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"Judenhäuser" bzw. Ghettohäuser in Gelsenkirchen

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Ghettohäuser: Mythos von der ahnungslosen Ausgrenzungsgesellschaft

Abb.: Konzentration der so genannten "Judenhäuser" (Ghettohäuser) im Stadtgebiet Gelsenkirchen, Stand 1942

Zwischen 1939 und 1945 gab es in Gelsenkirchen eine nicht unerhebliche Anzahl sogenannter „Judenhäuser“ und „Judenwohnungen“, in denen Juden*Jüdinnen vor ihrer Deportation "untergebracht" wurden. Obwohl die erzwungene Umsiedlung in ein „Judenhaus“ oder in „Judenwohnungen“ eine weitreichende und einschneidende Erfahrung für die jüdische Bevölkerung Gelsenkirchens war, ist das Thema in der Stadtgesellschaft fast vergessen und nur noch wenigen bekannt.

Der Begriff "Judenhaus" wurde im nationalsozialistischen Deutschen Reich im Alltags- und Behördengebrauch für Wohnhäuser aus (ehemals) jüdischem Eigentum verwendet, in die ausschließlich weitere jüdische Mieter und Untermieter eingewiesen wurden. Wer als Jude galt, bestimmte sich dabei durch § 5 der "Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz" vom 14. November 1935. Als Alternative zum NS-Begriff wird heute auch vermehrt der Begriff Ghettohaus verwendet. Diese Vorform einer innerstädtischen Ghettoisierung erleichterte die Kontrolle der jüdischen Bewohner durch die NS-Verfolgungsbehörden und unterband gewachsene nachbarschaftliche Beziehungen. Viele Juden im nationalsozialistischen Deutschland hatten bereits 1938 durch die "Arisierung" ihr privates Wohneigentum verloren, die jüdischen Alteigentümer durften jedoch in der Regel bis zur Deportation in ihren Häusern und Wohnungen verbleiben.

Jedoch wurden Menschen jüdischer Herkunft auf Anweisung der Gestapo ab Herbst 1939 von der "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" [1] in die so genannten "Judenhäuser" eingewiesen und dort sehr beengt untergebracht. Die Maßnahme der Konzentrierung diente auch der Vorbereitung der so genannten "Endlösung" der Judenfrage" - d.h. planmäßige Ausgrenzung, Vertreibung und Ermordung der Juden in Deutschland und im deutschen Machtbereich in den Jahren 1941 bis 1945.

Ghettohäuser (Judenhäuser) in Gelsenkirchen

Abb.: Dieses Schild ist Teil eines Denkmals im Bayerischen Viertel (Berlin) und soll an die schrittweise Diskriminierung und Entrechtung der Berliner Juden erinnern, die sich auch in Demütigungen des Alltags widerspiegelte. Es soll gezeigt werden, dass die Vernichtung der jüdischen Einwohner_innen ein schleichender Prozess war, der in Deportationen und Massenmord endete.

Neben den ideologischen Gründen bestimmten auch handfeste materielle Interessen diese Maßnahmen. So sicherten sich im Rahmen der "Entjudung und Arisierung" auch in Gelsenkirchen wie anderswo viele der "arischen Volksgenossen" Grundstücke, Wohn- und Geschäftshäuser in bevorzugter Lage (z.B. in der Innenstadt, Bahnhofstrasse oder Hochstrasse in Buer) aus ehemaligen jüdischen Besitz und konnten so teilweise erhebliche Vermögenswerte und Grundbesitz anhäufen.

Auch die Stadtverwaltung Gelsenkirchen kam so in den Besitz vieler Häuser mit den zugehörigen Grundstücken im gesamten Stadtgebiet. Die allermeisten der ehemaligen jüdischen Eigentümer und ihre Angehörigen wurden in den Vernichtungslagern ermordet und konnten dementsprechend nach 1945 keine Wiedergutmachungs- oder Rückerstattungsansprüche geltend machen.


"Entjudung" des Wohnraums in Gelsenkirchen

Abb.: "Arierklausel" in Mietverträgen. Frankfurter Zeitung, 13. September 1938

Die Belegungsdichte innerhalb der "Judenhäuser" in Gelsenkirchen wurde seit 1939 kontinuierlich gesteigert, bis schließlich pro Haushalt (egal ob Einzelperson oder Familie) nur noch ein Raum, bei gemeinsamer Benutzung der sanitären Anlagen, zur Verfügung stand. In der Stadtchronik hieß es: "Der Oberbürgermeister (Carl Böhmer) hat eine wichtige Anordnung über Mietverhältnisse mit Juden erlassen." Dabei folgte diese Anordnung dem Wortlaut des reichsweiten Erlasses vom April 1939.

