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Auf den Spuren des Grauens: Hängt die Judenkinder auf

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April 1945. Die englischen Truppen haben Harburg besetzt und stehen nun vier Kilometer vor Hamburg. Und die SS beschließt: Die Kinder müssen beseitigt werden. Man will die barbarischen Menschenversuche vertuschen. Eine exemplarische Schilderung.



Den zwanzig ermordeten jüdischen Kindern zum Gedenken

Mania Altmann, 5 Jahre, Polin
Lelka Birnbaum, 12 Jahre, Polin
Riwka Herszberg, 7 Jahre, Polin
Alexander Hornemann, 8 Jahre, Niederländer
Eduard Hornemann, 12 Jahre, Niederländer
Marek James, 6 Jahre, Pole
Walter Jungleib, 12 Jahre, Jugoslawe
Surcis Goldinger, 11 Jahre, Polin
Lera Klygermann, 8 Jahre, Polin
Georges André Kohn, 12 Jahre, Franzose
Bluma Mekler, 11 Jahre, Polin
Jacqueline Morgenstern, 12 Jahre, Französin
Eduard Reichenbaum, 10 Jahre, Pole
Sergio de Simone, 7 Jahre, Italiener
Marek Steinbaum, 10 Jahre, Pole
H. Wassermann, 8 Jahre, Polin
Eleonora Witónski, 5 Jahre, Polin
Roman Witónski, 7 Jahre, Pole
Roman Zeller, 12 Jahre, Pole
Ruchla Zylberberg, 10 Jahre, Polin



Gedenkstätte für die ermordeten Kinder

20. April 1945. Die 20 Kinder werden in einen Lastwagen verfrachtet. Ziel der Fahrt: Hamburg, Bullenhuser Damm, eine leerstehende Schule, genutzt als Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme. Die Schule heißt heute Janusz-Korczak-Schule, sie befindet sich in Hamburg, am Bullenhuser Damm 92. Erst auf Druck des Auslandes wurde im Jahre 1979 im Keller der Schule eine Gedenkstätte für die ermordeten Kinder eingerichtet. Im Jahre 1950 hatte die VVN (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes) vergeblich die Einrichtung einer Gedenkstätte gefordert. Ihr angegliedert ist eine Dokumentation über das Schicksal der ermordeten Kinder.

1956 schilderte Monika Bringmann, Tochter des Neuengammer KZ-Häftlings Fritz Bringmann, in einem Leserbrief an das "Norddeutsche Echo" den Kindermord am Bullenhuser Damm. Daraufhin hatte sie Besuch von der Kriminalpolizei Winsen, die Vater und Tochter wegen "Verächtlichmachung des Staates" verhaften wollte. In seinem Buch "Unter Türmen und Masten" berichtet der Schriftsteller Willi Bredel von einem Lehrer der Schule, der seinen Schülern von dem Kindermord der SS im Keller der Schule erzählt hatte und deshalb von der Hamburger Schulbehörde vom Dienst suspendiert wurde und in Untersuchungshaft kam. Am 27. April 1980 explodierte am Eingang der Schule eine Rohrbombe. Die Täter: Nazis aus der Gruppe des Rechtsanwaltes Manfred Röder.

Die Menschenversuche an den Kindern des KZ Neuengamme

Es waren 20 jüdische Kinder, Buben und Mädchen. Ihr Alter: zwischen 5 und 12 Jahren. Der deutsche Oberarzt Dr. med. Kurt Heißmeyer hatte sie für seine Menschenversuche angefordert. Dr. med. Heißmeyer vertrat die Auffassung, dass "rassisch minderwertige" Patienten gegenüber Krankheiten wie der Tuberkulose weniger widerstandsfähig seien als "rassisch hochwertige". Nach seiner "Erschöpfungstheorie" sollten nur erschöpfte und "minderwertige" Organismen durch Tuberkelbazillen infiziert werden können. Mit diesen Theorien wollte der Oberarzt Dr. med. Heißmeyer sich für eine Professur bewerben.

Am 29. November 1944 kamen die Kinder im KZ Neuengamme an. Dann wurden die Kinder und die Meerschweinchen, die sich schon dort befanden, nummeriert. Zu jedem Kind gehörte ein Meerschweinchen mit der gleichen Versuchsnummer. Ein Versuch wurde jeweils parallel an einem Kind und an dem dazugehörigen Meerschweinchen durchgeführt. Die Kinder mussten sich auf einen Hocker setzen, zwei Helfer hielten sie fest. Dann wurde dem Kind ein Gummischlauch durch die Luftröhre in die Lunge eingeführt. Das war sehr schmerzhaft. Die Kinder schrien entsetzlich. Manchmal kam es auch zu Verletzungen der Luftröhre, so dass Blut aus dem Mund der Kinder quoll.

Nachdem der richtige Sitz des Schlauchs unter dem Röntgenschirm kontrolliert worden war, spritzte der Oberarzt Dr. med. Heißmeyer den Kindern die Tuberkelbazillen in die Lungenflügel. Außerdem erhielten die Kinder Hauteinschnitte, in die Tuberkelkulturen eingerieben wurden. Nach zwei bis drei Tagen bekamen alle Kinder Fieber. Mitte Januar 1945 wollte der Oberarzt Dr. med. Heißmeyer feststellen, wie die Axillardrüsen (Drüsen in den Achselhöhlen) der Kinder auf die Tuberkulose-Infektion reagiert hatten. So ließ er den Kindern die Drüsen herausoperieren.

Walter Jungleib, JG. 1933, ermordet in der Schule am Bullenhuser Damm, die als Außenstelle des Konzentrationslagers Neuengamme diente. In Hamburg-Burgwedel ist seit 1995 eine Straße nach ihm benannt.

Der Mord an den Kindern des KZ Neuengamme

Aus den Prozessakten: 31. Verhandlungstag, 24. April 1946:

Aussagen des SS-Standortarztes des KZ Neuengamme, Dr. med. Alfred Trzebinski:

"Die zwanzig Kinder waren im Alter von fünf bis zwölf Jahren, und zwar die Hälfte Jungen und die Hälfte Mädchen. Die Kinder sprachen alle ein gebrochenes Deutsch mit polnischem Akzent. Nach einer Weile kam Frahm herein und sagte, die Kinder sollten sich ausziehen. Ich sah, daß die Kinder etwas stutzten und deshalb sagte ich: "Ihr sollt euch ausziehen, weil ihr noch gegen Typhus geimpft werden sollt." Ich nahm jetzt Frahm vor die Tür und sagte ihm dort leise: "Was soll mit den Kindern geschehen?" Frahm sagte: "Ich soll die Kinder aufhängen."

Aussagen von Frahm

Verteidiger: Wer hat den Strick um den Hals der Kinder gelegt?

Frahm: Ich.

Richter: Wie lange hat dieses Hängen der Kinder gedauert?

Frahm: Ungefähr 10 Minuten.

Richter: Wurde ein Kind nach dem anderen gehängt oder mehrere?

Frahm: Zwei auf einmal.

Richter: Wieviel Kinder wurden an diesen Haken auf einmal gehängt?

Frahm: Eines.

Richter: Nicht zwei?

Frahm: Es waren zwei Haken da.

Richter: Haben Sie gehört, daß die SS-Leute nachher Belohnung - Zigaretten und Trinken bekamen?

Frahm: Wir haben ein paar Zigaretten gekriegt - und Schnaps.

Aussagen von Dr. Trzebinski:

(...) "Frahm nahm einen zwölfjährigen Jungen auf den Arm und sagte zu den anderen, "er wird jetzt ins Bett gebracht". Er ging mit ihm in einen Raum und dort sah ich schon eine Schlinge an einem Haken. In diese Schlinge hängt Frahm den Knaben hinein und hängt sich mit seinem Körpergewicht an den Körper des Kindes, damit die Schlinge zuzog." (...)

