass Zigeuner aus ihren Wohnbezirken und Arbeitsstätten entfernt und gruppenweise abtransportiert wurden ... neuerdings verlautet, dass sie nach Auschwitz kämen. Zigeunerkinder wurden planmäßig aus Heimen und Familien, wo sie untergebracht waren, entfernt und ebenfalls abtransportiert. Auch die als Hausangestellte und Pflegekinder in katholischen Heimen untergebrachten Kinder wurden behördlicherseits herausgeholt."

Weiterhin führt der Bericht an, die Zugehörigkeit einer Person zu den "Zigeunern" werde vom "Reichskriminalpolizeiamt" – das seit September 1939 als Amt V des berüchtigten SS-"Reichssicherheitshauptamt" firmierte – festgestellt. Was der Bericht allerdings nicht sagt, ist, dass diese Klassifikation als "Zigeuner" oder "Zigeunermischling" nicht zuletzt durch die Mithilfe der beiden großen Amtskirchen möglich geworden war.

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Um dies zu verstehen, ist ein kurzer Rückblick notwendig. In seinem grundlegenden Erlass vom 8. Dezember 1938 ordnete Heinrich Himmler als Reichsführer SS die vollständige Erfassung aller im Deutschen Reich lebenden Sinti und Roma an. Mit der "Feststellung der Rassenzugehörigkeit" wurde die in Berlin ansässige "Rassenhygienische Forschungsstelle" unter Leitung von Dr. Robert Ritter betraut. In dem Erlass ist explizit von der beabsichtigten "endgültigen Lösung der Zigeunerfrage" die Rede. Um dieses Ziel zu erreichen, führten Ritter und seine Mitarbeiter im gesamten Reichsgebiet und in enger Kooperation mit dem SS- bzw. Polizeiapparat "rassenbiologische Untersuchungen" an Sinti und Roma durch.

Unsere Menschen wurden unter Androhung von KZ-Haft gezwungen, ihre Verwandtschaftsverhältnisse preiszugeben. Für die Erstellung umfassender Familienstammbäume griffen die "Rasseforscher" zudem auf Unterlagen staatlicher und kirchlicher Stellen zurück. Insbesondere die Kirchenbücher waren eine wichtige Quelle, um "Zigeuner" bzw. Personen mit "zigeunerischer Abstammung" zu identifizieren. Schon im Vorwort von Ritters Habilitationsschrift "Ein Menschenschlag" aus dem Jahr 1937, die seinen Ruf als führender "Zigeunerforscher" des Dritten Reiches begründete, hatte dieser sich lobend über die Unterstützung seiner Arbeit durch das erzbischöfliche Ordinariat in Freiburg und das bischöfliche Ordinariat Rottenburg geäußert. Ritter weiter: "So gingen uns auch immer wieder zahlreiche Pfarrer, Ärzte, Richter, Lehrer, Justiz- und Polizeibeamte in jeder Hinsicht hilfsbereit an die Hand."

Am 13. September 1940 sandte der "Reichsminister für die kirchlichen Angelegenheiten" eine Abschrift des genannten Himmler-Erlasses an die Deutsche Evangelische Kirche und an den Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz, Kardinal Bertram. Dieser ließ im November 1940 im Kirchlichen Amtsblatt des Erzbischöflichen Ordinariats Breslau unter Bezugnahme auf diesen Erlass eine Anordnung veröffentlichen, wonach Auszüge von Kirchenbüchern, um die "Zigeuner" bäten, diesen nicht ausgehändigt werden dürften, sondern vielmehr von den kirchlichen Stellen direkt den zuständigen Polizeibehörden zu übermitteln seien. Entsprechende Anordnungen wurden auch in anderen Kirchlichen Amtsblättern veröffentlicht, etwa in der Diözese Rottenburg.

Auf der Basis der mit Unterstützung der Kirchen gewonnenen genealogischen Daten erstellte Ritters Institut nahezu 24.000 "Rassegutachten", die wiederum die Grundlage für die Deportation oder – in selteneren Fällen – für die Zwangssterilisation von Sinti und Roma bildeten. Wer als "Zigeuner" oder "Zigeunermischling" klassifiziert worden war, hatte kaum eine Chance, dem Vernichtungsapparat zu entgehen. Die Gutachten bildeten mithin eine entscheidende Voraussetzung für den nationalsozialistischen Völkermord an unserer Minderheit, der mit den Anfang März 1943 beginnenden Deportationen nach Auschwitz-Birkenau seinen Höhepunkt erreichte.

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Und wie reagierte das Episkopat unter Leitung von Kardinal Bertram angesichts dieses Verbrechens, vor dessen Dimension die Kirchenführer nicht mehr die Augen verschließen konnten? Bei der Mehrheit der Bischöfe stieß der Aufruf von Machens, "unsere Glaubensbrüder zu schützen" und "laut zu den Gläubigen zu sprechen", auf Ablehnung. Nach einem langwierigen internen Diskussionsprozess ließen die Bischöfe im September und Oktober 1943, also über ein halbes Jahr nach dem Machens-Brief, den so genannten Dekalog-Hirtenbrief von den katholischen Kanzeln verlesen.