Die Auswahl der Häuser und die zwangsweise Umquartierung der Betroffenen erfolgte durch das jeweilige städtische Wohnungsamt, ab 1941, als die Anweisung der Gestapo, Juden nur noch in rein jüdischen Häusern zusammenzufassen, in Kraft trat, durch die jüdischen Gemeinden selbst.

Es konnten die nachfolgend genannten Adressen für Gelsenkirchen, Buer und Horst auf der Basis der vorhandenen Deportationslisten, auf denen die Anschriften der betroffenen Personen für den Zeitraum Januar-Juli 1942 verzeichnet sind, ermittelt werden. Auffallend ist, dass die auf den Listen verzeichneten jüdischen Menschen zum Zeitpunkt der Listenerstellung an nur einigen wenigen Adressen im Gelsenkirchener Stadtgebiet lebten. Dabei befanden sich die hieraus zu lokalisierdenden "Judenhäuser" - wohl unter "praktischen" Gesichtspunkten - vor allem im Gelsenkirchener Stadtzentrum (Bahnhofsnähe !) bzw. in den Zentren von Buer und Horst. Viele der genannten Adressen sind auf allen drei Deportationslisten verzeichnet, was die Annahme bestätigt, dass bei Räumung eines Zimmers, einer Wohnung oder eines ganzen Hauses aufgrund der anstehenden Deportation ihrer Bewohner diese neu belegt wurden. Zusammenfassend läßt sich feststellen, dass die "endgültige Konzentration" der jüdischen Bevölkerung vor allem der sch&ärferen Überwachung durch die NS-Verfolgungsbehörden diente und damit eine Station auf dem Weg zur Deportation darstellte, so konnten die Behörden auch in Gelsenkirchen bei den im Januar 1942 beginnenden Deportationen in Ghettos und Vernichtungslager leichter auf die bereits vor Ort räumlich zusammengetriebene jüdische Bevölkerung zugreifen. [2]

→ Bürgerantrag: Tafel soll exemplarisch an Ghettohaus Augustastr. 7 erinnern

+ + + UPDATE 9/2023: Im Rahmen einer Bürgerantrags (§ 24 GO NRW) haben wir nunmehr angeregt, in Gelsenkirchen, Höhe Kreuzung Weber-/ Augustastraße eine Erinnerungstafel „Ghettohäuser in Gelsenkirchen 1939-1945“ zu errichten. Zwischenzeitlich hat die Stadtverwaltung Gelsenkirchen den Eingang der Anregung bestätigt und zuständigkeitshalber an das hiesige Institut für Stadtgeschichte zur weiteren Bearbeitung weitergeleitet.


Interaktiver Stadtplan: Ghettohäuser in Gelsenkirchen

Im interaktiven Stadtplan sind die bisher bekannten Ghettohäuser („Judenhäuser“) in Gelsenkirchen nun sichtbar. Die grafische Visualisierung dokumentiert jetzt anschaulich und in beklemmender Weise, wie vor den Augen ihrer Nachbar*innen die jüdischen Bürger*innen aus ihren Wohnungen vertrieben und in die Ghettohäuser ("Judenhäusern") zwangseingemietet wurden. Dies war in der Regel die letzte Vorstufe vor ihrer Deportation in eines der Ghettos und Mordlager im deutsch besetzten Osteuropa.

Stadtplan Ghettohäuser in Gelsenkirchen 1942

Abb.: Mit einem Klick auf die Grafik wird der Stadtplan "Ghettohäuser in Gelsenkirchen" (Google Maps) geöffnet.


So genannte "Judenhäuser" in Gelsenkirchen 1942:  

Offensichtlich wurde auch in Gelsenkirchen ab etwa Herbst 1939 eine Konzentrierung der verbliebenen jüdischen Bevölkerung auf ausgewiesene "Judenhäuser" vorgenommen, allerdings ist der Ablauf der Zwangsumsiedlungen heute nur noch schwer nachzuvollziehbar, da viele Unterlagen und Dokumente nicht erhalten sind. Dabei fällt auf, dass gerade viele Hausakten der so genannten "Judenhäuser" im Stadtarchiv nicht mehr vorhanden sind, dabei ist allerdings nicht feststellbar, ob die Hausakten vor oder nach 1945 "verloren gegangen" sind.

