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Skelette für Straßburg - Jeanette Passmann, Gelsenkirchen

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Kaufmannswitwe Jeanette Passmann geborene Vogelsang, Gelsenkirchen

Jeanette Passmann, geb. Vogelsang

Jeanette Passmann, geb. Vogelsang

Jeanette Passmann geb. Vogelsang, geboren am 28. Februar 1878 in Gelsenkirchen. Heiratet den Kaufmann Hermann Passmann (geboren am 11. Juni 1869 in Issum). Zwei Kinder: Kurt (geboren am 20. November 1909 in Geldern, gestorben in den 1990ern in Montreal) und Ilse Henriette (geboren am 9. Februar 1911 in Geldern, heiratet 1934 in Köln Erich Salm und emigriert mit ihm nach Chicago, gestorben im Juli 1989 in Miami). Das Ehepaar Passmann emigriert im Juli 1934 in die Niederlande und lebt in Roermond. Dort stirbt Hermann Passmann am 26. Januar 1935. Sohn Kurt gelingt es nach der Okkupation der Niederlande mit einem niederländischen Offizier über den Kanal nach Großbritannien zu fliehen. Die Briten bringen ihn nach Kanada, wo er zunächst interniert wird. Nach dem Krieg heiratet er in Kanada. Jeanette Passmann findet einen Schlepper, der ihr verspricht, sie gegen 10000 Gulden in die Schweiz zu bringen. Stattdessen wird sie am 15. Februar 1943 in Mechelen interniert und am 19. April 1943 mit dem Zug von Mechelen nach Auschwitz deportiert. Am 22. April 1943 kommen mit diesem Transport 507 Männer, 121 Jungen, 631 Frauen und 141 Mädchen, allesamt Juden, dort an. Nach der Selektion werden 276 Männer und 245 Frauen als Häftlinge ins Lager geschickt, die übrigen 879 Personen sofort in der Gaskammer umgebracht. 30. Juli 1943 Deportation ins KZ Natzweiler-Struthof. Dort am 11. oder 13. August 1943 ebenfalls in der Gaskammer ermordet.

Lesung: "Die Namen der Nummern" in Gelsenkirchen

Bereits im Frühjahr 2007 hat der Autor, Herr Dr. Hans Joachim Lang die Einladung von GELSENZENTRUM zu einer Autorenlesung in Gelsenkirchen angenommen. Leider war es uns bisher nicht möglich, geeignete Räumlichkeiten für eine Lesung ausfindig zu machen. Die letzte Absage kam von der Dokumentationsstätte "Gelsenkirchen im Nationalsozialismus" an der Cranger Straße in Erle. Frau Birgit Klein, Leiterin der Dokumentationsstätte "Gelsenkirchen im Nationalsozialismus", antwortete am im Februar 2008 auf meine Anfrage, die Autorenlesung in der Dokumentationsstätte stattfinden zu lassen:

Sehr geehrter Herr Jordan,

vielen Dank für Ihre Information und der diesbezüglichen Anfrage. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass unsere gegenwärtige Konzeption der Veranstaltungsreihe in der Dokumentationsstätte nicht für Lesungen ausgerichtet ist. Ganz bestimmt ist es ein beeindruckendes Buch, in dem nicht nur emotional die Schicksale der jüdischen Frauen und Männer den Lesern bzw. Zuhörern nahegebracht werden. Leider weiß ich zurzeit auch keine andere Möglichkeit. Sie können mich gerne auch unter der angegebenen Rufnummer erreichen. Mit freundlichen Grüßen, Birgit Klein

Birgit Klein
Institut für Stadtgeschichte (ISG)
NS-Dokumentationsstätte/Wissenschaftspark
45886 Gelsenkirchen, Munscheidstraße 14


Die Namen der Nummern

Skelette für Straßburg
Eines der grausigsten Wissenschaftsverbrechen des "Dritten Reiches" ist endlich aufgeklärt

Kein Foto, kein Brief ist Henri Litchi von seinen Eltern geblieben. Der 68-jährige Pariser Drogist besitzt nur einige wenige Dokumente über sie. Zu den Originalen unter diesen Papieren gehört die Heiratsurkunde. Esther Scialom und Ichay Litchi schlossen demnach am 12. September 1929 in Thessaloniki den Ehebund. Bald darauf wanderten sie nach Frankreich aus. Doch wann genau und warum, ob direkt nach Paris oder erst über einen Umweg: Henri Litchi kennt die Antworten nicht.