Zwanzig Kinder erhängen dauert lange

Bis zuletzt läuft die Mordmaschine des NS-Regimes auf Hochtouren. Am 20. April 1945 kommt es in Hamburg zu einem Verbrechen, das noch einmal das ganze unfassbare Grauen des "Tausendjährigen Reiches" vor Augen führt

Der Krieg war zwei Wochen und zwei Tage alt, da wurde am 16. September 1939 in der Zeromskistraße 13 in Radom ein schwarzhaariges Mädchen geboren und bekam den schönen Namen Eleonora. Ein paar Tage zuvor war ihre Mutter Rucza Witonska noch aufs Land nach Rajec gefahren, zwölf Kilometer entfernt. Sie hatte die Nachricht bekommen, dass ihr jüngster Bruder Zelig Zajdenweber aus einem deutschen Kriegsgefangenentransport geflüchtet war und sich in einem Sommerhaus versteckt hielt. Ein Arbeiter hatte ihm seine Eisenbahneruniform gegeben.Zelig Zajdenweber suchte später nach den Kameraden, die mit ihm im Zug gewesen waren, aber der Vater eines Freundes schrieb ihm: Mein Sohn kann leider nicht mehr antworten, alle Kriegsgefangenen im Zug sind von den Deutschen erschossen worden.

Rucza Witonska, geborene Zajdenweber, war damals 22 Jahre alt, mit dem Kinderarzt Seweryn Witonski verheiratet und bereits Mutter eines einjährigen Sohnes, Roman. Sie waren Juden, und bald nach der Besetzung Polens wurden alle Juden in Ghettos eingewiesen. Im Winter 1942/43 musste der Judenälteste des Ghettos Radom eine Liste der Akademiker und ihrer Angehörigen aufstellen. Es ging das Gerücht, sie sollten nach Palästina zu ihren Verwandten ausreisen. Es waren 153 Menschen: Ärzte, Zahnärzte, Rechtsanwälte und Ingenieure mit ihren Frauen und Kindern, darunter die Witonskis.

Am 21. März 1943, einem Sonntag, dem Purimfest, wurden sie auf zwei Fahrzeuge verladen. Ihnen folgten Fahrzeuge mit ukrainischen Hilfswilligen. Die Kolonne hielt vor dem jüdischen Friedhof von Szydlowiec, 30 Kilometer südwestlich von Radom. Die Hilfswilligen schlugen auf die Juden ein, damit sie auf den Friedhof liefen. Einige Juden mussten mit Schaufeln Gräber ausheben. Dann begannen die Ukrainer zu schießen. Roman und Eleonora sahen mit an, wie auch ihr Vater erschossen wurde. In Panik packte die Mutter ihre Kinder und versteckte sich hinter Grabsteinen. In dem Augenblick gaben die Deutschen das Kommando: "Feuer einstellen!" Warum, begriff niemand. Dreißig Menschen waren noch am Leben und wurden wieder nach Radom zurückgebracht. Mehr als hundert Tote blieben auf dem Friedhof von Szydlowiec.

Danach lebten die Kinder in andauernder Angst. Wurde an die Türe geklopft, sprangen sie sofort ins Bett. Ihre Mutter deckte sie vollständig zu, und sie rührten sich nicht. Am 31. Juli 1944 wurden alle drei nach Auschwitz-Birkenau deportiert und kamen ins Familienlager. Es stand leer, zwei Tage vorher waren die ungarischen Juden vergast worden. Rucza Witonska bekam die Nummer A-15158 eintätowiert, ihre Tochter Eleonora die Nummer A-15159 und Sohn Roman die Nummer A-15160. Die Mutter wurde zur Arbeit im Labor des KZ-Arztes Josef Mengele eingeteilt. Doch im November 1944 trennte man sie von ihren Kindern und transportierte sie aus Auschwitz in das Lager Gebhardsdorf in Niederschlesien. Roman und Eleonora kamen ins "Kinderheim". Was dort mit ihnen geschah, erfuhr die Mutter nicht mehr.

Zu dieser Zeit hatte Mengele aus Berlin die Aufforderung bekommen, zwanzig jüdische Kinder, zehn Jungen und zehn Mädchen, ins Lager Neuengamme bei Hamburg zu schicken. Dort sollten sie dem KZ-Arzt Kurt Heißmeyer für Experimente zur Verfügung gestellt werden. Mengele machte eine Reihe Untersuchungen, Tuberkulinproben und Rachenabstriche. Er suchte auch die beiden Witonski-Kinder dafür aus, Roman und Eleonora. Am 27. November 1944 wurden die Kinder aus dem Lager zum Auschwitzer Bahnhof gebracht, begleitet von einem SS-Mann, drei Krankenschwestern und einer belgischen Ärztin, Paulina Trocki. Sie hat später, in Jerusalem, zu Protokoll gegeben: "Der Wagen wurde einem normalen Zuge angehängt. Bei der Reise mussten wir alle Judenabzeichen abnehmen, damit die Bevölkerung nicht aufmerksam wurde. Um Annäherung an uns zu vermeiden, sagten sie, es wäre ein Typhustransport. Die Verpflegung war sehr gut. Es gab Milch und Schokolade. Es war ein Kind dabei, zwölf Jahre alt, Sohn von Dr. Kohn, nach meiner Erinnerung Direktor des Rothschildhospitals in Paris. Als es die große Stadt Berlin vom Zuge aus sah, sagte es: Wenn ich irgend eine Adresse wüsste, würde ich von hier fliehen [...] Nach zwei Tagen kamen wir nachts in Neuengamme an. Ich bemerkte, wie jemand weinte, als er die Kinder sah. Ich sprach mit einem Medizinstudenten aus Belgien. Er sagte: Ich fürchte, sie wollen die Kinder zu Versuchen benutzen."

In Neuengamme, dem KZ im Südosten von Hamburg, hatte man die Baracke 4a geheizt. Im Vorraum waren vier Männer untergebracht, zwei holländische Krankenpfleger, Dirk Deutekom und Anton Hölzel, und die französischen Professoren Ren‚ Quenouille und Gabriel Florence. Sie mussten sich um die Kinder kümmern. Die drei polnischen Krankenschwestern hatten noch fünf Tage zu leben. Am 4. Dezember 1944 wurden sie vom Rapportführer Wilhelm Dreimann im Bunker von Neuengamme erhängt. Die Ärztin Paulina Trocki kam ins Außenlager Bendorf bei Magdeburg. Jeden Mittwoch erschien der Arzt Kurt Heißmeyer aus Hohenlychen. Dort lag das Sanatorium der SS-Führung am Zenssee bei Fürstenberg, 80 Kilometer nördlich von Berlin. Heißmeyer, 39 Jahre alt, war Oberarzt der Tuberkulose-Klinik. Er wollte sich mit einer Arbeit über Tuberkulose-Versuche habilitieren. Damals gab es noch keinen Impfstoff gegen die Tbc.

In Neuengamme rieb er sowjetischen Kriegsgefangenen aktive Bakterien in Schnitte auf der Brust. Sie bekamen Geschwüre und hohes Fieber. Nach vier Wochen ließ er die Gefangenen erhängen und führte unter der Assistenz von Gefangenen-Ärzten eine Autopsie durch. Die herausoperierten Lymphdrüsen nahm er in Glasflaschen mit nach Hohenlychen. Dort wurden sie von seinem Kollegen Hans Klein, einem Pathologen, auf Antikörper gegen die Tuberkulose untersucht, aus denen die Pharmaindustrie einen Impfstoff herstellen könnte. Das Ergebnis war negativ. Heißmeyer hätte das wissen können. Es gab Veröffentlichungen über ähnliche Versuche mit dem Nachweis, dass dies nicht zur Bildung von Antikörpern führte. Aber Heißmeyer hatte diese Arbeiten nicht gelesen. Im Oktober 1944 musste er das Scheitern seiner Experimente einsehen. Trotzdem forderte er die zwanzig Kinder an - nur um seine Versuchsreihe vollständig zu Ende führen.