Seine zentrale Passage lautet: "Tötung ist in sich schlecht, auch wenn sie angeblich im Interesse des Gemeinwohls verübt würde: an schuld- und wehrlosen Geistesschwachen und -kranken, an unheilbar Siechen und tödlich Verletzten, an erblich Belasteten und lebensuntüchtigen Neugeborenen, an unschuldigen Geiseln und entwaffneten Kriegs- oder Strafgefangenen, an Menschen fremder Rassen und Abstammung. Auch die Obrigkeit kann und darf nur wirklich todeswürdige Verbrechen mit dem Tode bestrafen".

Mit dieser sehr allgemein gehaltenen Form des Hirtenbriefs wurde der ursprünglich von Bischof Machens und anderen geforderte entschiedene öffentliche Protest angesichts der Deportation von Sinti und Roma sowie Juden in die Vernichtungslager bis zur Unkenntlichkeit abgeschwächt. Ein konkreter Bezug zum ursprünglichen Anlass des Hirtenbriefs – die Verschleppung von Sinti-Kindern aus katholischen Kinderheimen nach Auschwitz – war überhaupt nicht mehr erkennbar. Der verzweifelte Ruf unserer Menschen nach Schutz und Beistand ihrer Kirche angesichts einer Barbarei von ungeheuerem Ausmaß blieb unerhört.

Die Maschinerie der Vernichtung lief unvermindert weiter. Ein Jahr nach den Bittschreiben an Bertram und Gröber, im Mai 1944, wurden 39 Sinti-Kinder aus dem katholischen Kinderheim St. Josefspflege in Mulfingen nach Auschwitz deportiert. Bis auf vier Überlebende wurde sie alle in den Gaskammern ermordet. Dass man die Kinder bis zu diesem Zeitpunkt von der Deportation ausgenommen hatte, hatte einen besonderen Grund: Die "Rasseforscherin" Eva Justin, engste Mitarbeiterin von Dr. Robert Ritter, benötigte die Kinder als Untersuchungsobjekte für ihre Doktorarbeit.

Nach Abschluss ihrer pseudowissenschaftlichen "Experimente" ordnete die zuständige "Kriminalpolizeileitstelle" Stuttgart den Abtransport der Kinder nach Auschwitz an. Die Heimleitung unternahm nichts, um die Deportation der ihr anvertrauten Kinder zu verhindern. Stattdessen heißt es in einem Schreiben an das Bischöfliche Ordinariat Rottenburg-Neckar vom 8. Mai 1944: "Der Leiter der Josefspflege Mulfingen, Pfarrer Volz, teilt dem Caritasverband mit, dass in nächster Zeit 30 Zigeunerkinder wegkommen sollen. Dadurch wird die Anstalt ziemlich unterbelegt. Er bittet den Caritasverband darauf hinzuwirken, dass durch die entsprechenden Behördenstellen eine Vollbelegung wieder raschestens erfolgt." Am Vorabend ihrer Deportation erhielten die Mulfinger Sinti-Kinder vom eigens herbeigeeilten Pfarrer eine "Notkommunion" – dies war die einzige Hilfe, die ihnen vonseiten der Katholischen Kirche zuteil wurde.

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Die Frage nach der Verantwortung der deutschen Bischöfe angesichts des nationalsozialistischen Völkermords an unserer Minderheit ist bis heute kein Thema. Die meisten der oben zitierten Quellen ruhten jahrzehntelang unbeachtet in den kirchlichen Archiven. Wir verdanken das Wissen um diese wichtigen Dokumente der katholischen Kirchenhistorikerin Dr. Antonia Leugers, die bereits Mitte der Neunzigerjahre führende Fachkollegen auf ihre Aktenfunde und deren Bedeutung aufmerksam machte – bislang ohne Resonanz. Dieser blinde Fleck betrifft indes nicht nur die katholische Geschichtsschreibung, sondern die katholische Amtskirche insgesamt. Im Schuldbekenntnis der katholischen Bischöfe vom 23. August 1945 (und auch in der Stuttgarter Schulderklärung des Rats der Evangelischen Kirche vom 18./19. Oktober 1945) ist unsere Minderheit mit keinem Wort erwähnt.

Nach dem Holocaust erfuhren die überlebenden Sinti und Roma von dieser Seite kaum Unterstützung; sie wurden lediglich in paternalistischer Manier als "Randgruppe" betreut. Insbesondere führende Vertreter der "katholischen Zigeuner- und Nomaden-Seelsorger" wie Pfarrer Achim Muth oder die Sozialarbeiterin Silvia Sobeck, die in den Siebzigerjahren als vermeintliche "Experten" einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf politische Entscheidungsträger hatten, vertraten zutiefst rassistische Auffassungen über "Zigeuner".