Zu seinen eigenen frühesten Erinnerungen zählt eine Zugfahrt im Winter 1942, die ihn und seine ältere Schwester Arlette in ein französisches Pyrenäendorf führte. Wer hat die beiden in Paris an den Bahnhof gebracht? Auch so eine unbeantwortete Frage. Seine Mutter jedenfalls nicht, denn sie starb ausweislich der Todeserklärung am 24. Februar 1941 nachts um 23.50 Uhr in einer Pariser Klinik. In dem Bergdorf wurden Henri und Arlette von einer Pflegemutter erwartet, die beide Kinder sicher durch den Krieg lotste. "Ich habe gute Erinnerungen an sie«, blickt Henri Litchi dankbar zurück. "Sie hatte eine ähnliche Stimme wie meine Mutter." Eine ferne Stimme, das ist alles, was ihm von seiner Mutter geblieben ist.

Nach dem Krieg erfährt er, dass auch sein Vater tot ist. Gestorben im NS-Internierungslager Drancy. Doch das stimmt nicht. Hätte Henri Litchi auch nur die Spur einer Ahnung gehabt, dann hätte er gewiss in Serge Klarsfelds Buch "Le Mémorial de la Déportation des Juifs de France" (1983) geblättert: Darin sind sämtliche Transporte der französischen Juden in die Vernichtungslager der Deutschen aufgeführt und Name für Name 33.000 Deportierte genannt. Auch Ichay Litchi, der am 9. Februar 1943 mit 1.000 französischen Juden im Transport Nr. 47 von Drancy nach Auschwitz verschleppt wurde, am 11. Februar 1943 dort ankam und den die SS, derweil sie die Übrigen sofort ermordete, mit 76 Männern und 91 Frauen ins Lager schickte. Doch auch dies ist erst die halbe Wahrheit. Denn zur ganzen Wahrheit gehört, dass Litchi in Auschwitz zwei Anthropologen in die Hände fiel und am 30. Juli 1943 zusammen mit weiteren 85 selektierten Häftlingen ins elsässische KZ Natzweiler-Struthof verschleppt wurde.

Die beiden aufstrebenden jungen Wissenschaftler waren Anfang Juni 1943 nach Auschwitz gekommen: Der 32-jährige Bruno Beger aus München, wo er an einem Institut eine Tibet-Expedition auswertete, und aus Tübingen der 31-jährige Hans Fleischhacker, der tags vor der Abreise seine Habilitation mit der Probevorlesung abgeschlossen hatte. Dem Frankfurter Landgericht werden die beiden Forscher knapp 30 Jahre später erklären, dass sie in Auschwitz Häftlinge vermessen hätten, um unterschiedliche Techniken für eine gemeinsame rassenkundliche Expedition in den Kaukasus aufeinander abzustimmen.