Mitte Januar 1945 begannen in Neuengamme die Experimente. Der Gefangene Herbert Kirst machte den Kindern einen Schnitt und verrieb Tropfen der Bakterienlösung in die Wunde. Nach zwei Tagen brach bei den Kindern hohes Fieber aus, sie wurden apathisch und standen kaum noch auf. Bei einem zweiten Versuch schob Heißmeyer ihnen einen Gummischlauch durch die Luftröhre bis in die Lungenflügel. Das war sehr schmerzhaft. Ein paar Mal verletzte er die Luftröhre, und es begann zu bluten. Die beiden französischen Mediziner Florence und Quenouille, die als Widerstandskämpfer gefangen genommen und nach Hamburg verschleppt worden waren, mussten assistieren. Sie führten auch die Fieberkurven. Dann goss Heißmeyer aus einem Becher die Tuberkel-Lösung direkt in die Lungen. Die schlimmste Prozedur kam noch. Der tschechische Häftlingsarzt Bogumil Doclik musste den Kindern die Lymphdrüsen herausoperieren. Sie bekamen eine örtliche Betäubung mit Novocain. Nach zwei Wochen wurden ihnen die Drüsen auf der anderen Körperseite herausoperiert. Auch deren Untersuchung durch Hans Klein auf Antikörper war negativ. Von Mitte März 1945 an ließ sich Heißmeyer nicht mehr in Neuengamme sehen.

KZ-Kommandant Max Pauly fragte bei dem SS-General Oswald Pohl in Berlin an, was mit den Kindern geschehen sollte. Wenn sie den Alliierten in die Hände fielen, waren sie lebende Beweise für die Verbrechen der SS. Der Befehl kam am 20. April 1945 per Fernschreiber: "Die Abteilung Heißmeyer ist aufzulösen." Das hieß: Nicht nur die Kinder sollten ermordet werden, sondern auch die beiden französischen Ärzte und die zwei holländischen Pfleger.

Es war Hitlers letzter Geburtstag, die britischen Truppen standen sechs Kilometer Luftlinie von Neuengamme entfernt. Der Kommandant befahl, die Kinder nicht im KZ umzubringen, sondern im "Außenlager Bullenhuser Damm". Das war ein großes Schulgebäude im ausgebombten Hamburger Stadtteil Rothenburgsort. Hier waren skandinavische Häftlinge untergebracht gewesen, die kurz zuvor das Schwedische Rote Kreuz herausgeholt hatte. Die Schule stand leer - ein idealer Ort für ein Verbrechen, das man geheim halten wollte.

Die Kinder waren schon im Bett, halb neun abends. Sie wurden wieder geweckt. Die SS-Leute sagten ihnen, sie würden jetzt mit einem Flugzeug zu ihren Eltern ins Lager Theresienstadt gebracht. Alle freuten sich und packten ihr Spielzeug ein, das Mitgefangene ihnen gebastelt hatten: Holzautos, Puppen, eine Eisenbahn. Im großen Postwagen saßen schon sechs Russen, als die Kinder einstiegen und mit ihnen die Pfleger Anton Hölzel und Dirk Deutekom und die beiden Professoren. Zum Schluss drei SS-Männer, sie hatten Stricke bei sich. Vorne beim Fahrer saß der KZ-Arzt Alfred Trzebinski.

In der Schule wurden die Kinder und die Erwachsenen in zwei verschiedene Keller geführt. Der Postwagen fuhr wieder los, um noch eine Fuhre Sowjetgefangene zu holen, die ebenfalls umgebracht werden sollten. Dann erschien auch Obersturmführer Arnold Strippel, der die Mordaktion leitete. Im Heizungskeller zogen die SS-Leute über die dicken Rohre die Stricke mit Schlingen an beiden Enden. Dann mussten immer zwei Gefangene zugleich auf eine Bierkiste steigen. Ihnen wurden die Schlingen um den Hals gelegt, und zwei SS-Männer zogen ihnen die Beine weg. Die Erstickenden schlugen um sich, es dauerte sechs bis acht Minuten, ehe sie tot waren. Nach drei Stunden lagen 28 Tote im Keller, darunter auch die Leichen der beiden Franzosen und der beiden Holländer.

Zur selben Zeit begann auf der anderen Kellerseite die Ermordung der Kinder. Trzebinski schrieb ein Jahr später in seinem Geständnis: "Ich hatte Morphium mit. Ich rief einzeln ein Kind nach dem anderen. Sie legten sich über den Schemel, und ich gab ihnen die Spritze ins Gesäß, wo es am schmerzlosesten ist. Damit die Kinder glaubten, dass es sich wirklich um eine Impfung handelte, habe ich immer wieder eine neue Nadel genommen." Der SS-Mann Johann Frahm wurde ungeduldig und begann mit dem Erhängen, obwohl noch Kinder wach waren.

Trzebinski: "Frahm nahm den 12-jährigen Jungen auf den Arm und sagte zu den anderen: Er wird jetzt ins Bett gebracht. Er ging mit ihm in einen Raum, der vielleicht sechs bis acht Meter von dem Aufenthaltsraum entfernt war, und dort sah ich schon eine Schlinge an einem Haken. In diese Schlinge hängte Frahm den schlafenden Jungen ein und hängte sich mit seinem ganzen Körpergewicht an den Körper des Jungen, damit die Schlinge sich zuzog. Ich habe in meiner KZ-Zeit schon viel menschliches Leid gesehen und war auch gewissermaßen abgestumpft, aber Kinder erhängt habe ich noch nie gesehen."

Zwanzig Kinder erhängen dauert lange. Es war schon hell, als die SS-Leute nach oben gingen, um Kaffee zu trinken und Zigaretten zu rauchen. Dann fuhren sie zurück nach Neuengamme. Am nächsten Morgen bekamen sie ihre Belohnung, 20 Zigaretten und einen halben Liter Schnaps. Das gab es nach jeder "Aktion".

Am Abend des 21. April holte Strippel mit dem Postwagen die 48 Leichen ab und brachte sie ins Krematorium von Neuengamme. Der Leiter, SS-Untersturmführer Wilhelm Brake, stöhnte über die viele Arbeit. Mit seinen Gefangenen verstreute er am 22. April die Asche auf den Kohlfeldern rund um das Lager. Zwei Wochen später wurde das KZ von englischen Truppen befreit. Die Gefangenen berichteten, hier seien zwanzig Kinder gewesen und weggebracht worden. Aber keiner wusste, wohin.

Zehn Monate später wusste es der englische Major Anton Walter Freud genau. Er war ein Enkel von Sigmund Freud und hatte als Mitglied des War Crimes Investigation Team den Arzt Trzebinski festgenommen. Bis auf drei der Täter, Heißmeyer, Klein und Strippel, fand er alle. Sie gestanden. Am 3. Mai 1946 verkündete Oberrichter C. L. Stirling das Urteil des britischen Militärgerichts im Curio-Haus in Hamburg: "Von allen dunklen und grausamen Geschehnissen in der Geschichte der Konzentrationslager war der Tod der Kinder in diesem Keller eines der grausamsten." Alle Mordbeteiligten wurden zum Tode verurteilt und fünf Monate später in Hameln hingerichtet.

Die Hamburger Nachrichten berichteten am 25. Juli 1946 über den Kindermord: "Es wurde ihnen ein Strick um den Hals gelegt, und sie wurden an Haken wie Bilder an der Wand aufgehängt."

Dreißig Jahre später war alles vergessen. Wenn man lange genug über etwas schweigt, verschwindet es aus der Geschichte. Nur eine Hand voll Menschen, frühere Häftlinge aus Neuengamme, gingen jedes Jahr am 20. April zum Gedenken an die Kinder in den Keller der Schule.

SS-Obersturmführer Strippel kam 1949 in Frankfurt am Main wegen Verbrechen im KZ Buchenwald vor Gericht, er erhielt zunächst lebenslang. Heißmeyer wurde 1964 in der DDR aufgespürt und ebenfalls zu lebenslang Zuchthaus verurteilt; 1967 starb er in der Haft. Heißmeyers Komplize Hans Klein wurde Professor an der Universität in Heidelberg; dort starb er 1984.