In der Grußbotschaft von Johannes Paul II. zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz-Birkenau, die Kardinal Lustiger am 27. Januar 2005 auf dem ehemaligen Lagergelände verlas, würdigte der Papst erstmals ausdrücklich die Holocaust-Opfer unserer Minderheit: "Die Roma waren in Hitlers Plan ebenso für die totale Vernichtung vorgesehen. Man kann die Opfer an Leben nicht unterschätzen, die ihnen, unseren Brüdern und Schwestern, im Todeslager von Auschwitz auferlegt wurden."

Trotz dieser wichtigen symbolischen Geste gibt es bis heute kein eindeutiges Bekenntnis des Vatikans oder der deutschen Bischöfe zur Mitverantwortung der Katholischen Kirche mit Blick auf den vom NS-Staat organisierten Völkermord an den Sinti und Roma und insbesondere zur Rolle der Kirche bei der Aussonderung unserer Menschen und ihrer Deportation in die Konzentrations- und Vernichtungslager. Für die Überlebenden des Holocaust und ihre Angehörigen ist diese ignorante Haltung ihrer Kirche zutiefst bedrückend. Nicht wenige Angehörige unserer Minderheit haben sich aufgrund dieser leidvollen Erfahrung von der Katholischen Kirche abgewandt.

Gegenwärtig bilden Sinti und Roma mit etwa 10 bis 12 Millionen Angehörigen die größte Minderheit in Europa. Die furchtbare Erfahrung der systematischen Vernichtung im nationalsozialistisch besetzten Europa, der eine halbe Million unserer Menschen zum Opfer fiel, hat sich tief in das kollektive Gedächtnis der nationalen Sinti- und Roma-Minderheiten eingebrannt. Aus dem historischen Gedächtnis der jeweiligen Mehrheitsgesellschaften hingegen wurde dieser Zivilisationsbruch fast vollständig verdrängt.

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Als Konsequenz des Holocaust gibt es heute in der internationalen Politik eine große Sensibilität für die unterschiedlichen Er-scheinungsformen des Antisemitismus. Demgegenüber existiert im Falle der Sinti und Roma weder ein Bewusstsein für die historische Dimension der an unserer Minderheit begangenen Verbrechen noch für den gegenwärtigen Rassismus, dem unsere Menschen in vielen Staaten ausgesetzt sind.

Nach Untersuchungen der "Europäischen Beobachtungsstelle für Rassismus" sind Sinti und Roma wie keine andere Gruppe von Diskriminierung und Ausgrenzung betroffen. In Ost- wie in Westeuropa verzeichnen die Behörden seit Jahren einen deutlichen Anstieg rassistisch motivierter Gewalt: Allein in Tschechischen Republik fielen seit der Wende 27 Angehörige unserer Minderheit Morden mit neonazistischem Hintergrund zum Opfer, ohne dass dies zu einem öffentlichen Aufschrei geführt hätte.

In Anbetracht dieser dramatischen Lage habe ich am 30. Mai letzten Jahres mit Unterstützung der nationalen Roma-Organisationen aus den Niederlanden, Österreich, Polen, der Slowakei und der Tschechischen Republik ein Bittgesuch um eine Privataudienz an Benedikt XVI. gerichtet.

Der Auschwitz-Überlebende Franz Rosenbach und ich haben dem Papst das Dokument bei einer Generalaudienz auf dem Petersplatz überreicht. Es endet mit den Worten:

"Wie ich aus vielen Gesprächen weiß, ist bei unseren Überlebenden der Schmerz darüber, dass ihre Kirche ihnen angesichts der Deportation in die Vernichtungslager keinen Schutz gewähren konnte, immer noch lebendig. Vor diesem Hintergrund wäre eine päpstliche Audienz Ausdruck der Fürsorge für die Brüder und Schwestern aus unserer Minderheit, die seit vielen Generationen eng mit dem katholischen Glauben verbunden ist. Angesichts der schwierigen Menschenrechtssituation unserer Minderheit in vielen Staaten Europas würde die Katholische Kirche damit nicht zuletzt ein Zeichen der Hoffnung auf Überwindung von Ausgrenzung und auf gesellschaftliche Gleichstellung der Sinti und Roma setzen."

Nach über einem Jahr warten die Sinti und Roma noch immer auf eine Antwort des Heiligen Vaters.

Romani Rose

Der Autor verweist in diesem Zusammenhang auf folgende Neuerscheinung :
Die Stellung der Kirchen zu den deutschen Sinti und Roma. Im Auftrag der Gesellschaft für Antiziganismus-Forschung e.V.;
herausgegeben von Udo Engbring-Romang und Wilhelm Solms. (Beiträge zur Antiziganismus-Forschung Band 5)
Marburg 2008 (ISBN 978-3-939762-02-7). Dieser Band enthält auch einen Aufsatz von Antonia Leugers mit dem Titel "Die Verfolgung der Sinti und Roma im Dritten Reich in Publikationen katholischer Kirchenhistoriker" (S. 27 – 33).
→ www.antiziganismus.de

Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Bremeneckgasse 2 in 69117 Heidelberg.
Gefördert durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Juli 2008
→ www.sintiundroma.de

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Andreas Jordan, Juli 2008

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