Tatsächlich jedoch handelten Beger und Fleischhacker im Auftrag der SS-Wissenschaftsorganisation Ahnenerbe, die nach Kräften einen Plan des Anatomieprofessors August Hirt unterstützte. Hirt, Jahrgang 1898, war 1936 an die – von den Nazis nach ihrem frühen Vordenker in Rassenfragen Ernst Moritz Arndt benannte Universität Greifswald berufen worden und arbeitete (nach einer Zwischenstation in Frankfurt am Main) seit 1941 an der so genannten Reichsuniversität Straßburg. Hier leitete er die Anatomie, ließ sich als Mitarbeiter für das Ahnenerbe gewinnen und wollte die historische Schädelsammlung am Institut zu einem Panoptikum der Rassenpropaganda ausbauen. Dazu hatte er zunächst die Absicht bekundet, unter russischen Kriegsgefangenen eine Auswahl zu treffen: "In den jüdisch-bolschewistischen Kommissaren, die ein widerliches, aber charakteristisches Untermenschentum verkörpern, haben wir die Möglichkeit, ein greifbares wissenschaftliches Dokument zu erwerben, indem wir ihre Schädel sichern." Eine nicht genannte Anzahl dieser Gefangenen sollte anthropologisch vermessen und anschließend ermordet werden. "Für die Aufbewahrung und die Erforschung des so gewonnenen Schädelmaterials", meinte Hirt, "wäre die neue Reichsuniversität Straßburg ihrer Bestimmung und ihrer Aufgabe gemäß die geeignetste Stätte."

Die Alliierten rücken heran – die Mörder geraten in Panik

In Zusammenarbeit mit dem Ahnenerbe war bald allerdings nicht mehr nur von einer »jüdischen Schädelsammlung«, sondern von einer »jüdischen Skelettsammlung« die Rede. Warum die SS-Mediziner anstelle russischer Kriegsgefangener schließlich KZ-Häftlinge als Opfer bevorzugten, lässt sich aus den wenigen erhaltenen Akten nicht entnehmen. Aus der lückenhaften Korrespondenz der an dem Verbrechen beteiligten Ahnenerbe-Mitglieder kann man herleiten, dass 150 Häftlinge in Auschwitz vermessen werden sollten. Es war beabsichtigt, sie in Auschwitz zu ermorden und die konservierten Leichen nach Straßburg zu bringen. Nicht ganz klar ist, nach welchen Kriterien und bei welcher Gelegenheit Beger und Fleischhacker die Opfer für ihren Auftrag auswählten. "Mir ist in Erinnerung«, berichtete Beger später vor Gericht, »daß ich, als ich erstmals in meinem Leben im KL Auschwitz einer größeren Gruppe von Juden gegenüberstand, von der anthropologischen Vielgestaltigkeit überrascht war."

Die beiden Forscher "bedienten sich". Sie selektierten, klassifizierten und hätten wohl 150 Frauen und Männer "bearbeitet", wie sie es intern nannten. Doch wegen einer Fleckfieberepidemie mussten sie ihren Auftrag vorzeitig abbrechen. Die bereits erfassten Frauen und Männer wurden vorübergehend unter Quarantäne gestellt und schließlich mit der Reichsbahn nach Natzweiler ins Elsass deportiert, wo der Auftrag kaltblütig zu Ende geführt werden sollte. Die selektierten Frauen und Männer hätten sich, berichtete eine Augenzeugin nach dem Krieg, "voller Freude" verabschiedet, weil sie der Lüge glaubten, in ein besseres Lager zu kommen. Das war am 30. Juli 1943. "Wir haben nie wieder etwas von ihnen gehört."

Es waren 29 Frauen und 57 Männer. Sie kamen nach dreitägiger Fahrt in dem knapp 60 Kilometer südwestlich von Straßburg in den Vogesen gelegenen Lager an. Dort standen noch Röntgenaufnahmen der Schädel und Bestimmungen der Blutgruppe an. Am 11., 13., 17. und 19. August vergiftete der Lagerkommandant die 86 Personen in einer Gaszelle außerhalb des Lagers. Der 2,40 Meter breite, 3,50 Meter tiefe und 2,60 Meter hohe Raum, ursprünglich der Kühlraum des Hotels Struthof, war zunächst ausschließlich für Giftgasexperimente von Medizinprofessoren an Häftlingen umgebaut worden.