Als ich 1977 zum ersten Mal von dieser Geschichte hörte, war ich Journalist beim Stern. Ich begann nach Eltern oder Geschwistern der Kinder zu suchen und fand eine Liste, die der dänische Arzt Henry Meyer aus dem Lager Neuengamme geschmuggelt hatte: die Namen der Kinder, ihr Alter, ihre Heimatländer - Polen, Frankreich, Holland, Jugoslawien, Italien. Und ich fand Fotos von den Experimenten, die Heißmeyer hatte anfertigen lassen. Aber welcher Name gehörte zu welchem Bild?

Es begann eine Suche, die bis heute dauert und bei der mir viele Menschen geholfen haben. Einige Familienangehörige konnten gefunden werden: der Bruder von Georges-André‚ Kohn und der Cousin von Jacqueline Morgenstern aus Paris. Der Vater von Ruchla Zylberberg aus Zawichost in Polen. Die Tante von Eduard und Alexander Hornemann aus Eindhoven. Die Mutter von Sergio de Simone aus Neapel. Und die Schwester von Bluma Mekler aus Sandomierz in Polen. Sie heißt heute Shifra Mor. Als die Deutschen im Oktober 1942 ihre Razzia machten, hatte ihr die Mutter zugeschrien: "Renn, Shifra, renn!" Sie war gerannt und hatte sich im Stall versteckt. Ihre Eltern und ihre fünf Geschwister sah sie nie wieder.

Nachdem der Stern 1979 meine Recherchen veröffentlicht hatte, kamen zur Gedenkfeier für die Kinder am 20. April weit über zweitausend Menschen und zum ersten Mal auch Angehörige. Sie gründeten mit uns die Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm; im Keller der Schule wurde - gegen die hartnäckige Ignoranz des politischen Hamburg - eine Ausstellung eingerichtet. 1982 fand ich in Unterlagen des Suchdienstes des Roten Kreuzes einen Brief aus Paris vom 12. Juni 1946, mit dem Rucza Witonska nach ihren Kindern Roman und Eleonora suchte. Der Brief war nie beantwortet worden. Ich schrieb nach Paris: In meiner Namensliste stehe ein Junge R. Witonski, Pole, 7 Jahre alt. Sei das ihr Sohn? Und tatsächlich, 36 Jahre danach meldete sich Zelig Zajdenweber aus Paris am Telefon. Er sei der Bruder von Rucza Witonska. Seine Schwester lebe jetzt in Lille, habe wieder geheiratet und heiße Rose Grumelin. Es war der geflüchtete Gefangene aus dem Zug, der einzige Überlebende. Ich verabredete mich mit Madame Grumelin in Paris. Ich zeigte ihr die Fotos der Kinder: Ja, sagte sie, das ist mein Sohn Roman. Sie sah sich die anderen Bilder an. Um Gottes willen, das ist ja meine Tochter Eleonora.

Immer schon hatte ich geahnt, dass ein Name in der Liste von Henry Meyer nicht stimmte, wohl auf einem Hörfehler beruhte. Jetzt wusste ich, wer dahinter verborgen war: Eleonora Witonska, und ihre Mutter erfuhr in diesem Moment, dass nicht nur Roman am Bullenhuser Damm erhängt worden war, sondern auch ihr zweites Kind. "Nach meiner Befreiung", berichtete sie, "bin ich sofort wieder nach Auschwitz gefahren, auf dem Dach eines Waggons. Ich war ganz sicher, dass meine Kinder noch dort sein mussten, denn als wir aus Auschwitz wegkamen, standen die Russen schon an der Weichsel. Aber ich fand sie nirgends."

In Auschwitz hörte sie, der Kindertransport sei nach Neuengamme gegangen. Also fuhr sie dorthin, im Oktober 1946. Aber auch hier konnte sie nichts erfahren. Nichts, all die Jahre, bis zu diesem Tag, 1982, in Paris. Im Juni 1982 kam Rose Grumelin nach Hamburg zum Todesort ihrer beiden Kinder und stieg hinab in den Keller der Schule am Bullenhuser Damm. Später legte sie in Neuengamme Blumen an den Platz, an dem die Leichen verbrannt worden waren. Sie stand unendlich lange dort. "Es ist sehr schwer gewesen heute", sagte sie. "Ich habe meine Kinder begraben. Ich habe gekämpft mit mir, hier her zu kommen. Ich habe mir gesagt: Das gibt dir nicht deine Kinder zurück. Ich habe das getan aus Menschlichkeit für die Kinder und für die Kindeskinder. Es sind gute Leute, die Deutschen, feine Leute. Bei ihnen sollen nicht mehr die Mörder herrschen. Gerechtigkeit soll sein. Aber ich weiß, dass der Mörder frei ist, und man macht gar nichts."

Sie hatte Recht. 1969 war Arnold Strippel aus der Haft entlassen, 1970 das Verfahren revidiert und das Strafmaß rückwirkend von lebenslang auf sechs Jahre ermäßigt worden; er bekam eine Haftentschädigung von 121.500 DM. Zwar wurde er 1981 im Düsseldorfer Majdanek-Prozess nochmals zu dreieinhalb Jahren verurteilt, doch er erhielt Haftverschonung; für die Tat in Hamburg wurde er nie belangt. Acht Jahre lang hatte die Anwältin Barbara Hüsing versucht, Strippel deswegen vor Gericht zu bringen. Vergeblich. In 14.323 Blatt Akten kann man nachlesen, was unserer Justiz alles dazu eingefallen war, bis er 1987 wegen Verhandlungsunfähigkeit endgültig verschont wurde und Ersatz für all seine Unkosten bekam. Am 1. Mai 1994 starb Arnold Strippel in Frankfurt am Main.

Rose Grumelin, Rucza Witonska, ist jetzt 88 Jahre alt und fast blind, eine alte Dame, die man gern ansieht und der man gern zuhört. 62 Jahre ist es her, seit die Deutschen ihren Mann erschossen haben, 60 Jahre, seit ihre Kinder in Hamburg wissenschaftlich missbraucht und dann ermordet wurden. "Es gibt Leute, die sagen, man muss vergessen können. Wie kann man seine Kinder und seinen Mann vergessen? Könnten Sie das?"

Quelle: Günther Schwarberg in ZEIT ONLINE 06. April 2005, Ausgabe 15/2005.
Der Autor ist Journalist und lebt in Hamburg. Mehr zum Thema findet sich in seinem Buch "Der SS-Arzt und die Kinder vom Bullenhuser Damm", das im Steidl Verlag, Göttingen, erschienen ist. Die Ausstellung in der Schule am Bullenhuser Damm 92 in Hamburg (nahe der S-Bahn-Station Rothenburgsort) ist nur unregelmäßig geöffnet. Auskunft gibt die Gedenkstätte Neuengamme.


Arnold Strippel

Am 31. Mai 1949 begann der Prozess vor dem Frankfurter Schwurgericht und am 1. Juni wurde er wegen gemeinschaftlichen Mordes in 21 Fällen, begangen am 9. November 1939 im KZ Buchenwald, zu 21mal lebenslang verurteilt. Zudem erhielt er für eine unbestimmte Zahl von schweren Körperverletzungen, ebenfalls im KZ Buchenwald begangen, zusätzlich noch zehn Jahre Haft. Die Erschießung von 21 jüdischen Häftlingen am 9. November 1939 war eine "Vergeltungsmaßnahme" für das gescheiterte, von Georg Elser durchgeführte Bombenattentat auf Hitler im Münchner Bürgerbräukeller am 8. November 1939. Diese 21 Häftlinge wurden auf Anordnung von Lagerkommandant Karl Otto Koch durch Strippel ausgesucht und von SS-Männern erschossen. Strippel konnten zudem zahlreiche Misshandlungen an KZ-Häftlingen nachgewiesen werden, so ordnete er unter anderem Prügelstrafen und das berüchtigte Baumbinden an. Strippel, der diese Strafen auch selber vollzog, galt unter den Buchenwald-Häftlingen als besonders willkürlich und brutal.