Anschrift
Gelsenkirchen
Deportation
27.1.1942
Deportation
31.3.1942
Deportation
31.7.1942
Ermordet
Adolf-Hitler-Straße 17
(Heute: Hauptstraße)

6

-

-

Augustastraße 6

4

-

-

28

Augustastraße 7

10

7

13

Bahnhofstraße 39, 39a

11

5

7

20

Bahnhofstraße 76

5

-

-

Bergmannstraße 41

2

7

1

9

Bismarkstraße 56

10

-

-

10

Bismarkstraße 158

7

-

-

Bochumer Straße 92

14

4

-

16

Bulmker Straße 20

7

-

-

Franz-Selde-Straße 84
(Heute: Florastraße)

10

-

-

10

Heimgarten 11

3

1

-

Heinrichplatz 1

1

3

-

Hindenburgstraße 38
(Heute: Husemannstraße)

21

1

-

Hindenburgstraße 41
(Heute: Husemannstraße)

23

-

-

Im Lörenkamp 2

9

1

-

9

Johannesstraße 16

9

1

-

9

Kaiserplatz 4
(Heute: Kennedyplatz)

7

-

-

Kaiserstraße 39
(Heute: Kurt-Schumacher-Straße)

3

-

-

Karl-Laforce-Straße 3
(Heute: Arminstraße)

6

-

-

Karl-Laforce-Straße 15
(Heute: Arminstraße)

6

-

-

Karl-Laforce-Straße 19
(Heute: Arminstraße)

3

-

-

Karl-Meyer-Straße 2

3

-

-

Klosterstraße 21

14

3

17

31

Liboriusstraße 61

3

-

-

Moltkeplatz 6
(Heute: Neustadtplatz)

13

-

-

10

Schalker Straße 36

11

-

3

10

Schalker Straße 38

6

1

-

Schalker Straße 49

7

4

1

11

Schalker Straße 51

10

-

-

10

Theresienstraße 6
(Heute: Kolpingstraße)

9

-

-

Von-Scheubner-Richter-Straße 54
(Heute: Ringstraße)

12

-

-

12

Von-Scheubner-Richter-Straße 67
Heute: Ringstraße)

7

-

-

Von-der-Recke-Straße 4

17

2

-

17

Von-der-Recke-Straße 9

13

7

-

18

Wanner Straße 4

7

-

-

Horst, Markenstraße 28

4

-

-

Horst, Markenstraße 29

10

-

-

9

Horst, Fischersstraße 173

3

-

-

Buer, Cranger Straße 288

8

-

-

Buer, Horster Straße 36

6

1

-

Buer, Vödestraße 9

3

-

-

Div. Wohnungen bzw. Einzeladressen
im Stadtgebiet Gelsenkirchen

29

4

5

"Judenhäuser" mit über zehn Bewohnern*Innen in Gelsenkirchen (Stand Januar 1942)

Die nachfolgende Tabelle beschränkt sich auf die Häuser, die für zehn und mehr Personen als Adresse angegeben wurden. Darüber hinaus erfasst diese Tabelle die Anzahl der Ermordeten, wobei insgesamt ein Anteil von 89 % ermittelt wurde, d.h.: Nur etwa jeder Zehnte der in ein Gelsenkirchener "Judenhaus" eingewiesene jüdischen Menschen überlebte Deportation und Holocaust.

Anschrift Gelsenkirchen Bewohner (absolut) Davon ermordet
Augustastraße 6

30

28

Bahnhofstraße 39, 39a

22

20

Bergmannstraße 41

10

9

Bismarkstraße 56

10

10

Bochumer Straße 92

19

16

Franz-Selde-Straße 84
(Heute: Florastraße)

11

10

Hindenburgstraße 38
(Heute: Husemannstraße)

22

19

Hindenburgstraße 41
(Heute: Husemannstraße)

23

22

Johannesstraße 16

10

9

Klosterstraße 21

34

31

Moltkeplatz 6
(Heute: Neustadtplatz)

12

10

Schalker Straße 36

14

10

Schalker Straße 49

11

11

Schalker Straße 51

11

10

Von-Scheubner-Richter-Straße 54
(Heute: Ringstraße)

14

12

Von-der-Recke-Straße 4

22

17

Von-der-Recke-Straße 9

19

18

Horst, Markenstraße 29

10

9

Insgesamt

304

271

Beispiel Hamburg

Räumung von Judenwohnungen in Hamburg

Abb.: Betrifft: Räumung von Judenwohnungen in Hamburg. Zum Vergrößern anklicken.