SS-Männer brachten die Leichen auf Lastwagen nach Straßburg zum Anatomie-Institut der Universität. "In diesem Augenblick«, erinnerte sich Hirts Anatomiehelfer Henry Henrypierre 1946 als Zeuge im Nürnberger Ärzteprozess, "dachte ich im Stillen, dass es sich um Opfer handeln müsse, die, meiner Meinung nach, vergiftet oder erstickt" worden waren; denn "keines der Opfer aus vorhergegangenen Konservationen zeigte solche Spuren […]. Daher habe ich ihre Gefangenennummern vom linken Arm abgeschrieben auf ein Stück Papier und habe sie heimlich bei mir aufbewahrt."

Die konservierten Körper wurden im Anatomie-Keller in Behälter gelegt. Doch die weitere Untersuchung und Verarbeitung der Leichen kamen nicht recht voran. Die Kriegslage verschlechterte sich für die Wehrmacht, Material fehlte, andere Aufgaben hatten Vorrang. Als die Alliierten von Westen her näher rückten, wurde im August 1944 in Berlin beschlossen, die für kriegswichtig eingeschätzten Abteilungen der Reichsuniversität Straßburg nach Tübingen zu verlagern. Damit stellte sich für Hirt und seine Komplizen die Frage, wie mit den verräterischen Leichen zu verfahren sei. Man könne "Entfleischung und damit Unkenntlichmachung vornehmen, dann allerdings Gesamtarbeit teilweise umsonst", gab Ahnenerbe-Geschäftsführer Wolfram Sievers seinem Vorgesetzten per Fernschreiben zu bedenken, dem in allen Einzelheiten unterrichteten SS-Führer Heinrich Himmler.

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Wie die meisten Mörder in Panik, so begannen Mitte oder Ende September 1944 auch Hirts Helfer, die Leichen unkenntlich zu machen. 70 Köpfe und vermutlich 55 Rumpfteile transportierten sie zum städtischen Krematorium. 16 unversehrte Leichen legten sie – 2wie die Sardinen2, beschrieb hernach Henry Henrypierre die grausige Aktion – in drei Bottichen nebeneinander, das Übrige vermengten sie mit Leichenresten, die in Lehrveranstaltungen verwendet worden waren.

Am 23. November 1944 wurde Straßburg aus den Händen der Wehrmacht befreit. Drei Wochen danach begann die französische Militärjustiz mit ihren Nachforschungen. Ihr gelang es in mühevollen Ermittlungen, den Tatort und die ungefähren Umstände des Verbrechens herauszufinden, doch den Transport der Häftlinge von Auschwitz ins Elsass offenbarte erst die Vernehmung des Lagerleiters Josef Kramer im April 1945. Zu einer Obduktion der Leichen und Leichenteile, die weiterhin im Anatomie-Keller verblieben waren, kam es im Juli 1945 bei der Vorbereitung des Nürnberger Ärzteprozesses. Dabei fanden die französischen Gerichtsärzte noch an 13 Leichen und an drei Leichenteilen die Tätowierungen aus Auschwitz und gaben die Nummern zu Protokoll. Als Anhaltspunkt für die Identifizierung der Leichen wurden sie jedoch nie zurate gezogen.

August Hirt, dessen Anteil an dem Verbrechen den Ermittlern bald klar war, verurteilte das Militärgericht Metz am 23. Dezember 1953 in Abwesenheit zum Tode. Doch da war der Anatom, der sich vom November 1944 an in Tübingen aufgehalten hatte und Mitte April im Hochschwarzwald untergetaucht war, bereits tot: Hirt hatte sich am 2. Juni 1945 in der Gegend von Schluchsee mit einem Schuss in den Kopf selbst getötet. Wolfram Sievers wurde im Nürnberger Ärzteprozess zum Tode verurteilt und am 2. Juni 1948 in Landsberg am Lech hingerichtet.