Aufgrund eines Wiederaufnahmeverfahrens im Jahre 1967, bezüglich der Misshandlungen von Häftlingen, wurde die zehnjährige Haftstrafe für die schweren Körperverletzungen rückwirkend auf fünf Jahre revidiert. Nach Aufhebung des Haftbefehls wurde Strippel aus der JVA Butzbach am 21. April 1969 entlassen. In einem weiteren Wiederaufnahmeprozess bezüglich des Straftatbestandes des gemeinschaftlichen Mordes in 21 Fällen wurde das Urteil zu mehrmaliger lebenslanger Haft 1970 ebenfalls rückwirkend aufgehoben. Strippel wurde nun zu 6 Jahren Zuchthaus verurteilt, die bereits durch die Haftzeit in der JVA Butzbach als verbüßt galten. Zudem erhielt er eine Haftentschädigung von 121.500 DM. Die Frankfurter Richter sahen die Tatbeteiligung zwar als erwiesen an, Strippel selbst aber nur als Gehilfen.

Vor dem Düsseldorfer Landgericht begann im November 1975 der Majdanek-Prozess gegen 16 SS-Leute. Strippel soll in dem Kozentrations- und Vernichtungslager Majdanek am 14. Juli 1942 die Tötung von 41 sowjetischen Kriegsgefangenen veranlasst haben. Wegen Beihilfe zum Mord in 41 Fällen wurde er 1981 zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt, die er jedoch nicht antreten musste.

Die Staatsanwaltschaft Frankfurt stellte Anfang der 1980er Jahre das Verfahren des so genannten "Bunkerdramas" ein, ohne dass es zu Verurteilungen kam. Am 15. Januar 1944 pressten SS-Männer, unter ihnen Arnold Strippel, im niederländischen KZ Vught 74 weibliche Häftlinge in eine 9,5 m² große Zelle. In der benachbarten Zelle wurden nochmals 17 Frauen eingesperrt. Bis zum Morgen des 16. Januars 1944, als die Zellentür geöffnet wurde, starben zehn Frauen den qualvollen Erstickungstod.

Öffentliches Aufsehen erregte bereits kurz nach Kriegsende die Ermordung von 20 jüdischen Kindern im Keller der Schule Bullenhuser Damm in Hamburg-Rothenburgsort in der Nacht vom 20. zum 21. April 1945. Die Kinder im Alter von fünf bis zwölf Jahren, je zur Hälfte Jungen und Mädchen, waren im November 1944 aus dem KZ Auschwitz ins KZ Neuengamme gebracht worden, angefordert von dem KZ-Arzt Kurt Heißmeyer. Die Kinder wurden, nachdem Heißmeyer bereits Menschenversuche an sowjetischen Kriegsgefangenen vorgenommen hatte, mit Tuberkulose infiziert. Es wurden ihnen dann Gewebeproben entnommen zur Entwicklung eines Impfstoffes.

Um die Zeugen dieses Verbrechens zu beseitigen, wurde von SS-Obergruppenführer Oswald Pohl aus Berlin befohlen, die Abteilung Heißmeyer "aufzulösen". Im Keller der Schule wurde den Kindern Morphium gespritzt und danach wurden sie - unter Mittäterschaft Arnold Strippels - an Heizungsrohren erhängt. Mit den Kindern wurden auch ihre vier Betreuer und über 20 sowjetische Kriegsgefangene umgebracht. Bereits am 3. Mai 1946 wurden im Curiohaus-Prozess einige Mittäter Strippels, die gefasst werden konnten, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Strippel, der auch im Curiohaus-Prozess belastet wurde, leugnete noch während seiner Haftzeit im Mai 1965 bei Vernehmungen die Tatbeteilung an diesem Verbrechen. Aus Mangel an Beweisen wurde das Verfahren gegen Arnold Strippel durch die Staatsanwaltschaft Hamburg im Juni 1967 eingestellt.

Der zuständige Staatsanwalt Münzberg sah das Verbrechen als Mord, der "heimtückisch" und aus "niedrigen Beweggründen" geschehen sei, nicht aber als "grausam" an, denn:

"Die Ermittlungen haben nicht mit der erforderlichen Sicherheit ergeben, daß sich die Kinder über Gebühr lange quälen mußten, bevor sie starben. Im Gegenteil spricht manches dafür, daß sämtliche Kinder gleich nach Empfang der ersten Spritze das Bewußtsein verloren und aus diesem Grunde alles weitere, was mit ihnen geschah, nicht wahrgenommen haben. Ihnen ist also über die Vernichtung ihres Lebens hinaus kein weiteres Übel zugefügt worden, sie hatten insbesondere nicht besonders lange seelisch oder körperlich zu leiden."

Gegen eine Veröffentlichung im Stern 1979, in der Strippel der Mittäterschaft an dem Verbrechen beschuldigt wurde, erstritt er ein Ordnungsgeld. Dennoch wurden die diesbezüglichen Ermittlungen gegen Strippel mehrfach wieder aufgenommen und eingestellt. Erst 1983 wies die Hamburger Justizsenatorin die Staatsanwaltschaft an, wieder Anklage zu erheben. Wegen Verhandlungsunfähigkeit wurde das Verfahren gegen Strippel 1987 jedoch endgültig eingestellt. Strippel starb am 1. Mai 1994 in Frankfurt am Main)

Quelle; Arnold Strippel, Wikipedia

Arnold Strippel - mein Nachbar, der KZ-Mann

Die sechs Männer kommen am hellichten Tag. Unbemerkt dringen sie in das Treppenhaus ein. Die Vorbereitungen für eine geplante Ruhestörung beginnen: Flurwände werden mit Parolen besprüht, Flugblätter verstreut, Scheiben zertrümmert. Erregte Hausbewohner stürmen aus ihren Wohnungen. Es kommt zu heftigen Wortgefechten mit den Eindringlingen. Vor dem Haus bleiben die ersten Passanten stehen. "Strippel – freier – Kinderhenker!" skandiert die kleine Demonstrantengruppe. Der Mann, dessen Name immer wieder und immer lauter gerufen wird, steht unbeweglich hinter den Gardinen im zweiten Stock und beobachtet die Szene. Arnold Strippel, den viele Nachbarn als den ruhigen älteren Herrn aus der Talstraße 10 kennen, ist wieder einmal von seiner Vergangenheit eingeholt worden.

Aus Empörung darüber, daß sich der Mann, der für die Ermordung von zwanzig jüdischen Kindern verantwortlich ist, an denen im Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg zuvor Menschenversuche unternommen worden waren, noch immer in Freiheit befindet, ist die Gruppe französischer Juden nach Frankfurt gefahren. Ihre Aktion haben sie lange vorbereitet. Auf Flugblättern, die sie in die Briefkästen der umliegenden Häuser werfen, ist die Rede von einer "langen Blutspur", die der ehemalige KZ-Mann Arnold Strippel in Buchenwald, Ravensbrück, Majdanek und Peenemünde hinter sich ließ.

"Strippel – Mörder!" rufen die Demonstranten auch jetzt, als aufgebrachte Nachbarn beginnen, handgreiflich zu werden. "Kümmert euch doch um euren eigenen Dreck ... geht doch nach Hause!", geifert es ihnen entgegen. Gezerre, Rempeleien – schließlich erscheint die Polizei. Nach heftigen Diskussionen und gegenseitigen Beschuldigungen werden die Demonstranten festgenommen, abtransportiert, und dem Haftrichter vorgeführt. Ihr Ziel haben sie trotz Verhaftung erreicht: Am nächsten Tag berichten alle Frankfurter Tageszeitungen über die Aktion gegen den ehemaligen SS-Mann. Und danach? Die Staatsanwaltschaft wird wegen Hausfriedensbruch ermitteln, denn nicht nur Strippel, auch seine Nachbarn haben Strafanzeige gegen die jüdischen Demonstranten erstattet. Wenige Tage später sind die demolierten Fenster wieder ersetzt, die Parolen – und damit die Erinnerung an die unbequeme Vergangenheit – wieder von den Flurwänden gewischt.