In einer vertraulichen Niederschrift hieß es: "Der ursprüngliche Plan, die Juden an mehreren Stellen im Stadtgebiet zusammenzuziehen, ist aufgegeben worden. Nunmehr hat der Führer auf Antrag des Reichsstatthalters entschieden, dass die hier wohnenden Juden bis auf ganz Alte und Sieche nach Osten evakuiert werden sollen. [...] Gerechnet wird [alsbald] mit einem Zugang von ca. 1.000 freien Wohnungen auf Grund dieser Maßnahme." Seit April 1942 wurden in Hamburg die Träger von "Judensternen" zwangsweise in Judenhäuser eingewiesen; betroffen waren davon ab Herbst 1942 auch die Partner aus "nichtprivilegierten Mischehen". Ab 1943 mussten in einigen Reichsgauen auch Partner aus "privilegierten Mischehen" in die so genannten "Judenhäuser" umziehen. In Hamburg wurden pro Person sechs bis acht Quadratmeter Wohnfläche zugestanden.

Victor Klemperer notierte über ein Dresdener Judenhaus: "Cohns, Stühlers, wir. Badezimmer und Klo gemeinsam. Küche gemeinsam mit Stühlers, nur halb getrennt - eine Wasserstelle für alle drei (...) Es ist schon halb Barackenleben, man stolpert übereinander, durcheinander." Klemperer schreibt in seinen Tagebüchern mehrfach über ihm berichtete wie auch selbst erlebte "Haussuchungspogrome", bei denen die Bewohner von Gestapobeamten beleidigt, bespuckt, geohrfeigt, getreten, geschlagen und bestohlen wurden. "Im Aufwachen: Werden "Sie" heute kommen? Beim Waschen…: Wohin mit der Seife, wenn "Sie" jetzt kommen? Dann Frühstück: alles aus dem Versteck holen, in das Versteck zurücktragen. (...) Dann das Klingeln ... Ist es die Briefträgerin, oder sind "Sie" es?"

[1] Die "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" wurde am 4. Juli 1939 durch die 10. Verordnung zum Reichsbürgergesetz von den nationalsozialistischen Machthabern übernommen, stand ab September 1939 unter Kontrolle des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) beziehungsweise der Gestapo und hatte deren Anordnungen umzusetzen. Die Dienstaufsicht über die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland oblag Fritz Wöhrn, der als SS-Hauptsturmführer Sachbearbeiter im "Eichmannreferat" des RSHA war. Alle Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen als Juden galten, wurden in der Reichsvereinigung zwangsweise eingegliedert und mussten Pflichtbeiträge entrichten. Ausgenommen von der Pflichtmitgliedschaft waren anfangs noch Juden aus sogenannten Mischehen; diese mussten jedoch später ebenfalls beitreten.

Die Reichsvereinigung mußte die Organisation der jüdischen Wohlfahrtspflege vollständig übernehmen und diese aus den Pflichtbeiträgen und Spenden finanzieren. Kleiderkammern, Wohnungsnachweis und auch die religiöse Betreuung wurden zu unverzichtbaren Hilfen. Auch das jüdische Schulwesen wurde vom 1. August 1939 an durch die Reichsvereinigung organisiert und finanziert. Ebenso gehörten die Berufsausbildung und Umschulungsmaßnahmen zu ihren wichtigen Aufgaben, bis diese wie auch der Schulunterricht zum 30. Juni 1942 aufgegeben werden mussten.

Als durch Abwanderung und Deportation viele der Kultusgemeinden die Verwaltungsaufgaben nicht mehr aus eigener Kraft bewältigen konnten oder aufgelöst wurden, übernahm die Reichsvereinigung Grundstücke und Immobilien aus Gemeindebesitz und wickelte - teils über ihre Bezirksstellen - die Übertragung von gemeindlichen Friedhöfen, Synagogengrundstücken und anderen Liegenschaften ab. Nach Auflösung der Reichsvereinigung führten die Finanzämter diese Arbeit fort.

Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden der Reichsvereinigung häufig die Bekanntgabe, Organisation und Durchführung von antijüdischen Verordnungen auferlegt: So wurden Genehmigungen für Verkehrsmittelbenutzung über die Reichsvereinigung beantragt und auch bei der angeordneten Ablieferung von Rundfunkgeräten und Schreibmaschinen wirkte sie mit. Im März 1941 wurde die Reichsvereinigung vom Reichssicherheitshauptamt angewiesen, alle "jüdischen Wohnungen in arischen Häusern" aufzulisten; danach erfolgten Kündigungen und Einweisungen in Judenhäuser. Auch mußte die Reichsvereinigung die Deportationstransporte im Vorfeld durch organisatorische Maßnahmen unterstützen. Wenig später musste die Reichsvereinigung eine statistische Zusammenstellung über die Juden in europäischen Staaten abliefern, die bei der Vorbereitung der Wannseekonferenz benötigt wurde.

[2] Vgl. auch: Andrea Niewerth in "Gelsenkirchener Juden im Nationalsozialismus", Seiten 102-106 ff. Klartext Essen 2001

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Andreas Jordan, Juni 2008

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