"Ich nenne den Rechtsanwalt der Einfachheit halber Georg Hausmann"
(...) Als Hitler im Januar 1933 Reichskanzler wurde, wandelte sich die Stimmung in der Bevölkerung rasch. Schon vorher hatte es antisemitische Parolen gegeben, jetzt bedrohten SA-Leute und Mitglieder der NSDAP die jüdische Bürgerinnen und Bürger. Im Radio und in vielen Zeitungen, vor allem aber in den Parteizeitungen der Nazis und in der "Wochenschau", wurden Hetzkampagnen gegen die jüdische Bevölkerung entfacht.
Das Klima veränderte sich binnen kurzer Zeit auch in Buer spürbar. Das wissen wir aus alten Akten, die das Leben der jüdischen Bevölkerung dokumentieren. Meistens sind es einzelne Dokumente, sodass wir nur selten die Lebensgeschichte eines Menschen oder einer Familie rekonstruieren können. Dank des städtischen Archivs können wir einiges über das Schicksal eines jüdischen Rechtsanwalts aus Buer und seiner Familie während der Zeit des Nationalsozialismus erfahren. In ihrer Geschichte wird das Geschehen in Buer zum Schicksal von Menschen, von Opfern und Tätern.
Ich nenne den Rechtsanwalt der Einfachheit halber Georg Hausmann. Er führte eine bedeutende Kanzlei, von der Zeitgenossen sagten, sie sei die größte im Landgerichtsbezirk Essen gewesen. Schon kurz nach der Machtergreifung begann die Hetze gegen den bekannten Juristen. Im Mai verbot ihm das Justizministerium, weiterhin Mandanten vor Gericht zu vertreten, das Notariat wurde ihm öffentlich entzogen - während einer Gerichtsverhandlung am Essener Land- und Amtsgericht, an der er als Verteidiger teilnahm. Viele Zeitungen berichteten darüber ausführlich. Der "Dortmunder General Anzeiger" bezeichnete ihn als "Judenanwalt", der aus dem "finstersten Osten" stamme und kommentierte die Szene am Gericht mit Häme. Noch abstoßender ist der Tonfall in der "National-Zeitung", der Essener NSDAP-Zeitung, hier ist die Rede vom "verwerflichen Verhalten und Treiben dieses Juden", der Rechtsanwalt wird als "Jud Israelis" bezeichnet. Beide Artikel appellieren unverhohlen an die Schadenfreude der Leserinnen und Leser.
Die Stimmung veränderte sich auch im zuvor so harmonischen Buer sehr schnell. Im April, knapp drei Monate nachdem die Nationalsozialisten die Macht übernommen hatten, wurde der jüdische Kaufmann Julius Less am Warenhaus Althoff von drei SA-Mitgliedern angehalten. Wenn er nicht verschwinde, dann werde er totgeschlagen, drohten sie ihm. Fünf Tage später machten sie ihre Drohung beinahe wahr: SA-Hilfspolizisten schlugen den 40-jährigen Less vor über 200 Augenzeugen Krankenhaus reif. Etliche der Umstehenden protestierten, aber niemand wagte einzuschreiten. Freunde versteckten ihn und pflegten ihn gesund. Als er sich einige Wochen später wieder unter Menschen wagte, wurde er erneut bedroht. Julius Less floh in der folgenden Nacht nach Holland.
Schikanen gegen Juden gab es auch in den Buerschen Schulen. Oft gingen sie sogar von den Lehrern aus. Auch Erwin, der Sohn von Rechtsanwalt Hausmann, hatte darunter zu leiden. Er besuchte das Hindenburg-Gymnasium. Im Herbst 1933 ging er ab – die Haltung der Lehrer und Mitschüler war unerträglich feindselig geworden. Andere Schulen weigerten sich, ihn aufzunehmen. So blieb ihm keine andere Wahl, als bei seinem Vater und anschließend bei einem Bekannten des Vaters in die Lehre zu gehen.
"Vom Sinn der Nürnberger Gesetze" - Antisemitismus in der NS-Presse. Aus der Frankfurter Zeitung, 12. August 1937
Die "Nürnberger Gesetze" entzogen den jüdischen Deutschen ab 1935 die meisten Staatsbürgerrechte und stellten jegliche Liebesbeziehung zwischen Juden und so genannten "Ariern" unter Strafe. Sie konnten aber nichts daran ändern, dass sich Menschen über die Grenzen der angeblichen Rassen hinweg ineinander verliebten. Auch Erwin traf sich mit einem Mädchen, das nach den Regeln der nationalsozialistischen Rasselehre "Arierin" war. Das blieb in Buer nicht verborgen. 1936 wurde er anonym denunziert. Bevor ihn die Polizei verhaften konnte, tauchte er unter. Über zwei Jahre lebte er illegal und verdiente seinen kümmerlichen Lebensunterhalt als Vertreter. Schließlich ließ die Staatsanwaltschaft die Anklage fallen.
Sein Vater versuchte lange verzweifelt, seine Kanzlei am Leben zu halten. Im Januar 1934 schrieb er an den Preußischen Justizminister und bat flehentlich darum, ihm doch das Notariat zurückzugeben. Vergebens. Zwar war das Vertretungsverbot gegen ihn zwischenzeitlich aufgehoben worden. Doch seine Mandanten wurden zur NSDAP zitiert und dort bedroht. Nur noch wenige wagten es, zu ihm zu kommen. Seine Einnahmen gingen immer weiter zurück.