Kalbach, bei Frankfurt. Eingekeilt von Schnellstraßen und Autobahnen, an der nordöstlichen Peripherie von Frankfurt, liegt das Dorf, das seit einigen Jahren von der Metropole "eingemeindet" wurde. Im alten Dorfkern gibt es nur noch wenige kleine Gassen, gerade ein halbes Dutzend Bauernhöfe und Fachwerkfassaden. Längst ist die Dorfidylle urbaner Zweckmäßigkeit gewichen. Oben, am Ortseingang, dort, wo vor wenigen Jahren noch weite Felder den Blick in den nahen Taunus freigaben, steht jetzt ein Freizeitzentrum: Architektur aus Stahl und Metall, Stahltrossen und bunten Riesenrohren. Ein wenig überdimensioniert wirkt der gigantische Komplex. Eine Nummer, oder auch zwei zu groß. Der ehemals beschauliche Ort will modern daherkommen.

Die Talstraße liegt unten im alten Dorfkern. Dort treffe ich auf den Briefträger: "Strippel?", – er kratzt sich beinahe verlegen am Kopf, "das ist ein heikler Fall." Warum, frage ich. "Im Fernsehen", sagt er zögernd, "ist mal was über ihn gezeigt worden. Ein Prozeß. Er war da angeklagt. Soll schlimme Dinge gemacht haben ... Aber es ist ja schwierig – nach so langer Zeit, das nachzuweisen. Daß er KZ-Wächter war, steht fest. Ist das ein Problem für die Nachbarn? "Nee, das ist hier kein Thema ... Aggressionen oder so etwas gegen den Mann – nein, die gibt’s hier nicht." Ich frage, wann er Strippel das letzte Mal gesehen, mit ihm gesprochen hat. "Vor zwei Wochen erst. Da habe ich ihn an der Tür gesehen. Der spricht nicht viel. Seit dem Vorfall vor ein paar Jahren hat er sich sehr zurückgezogen. Seine Wohnung verläßt er kaum. Einkäufe macht seine Frau. Ab und an läßt er sich von seinem Sohn hinüber ins Heilbad nach Bad Homburg fahren. Aber sonst geht der nicht aus dem Haus." Spion am Fenster und Sicherheitsschloß an der Wohnungstür, so erzählt der Briefträger, habe sich Strippel nach dem Vorfall einbauen lassen. "Aber Angst", sagt der Mann mit einem Lächeln, "Angst braucht der Mann hier nicht haben. Keiner tut ihm was."

Daß Strippel für seine Kalbacher Nachbarn ein durchaus ehrenwerter Bürger ist, zeigt mir die Reaktion eines älteren Mannes, den ich wenig später nach der Adresse Strippels frage. "Was wolle Se denn von dem", platzt es unwirsch aus ihm heraus. "Könne Se den Mann denn net mal in Ruh’ lassen?" Wer ist dieser Mann, über den hier kaum einer reden will, über dessen Vergangenheit sich niemand entrüstet und dessen Nachbarschaft sich keiner schämt?

"Ich, Arnold Strippel, wurde als zweiter Sohn des Landwirts Friedrich Strippel und dessen Ehefrau Martha, geb. Wald, am 4. Juni 1911 in Unshausen, Bezirk Kassel, geboren", schreibt er in seinem Lebenslauf für das "Rasse- und Siedlungshauptamt SS". Und weiter: "Vom 6. bis zum 14. Lebensjahre besuchte ich die Volksschule dortselbst. Nach meiner Schulentlassung erlernte ich im Baugeschäft meines Onkels das Handwerk der Zimmerer. Auch nach bestandener Gesellenprüfung, welche ich nach 3jähriger Lehrzeit ablegte, blieb ich weiterhin bei meinem Lehrmeister und war später, als das Baugeschäft darniederlag, in der Landwirtschaft meiner Eltern tätig. Im Frühjahr 1934 bewarb ich mich um die Einstellung in die aktive SS."

Arnold Strippel wird angenommen. Äußerlich und innerlich entspricht er den Anforderungen dieses Blutordens: ein blonder germanischer Recke von 1,85 Metern, der nach dem allgemeinen Untersuchungsbefund der SS-Ärzte sowohl "straff-aufgerichtet" als auch "nordisch" ist. Im Oktober 1934 beginnt Arnold Strippel bei der Wachgruppe des Konzentrationslagers Sachsenberg seinen Dienst. Es ist der Beginn einer blutigen SS-Karriere. Es wird nur wenige Konzentrationslager geben, die er in den nächsten Jahren nicht betreten wird. Schon vier Jahre später ist er Rapportführer im Konzentrationslager Buchenwald. Eine seiner Aufgaben ist die Bestrafung der Lagerhäftlinge.

"Die Prügelstrafe wurde auf dem Bock vollzogen, auf welchen der betreffende Häftling gelegt wurde, wobei der Rücken festgeschnallt wurde", wird später, im Jahre 1949, das Frankfurter Schwurgericht feststellen. "Es waren fünf bis 25 Hiebe als Strafe vorgesehen. In der Anfangszeit wurde mit einem Rohrstock in Fingerstärke, etwa von Ende 1938 ab mit kurzen Lederpeitschen und schließlich mit Ochsenziemen geschlagen." Strippel ist unter den Lagerinsassen gefürchtet. Er gilt als besonders brutal, als übler Schläger und Peiniger. Später wird ein Zeuge vor Gericht über ihn sagen: "Strippel war ein Mann, der den größten Wert darauf legte, hundertprozentig seine Aufgaben zu erfüllen. Ich habe ihn wiederholt und mit Lust prügeln sehen ... er trat besonders alten Leuten mit den Stiefeln ins Gesäß oder schlug sie mit der Faust oder einem Knüppel ins Gesicht."

Im Mai 1940 heiratet der SS-Mann Arnold Strippel eine Frau, ebenso arisch und germanisch wie er selbst. Ab Juni 1942 hinterläßt er seine blutige Spur im Vernichtungslager Majdanek, wo er rasch zum Untersturmführer befördert wird. Nun folgen das KZ Ravensbrück, das Arbeitslager Peenemünde, das KZ Vught in Holland. Nach einer kurzen Zwischenstation im KZ Drütte wird er noch einmal befördert: als SS-Obersturmführer übernimmt er das Kommando für sämtliche Hamburger Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme.

In einem der ihm unterstellten Außenlager, im Keller einer ehemaligen Schule am Bullenhuser Damm, werden in der Nacht vom 20. auf den 21. April 1945 – wenige Tage vor Kriegsende – 20 jüdische Kinder bestialisch ermordet. Die jüngsten sind gerade fünf, die älteren zwölf Jahre alt. An den Kindern hatten SS-Ärzte medizinische Experimente durchgeführt: man hatte ihnen Tuberkulose-Bakterien gespritzt und die Lymphdrüsen herausoperiert. Die skrupellosen Ärzte sahen in den Kindern keine lebenswerten Wesen, sondern Versuchsmaterial. Als die Truppen der Alliierten immer näher an Hamburg heranrückten, sollten alle Spuren vertuscht werden. So wurden auch 28 erwachsene Häftlinge, die als Betreuer der Kinder eingesetzt und deshalb Mitwisser waren, in einem ebenfalls Strippel unterstehenden Außenlager ermordet. Danach ziehen die Täter ihre Blutuniform aus. Sie tauchen unter. Auch Strippel.

Am 31. Mai 1946 erhebt der englische Brigadier H. Shapcott vor dem Militärgericht im Hamburger Curiohaus Anklage gegen ihn und zwei weitere SS-Täter wegen "killing of 20 children at the Bullenhuser Damm" – aber er muß das Verfahren ohne Strippel durchführen. Der hat sich zuerst bei einem SS-Kumpanen in der Nähe von Rendsburg versteckt, später als Landarbeiter im Hessischen. Im Herbst 1948, als sich die SS-Führer in Westdeutschland schon wieder sicher fühlen, als die Entnazifizierungsprozedur nur allzu grobmaschig auch zahllosen NS-Tätern die Rückkehr ins bürgerliche Leben ermöglicht, stellt sich auch Arnold Strippel unter seinem richtigen Namen im amerikanischen Internierungslager Darmstadt. Anstandslos bekommt er ordentliche Papiere und wird entlassen. Doch am 13. Dezember 1948, mittags um 14 Uhr, holt Strippel zum ersten Mal seine Vergangenheit ein. Ein Buchenwald-Häftling, der früher von Strippel zum berüchtigten "Baumhängen" verurteilt worden war, erkennt seinen einstigen Peiniger in der Frankfurter Innenstadt. Der Mann ruft die Polizei. Strippel wird verhaftet.

Am 31. Mai 1949 beginnt vor dem Frankfurter Schwurgericht der Prozeß. Strippel wird angeklagt, im KZ Buchenwald nicht nur zahllose schwere Körperverletzungen an Häftlingen begangen zu haben, sondern auch bei der Erschießung von 21 jüdischen Gefangenen dabeigewesen zu sein. Diese waren am 9. November als Racheakt für den Bombenanschlag auf Hitler im Münchner Bürgerbräukeller ermordet worden. Der Anschlag, von dem Schreinergesellen Georg Elser geplant und durchgeführt, war gescheitert. Zur Abschreckung und als Rache für die acht Hitler-Anhänger, die bei dem Attentat ums Leben kamen, wurden von den Nazis zahllose Rachemorde begangen. Auch in Buchenwald. Auf den Befehl "Marsch" – so die Anklage – seien die "Häftlinge strahlenförmig auseinandergelaufen«. Jeder SS-Mann habe dann den ihm zugeteilten Häftling erschossen. Strippel bestreitet seine Beteiligung: er habe an diesen Erschießungen nicht mitgewirkt, weil ihn diese Angelegenheit "seelisch zu sehr mitgenommen" habe, sagt er vor Gericht.

Ganz anders hat der ehemalige Häftling Walter Poller die Rolle Strippels an der Mordaktion in Erinnerung:

"Kurz nach 10 Uhr rief mich Hauptscharführer Strippel telefonisch an. Seine Stimme klang rauh und betrunken: "Na, weißt du, wo die 21 Mistvögel sind?" Ich wußte nicht recht, was ich antworten sollte. Zwar bestand für mich über das Schicksal der Juden kein Zweifel, auch wußte ich, daß man dem Hauptscharführer gegenüber nicht jedes Wort auf die Goldwaage zu legen brauchte, aber der Ton seiner Stimme war derart grauenhaft, daß ich mich schnell entschloß, mich unwissend zu stellen. Und dann diktierte mir Strippel telefonisch 21 Häftlingsnummern und 21 Namen. Ich ging an die Kartei und zog 21 Karten, schrieb 21 Totenmeldungen, und 21 mal schrieb ich die Todesursache: 'Auf der Flucht erschossen.' Am nächsten Tag sah ich die Leichen in der Totenbaracke...", schreibt er in seinem Erinnerungsbruch Arztschreiber in Buchenwald. Doch Strippel bestreitet jegliche Mitwirkung an der Erschießungsaktion. Es hilft ihm nichts. Am 1. Juni 1949 fällt das Gericht sein Urteil: Strippel wird "wegen gemeinschaftlichen Mordes in 21 Fällen" zu 21 mal lebenslang verurteilt. Obendrein erhält er noch zehn Jahre Haft wegen schwerer Körperverletzung "in einer unbestimmten Zahl von Fällen". Er kommt in die Haftanstalt Butzbach, 40 Kilometer nördlich von Frankfurt.

Hier wird er Kalfaktor beim Anstaltsarzt und hat, nicht zuletzt wegen seines selbstbewußten, häufig auch barschen Auftretens, bald erheblichen Einfluß unter den Inhaftierten und den Aufsehern. Im KZ, so sagt er gegenüber den Beamten, habe er nur seine Pflicht getan, sonst nichts. Und sie verstehen ihn. Die inhaftierten Nazi-Verbrecher, neben Strippel unter anderem auch der Frankfurter Gestapo-Chef Heinrich Baab, können sich über mangelndes Verständnis von seiten der Beamten ohnehin nicht beklagen. Am 20. April feiert die Gruppe ganz ungestört Hitlers Geburtstag. Dabei hätte Strippel gerade an diesem Tag Anlaß, sich an Vorfälle zu erinnern, die das Finale seiner grausamen SS-Karriere markierten: es war der Tag, an dem die 20 jüdischen Kinder in den Kellerräumen am Bullenhuser Damm ermordet wurden. Strippel aber will sich an nichts mehr erinnern. Am wenigsten an seine Mitwirkung: "Von einer Exekution, die im Keller der Schule am Bullenhuser Damm stattgefunden haben soll, erfahre ich heute zum ersten Mal. Ich habe für diese Exekution weder Befehle von irgendeiner Stelle erhalten, noch habe ich Befehle an mir Untergebene weitergegeben. Wo ich mich in der Nacht vom 20. zum 21. April 1945 befunden habe, kann ich heute nicht mehr sagen", gibt er am 10. Mai 1965 zu Protokoll, als ihm ein Ermittler der Staatsanwaltschaft in Butzbach gegenübersitzt.

Die Erklärung von vier tatbeteiligten SS-Männern, auch er habe an der Erhängung der Kinder teilgenommen, stellt Strippel als Verschwörung hin. "Das kann ich mir nur so erklären, daß jeder der Angeschuldigten jedes erdenkliche Interesse hatte, die Schuld an der Tötung der Kinder auf mich abzuwälzen", sagt er zu den Vorwürfen. Die Staatsanwaltschaft akzeptiert die Schutzbehauptung und stellt das Ermittlungsverfahren ein.

Kurz danach nimmt auch das Frankfurter Schwurgericht zu Strippels Gunsten wieder den Buchenwald-Prozeß auf. Einer der Belastungszeugen war in einem anderen Verfahren als "allgemein unglaubwürdig" bezeichnet worden. Zwar war dieser Zeuge im Prozeß gegen Strippel nur eine Randfigur, aber die Justiz gewährt Strippel nun Strafrabatt: Aus einer zehnjährigen Haftstrafe für die schweren Körperverletzungen "in einer unbestimmten Zahl von Fällen" werden fünf Jahre. Lebenslänglich bleibt bestehen. Die 21 toten Juden aus Buchenwald sind nicht wegzuplädieren. Doch Arnold Strippel gelingt ein weiterer Coup: Noch einmal wird die Wiederaufnahme des Verfahrens zugelassen, weil Strippel beim kollektiven Morden möglicherweise "nicht als fanatischer Nationalsozialist" gehandelt habe, wie das erste Urteil bislang unterstellte. Zunächst wird der Haftbefehl aufgehoben. Strippel verläßt am 21. April 1969 das Butzbacher Gefängnis. Als Mann mit brauner Vergangenheit muß er sich in Deutschland keine existentiellen Sorgen machen. Rasch findet er wieder eine Anstellung. Bei einer Frankfurter Firma führt er die Buchhaltung. Er arbeitet gewissenhaft, die Firma ist mit ihrem Buchhalter zufrieden.