Im September 1934 nahm er nur mehr fünf Prozent dessen ein, was die Kanzlei vor der Machtergreifung erzielt hatte. Ende 1935 musste Georg Hausmann endgültig seine Kanzlei schließen und die letzten Angestellten entlassen. Er hatte kein Einkommen mehr und musste seine Lebensversicherungen verkaufen. Die vierköpfige Familie lebte von den Rücklagen. Die Familie Hausmann erlebte das 3. Reich auch als eine Zeit immer krasserer wirtschaftlicher Not. Die Rücklagen gingen bald zur Neige.
Deshalb schrieb der Rechtsanwalt am 28. Oktober 1938, nicht einmal zwei Wochen vor der Pogromnacht, einen Bittbrief an den Präsidenten des Oberlandesgerichts in Hamm. Ob der Gerichtspräsident für ihn, den Kriegsfreiwilligen und Träger des Eisernen Kreuzes, den Kämpfer für das Verbleiben Schlesiens im Deutschen Reich, nach den zahlreichen Berufsverboten der vergangenen Jahre eine Ausnahme gemacht hätte, ist unwahrscheinlich. Juden durften nur noch wenige Berufe ausüben, und viele waren gezwungen, wie die Hausmanns in Buer, ihre Ersparnisse aufzuzehren, wen sie denn solche hatten.
|
Bild: Für die 'entstandenen Schäden' in der Pogromnacht wurde den Juden eine so genannte "Sühneleistung" von 1 Milliarde Reichsmark auferlegt. Die Menschen mußten noch dafür bezahlen, dass sie ausgeplündert, verfolgt und letztlich ermordet wurden.
Die Pogromnacht am 9. November 1938 war ein deutschlandweiter Gewaltakt gegen die gesamte jüdische Bevölkerung. Im ganzen Reich, so auch in Buer und Gelsenkirchen, zündeten SA-Leute Synagogen an. Ein Buerscher Augenzeuge hat später berichtet, dass SA-Leute in dieser Nacht die Maelostraße abgesperrt und die Menschen auseinandergetrieben haben. Kurz darauf sei die Synagoge in Flammen aufgegangen. Die Feuerwehr habe in sicherem Abstand mit ausgerollten Schläuchen dagestanden, ohne einzuschreiten. Andere erinnern sich, dass Nazi-Anhänger sogar Dachpfannen abgenommen haben, um eine brennbare Flüssigkeit in den Innenraum der Synagoge zu schütten. In den Augenzeugenberichten heißt es übereinstimmend, dass viele Schaulustige der Brandstiftung zugesehen haben. Einige sollen Beschimpfungen gegen die jüdischen Mitbürger ausgestoßen haben. Andere versuchten vergebens zu helfen. So heißt es, der Nachbar Miesler aus der Maelostraße 9 sei aus seinem Haus auf die Feuerwehrleute zugestürzt mit den Worten: "Die Synagoge brennt! Warum hilft denn keiner?" Anschließend lief er zu dem jüdischen Nachbarn Katzenstein, der im Eckhaus wohnte.
Bild: In der Pogromnacht zerstörte jüdische GebetsbücherVor dem Haus sah er, wie Geschirr, Möbel, Bettzeug und Bücher durch das Fenster auf die Straße geworfen wurden. Ähnliches erlebten in dieser Nacht alle jüdischen Familien in Buer. Anhänger der Nazis verwüsteten deren Wohnungen systematisch und verwandelten ihre Geschäfte in Scherbenhaufen. Viele jüdische Männer wurden verhaftet. Auch Georg Hausmann wurde festgenommen. Ihn ließ man nach 14 Tagen frei, andere Gelsenkirchener wurden noch mehrere Wochen im KZ Sachsenhausen festgehalten. 13 der Gelsenkirchener und Bueraner Juden, die im Zuge der Pogromnacht verhaftet worden waren, starben in der Haft oder im KZ.
|
13 Gelsenkirchener Juden starben im KZ Sachsenhausen. Den Angehörigen wurden die Urnen gegen Gebühr zugestellt und ausgehändigt. (Liste der Jüdischen Kultusgemeinde vom 4. Juni 1946. Betr. Juden aus Gelsenkirchen, Buer und Horst, die nach Auschwitz oder in andere Lager verschleppt wurden)
Rechtsanwalt Hausmann wurde im Frühjahr 1939 erneut verhaftet. Diesmal ließ man ihn nach acht Tagen frei. Viele Juden wurden im Gefängnis schwer misshandelt. Wir wissen nichts darüber, was man ihm in der Haft angetan hat. Er muss jedoch große Angst um seine Leben gehabt haben, denn er floh bald nach der Entlassung im April 1939 - ohne seine evangelische Frau - nach Belgien. Ein Jahr später konnte er sich vor einrückenden deutschen Truppen vorübergehend in Sicherheit bringen, indem er nach Frankreich flüchtete. Nachdem die deutschen Truppen dort einmarschiert waren, fühlte er sich nicht mehr sicher, er tauchte in Brüssel unter und musste sich illegal mit Hilfe von Freunden durchschlagen. Im September 1942 nahm ihn die Gestapo dort fest und brachte ihn ins KZ Auschwitz. Wann und unter welchen Umständen er starb, hat seine Familie nie erfahren. Zu diesem Zeitpunkt waren die übrigen Gelsenkirchener Juden bereits gen Osten deportiert worden.
Auszug aus der Rede des damaligen Oberbürgermeisters Oliver Wittke anläßlich der Gedenkveranstaltung zum 9. November 1938, der so genannten "Reichskristallnacht" am 9. November 2000 auf dem Gustav-Bär-Platz in Gelsenkirchen-Buer :
|