Dann folgt der Wiederaufnahmeprozeß. Wie so viele andere NS-Verfahren, zieht sich der Prozeß in die Länge. Ehemalige Häftlinge – soweit sie das Lager überlebt haben – können sich häufig nur schwerlich an Details erinnern. Die Verteidiger wissen dies im Sinne ihres Mandanten zu nutzen. Nach fünf Monaten endlich verkündet das Gericht das Urteil der Wiederaufnahme: Es steht nach wie vor fest, daß Strippel am 9. November an der Erschießung von 21 jüdischen Häftlingen beteiligt war. Aber: Die Frankfurter Richter Seiboldt, Steffgen und Dr. Zander sehen in ihm nur einen "Gehilfen" – und dafür verurteilen sie ihn zu einer Gefängnisstrafe von sechs Jahren, verbüßt durch die Butzbacher Haft. Nun bekommt Strippel eine Haftentschädigung: 121.500 DM. Viel Geld in dieser Zeit, siebenmal soviel wie seine KZ-Häftlinge als Wiedergutmachung für die gleiche Zeit erhalten hätten – falls sie Strippel entronnen wären.

In einer Fragestunde des Bundestags spricht SPD-Abgeordnete Norbert Gansel für viele, wenn er fragt: "Wie beurteilt die Bundesregierung, daß der ehemalige SS-Obersturmführer und KZ-Wächter Strippel eine Haftentschädigung von rund 120.000 DM erhält, während Opfer der NS-Gewaltherrschaft nur eine Entschädigung von 5 DM pro Tag der Freiheitsentziehung erhalten haben, und wird die Bundesregierung eine Änderung des Bundesentschädigungsgesetzes mit dem Ziel in die Wege leiten, daß Opfer der NS-Gewaltherrschaft nicht gegenüber ihren Peinigern auf diese makabre Weise diskriminiert werden?" Dagegen verwahrt sich Staatssekretär Hermsdorf in der Fragestunde im Bundestag vom 9. Mai 1973: "Die Entschädigung des KZ-Wächters Strippel bezog sich demgemäß nur auf materielle Schäden wie Verdienstausfall, Erstattung von Sozialversicherungsbeiträgen sowie Auslagen im Strafverfahren. Angesichts des Ausmaßes der Schäden und der Zahl der Opfer konnte der durch den Verlust an Freiheit eingetretene Schaden weder voll ausgeglichen noch voll abgegolten werden.

Arnold Strippel kümmern die parlamentarischen Erklärungen und öffentlichen Debatten wenig. Er ist jetzt ein wohlhabender Bürger. In Frankfurt-Kalbach kauft er sich eine komfortable Eigentumswohnung. Und der Ex-SS-Obersturmführer weiß seinen Besitz und seine Rechte zu wahren. Als hinter seinem Haus Bäume gepflanzt werden sollen, erscheint er auf einer Sitzung des Ortsbeirates. Einer der Teilnehmer erinnert sich: "Ein großer, strammer Mann, lautstark und selbstbewußt. Er beschwerte sich darüber, daß die Bäume seinen Balkon beschatten würden." Die Bäume werden schließlich weit weg von Strippels Wohnung gepflanzt. Doch auch in seiner bürgerlich-beschaulichen Eigentumswohnung kann er der Vergangenheit nicht entfliehen. Im November 1975 steht er mit dreizehn anderen KZ-Schergen wieder einmal vor Gericht. Diesmal im Düsseldorfer Majdanek-Prozeß.

Majdanek, die Ortsbezeichnung für ein Konzentrationslager, das fünf Kilometer östlich der polnischen Stadt Lublin von der Waffen-SS angelegt worden war. Wieviele Menschen hier in Gaskammern den Tod fanden, wieviele erschossen oder totgeprügelt wurden – keiner weiß es. Historiker nennen die Zahl von 350.000 Toten. Mehr als 1500 SS-Verbrecher und KZ-Wächter haben hier ihren mörderischen Dienst getan. Nur wenige von ihnen sind nach Ende des Krieges vor Gericht gestellt, geschweige denn verurteilt worden. Die Justiz zeigte trotz überreichen Belastungsmaterials, das aus Polen zur Verfügung gestellt wurde, nur geringes Interesse an der Verfolgung der Majdanek-Verbrecher. Zwölf Jahre lang haben die Staatsanwälte ermittelt: zunächst gegen 47 Beschuldigte, schließlich nur noch gegen 14 Angeklagte. Es ist der Rest, der in dem allzu grobmaschigen Netz der bundesdeutschen Justiz hängengeblieben ist. Ein Hundertstel der Mörderbande in Uniform. Als der Vorsitzende Richter Günter Boden im Saal L 111 des Düsseldorfer Landgerichts den Prozeß eröffnet, ahnt er noch nicht, daß dieser Prozeß zu einem der längsten in der Justizgeschichte der Bundesrepublik Deutschland werden wird. Erst im Mai 1981 sollten die Urteile verkündet werden. Und er kann an diesem Tag nicht wissen, daß dieser über fünfjährige Prozeß, dieser jahrelange Streit über Täter und Taten, über Schuld und Strafe eher zum Symbol für die deutsche Rechtsprechung werden würde, als Wirklichkeit und Dimension der "Todesfabrik von Lublin" erkennbar zu machen.

Am Eröffnungstag des Prozesses steht auch Arnold Strippel auf der Anklagebank. Der Vorwurf: In Majdanek soll er im Juli 1942 an der Tötung von 42 sowjetischen Kriegsgefangenen beteiligt gewesen sein. Selbstverständlich – der Angeklagte Strippel streitet alles ab. Wieder einmal. Mit düsterer Miene, zeitweise seine Augen mit einer dunklen Sonnenbrille geschützt, dann wieder den Eindruck verbreitend, dies alles langweile ihn, ginge ihn nichts an, sitzt er auf der Anklagebank. Am 337. Verhandlungstag, es ist der 6. Juni 1979, kommt es im Gerichtssaal zu einem Tumult – Strippel gerät ungewollt in den Mittelpunkt. Im Zuhörerraum verfolgen elf Franzosen, Mitglieder der Vereinigung "Söhne und Töchter deportierter Juden aus Frankreich", den Prozeß. Unter ihnen der Pariser Zahnarzt Henri Morgenstern. Sein Vater ist in Dachau ermordet worden, seine Cousine Jacqueline ist am 20. April 1945 im Keller der Hamburger Volksschule am Bullenhuser Damm gehängt worden. Sie war gerade zwölf Jahre alt. Kommandoführer der Mordaktion war Arnold Strippel.

"Nazimörder, Nazimörder!" skandiert die Gruppe und sie zeigt auf Strippel. Saalordner greifen ein, die Richter verlassen den Saal, mit ihnen einige Angeklagte und deren Anwälte. Strippel bleibt demonstrativ sitzen. Henri Morgenstern stellt sich vor ihn. Mit ungeheurer Erregung beginnt er zu reden – in deutscher Sprache:

"Wir sind hier, weil wir die Kinder der Opfer sind, die Sie hingerichtet haben. Daß wir heute noch leben, haben wir einem wahren Wunder zu verdanken. Es ist fast unglaublich, daß heute überhaupt noch jemand von uns diesen Protest erheben kann, weil nahezu alle Juden hingerichtet wurden. Seht Strippel an, diesen Mörder, der es nicht wagt, mir ins Gesicht zu sehen, ein Feigling, ein Kindermörder! Er hat meine kleine Cousine Jacqueline Morgenstern aufgehängt - Sehen Sie diesen Mörder an, wie er seinen Kopf senkt!"

Quelle: Leseprobe Nomen Verlag, Frankfurt/Main:

VirtualVoices by GELSENZENTRUM: Den zwanzig ermordeten jüdischen Kindern zum Gedenken.
Hintergrunggrafik: Der Schmetterling gilt als Zeichen der Vergänglichkeit, des flüchtigen Lebens, symbolisiert aber auch die Unvergänglichkeit, die Verwandlung zu einem neuen Leben. Von seinem Ursprung her ein antik-hellenistisches Symbol, wurde es im späten 18. Jahrhundert wieder beliebter. Der Schmetterling als Sinnbild der Psyche symbolisiert die in verschiedenen Metamorphosen beständige "unsterbliche Seele".

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Andreas Jordan, September 2008

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