Bruno Beger und Hans Fleischhacker standen erst 1970 vor Gericht, angeklagt wegen Beihilfe zum Mord. Das Landgericht in Frankfurt am Main sprach Fleischhacker frei; er konnte seine wissenschaftliche Arbeit an der dortigen Universität fortsetzen. Beger verurteilten die Richter wegen Beihilfe zu 86fachem Mord zur Mindeststrafe von drei Jahren. Ihm wurden die Internierung nach dem Krieg und die Untersuchungshaft angerechnet und der Strafrest wegen guter "Lebensführung" erlassen.

Der heimliche Zettel des einzigen Zeugen

Nach der Herkunft der 86 Leichen im Keller der Straßburger Anatomie hat die französische Militärjustiz zwar gefragt, doch von einer Erforschung ihrer Identität ist nichts bekannt. Unabhängig davon, ob jemals ein Interesse daran bestand, verblassten solche Fragen mit der Zeit, denn viel Wissenswertes aus den Nachforschungen der Justiz verschließt noch immer das anachronistische französische Archivgesetz. Unter den unzugänglichen Dokumenten dürfte sich der wohl einzig verbliebene Wegweiser zu den Namen der Opfer befinden: die heimlichen Notizen Henry Henrypierres, des Angestellten des Anatomischen Instituts.

1998 machte ich mich auf die Suche. Von großer Hilfe war dabei das erst wenige Jahre zuvor eröffnete Washingtoner Holocaust-Museum. Dessen Archiv hatte gerade Mikrofilme von Akten aus dem Straßburger Departement-Archiv erhalten, die auch eine Schreibmaschinen-Abschrift des Henrypierreschen Schlüsseldokuments enthielten. Mit Hilfe dieses Papiers sowie weiterer Quellen aus den Archiven in Auschwitz und Jad Vaschem in Jerusalem ließen sich die KZ-Nummern wieder in Namen übersetzen. Identifiziert waren damit die Opfer indes noch nicht.

Die polnische Historikerin Danuta Czech hat 1989 in ihrem voluminösen Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau anhand von Archivunterlagen dokumentiert, an welchen Tagen Deportationszüge aus welchen Orten eintrafen, wie viele Personen davon die SS sofort im Gas ermordete und welche KZ-Nummern für jene Männer und Frauen vergeben wurden, die man ins Lager schickte. So ließ sich beispielsweise die Nummer 79238 von Henrypierres Zettel einem Mann zuordnen, der unter 532 Juden aus Norwegen via Stettin nach Auschwitz deportiert worden war, Ankunft am 1. Dezember 1942. Ein anderer Häftling mit der Nummer 101089 war männlich und am 11. Februar 1943 unter 1.000 Juden angekommen: ein Transport aus dem Lager Drancy bei Paris. Die Nummer 107801 kennzeichnete einen Mann aus Berlin, eingetroffen am 13. März 1943, und die Nummer 38790 eine Frau, die am 30. März 1943 aus Thessaloniki nach Auschwitz verschleppt worden war. Übertragen auf die genannten anderen Dokumente, ließ sich nun sagen, dass der aus Norwegen deportierte Mann Frank Sachnowitz hieß, der aus Drancy Ichay Litchi, der aus Berlin Menachem Taffel, geboren am 21. Juli 1900 in Sedriczow, und die Frau aus Thessaloniki Bella Alaluf, Jahrgang 1923.

Nach und nach erschloss sich auf diese Weise, dass die 86 Frauen und Männer, die in Natzweiler ermordet wurden, zwischen dem 1. Dezember 1942 und dem 19. Mai 1943 aus acht Ländern in Auschwitz eingetroffen waren. 19 Frauen und 26 Männer hatte man aus Griechenland verschleppt, 23 Männer und 3 Frauen aus Deutschland, 6 Frauen aus Belgien, 4 Männer aus Polen, 2 Männer aus den Niederlanden, 2 Männer aus Frankreich, einen aus Norwegen.

Diejenigen, die aus Berlin und aus Thessaloniki nach Auschwitz deportiert worden waren, hatten die Fahrt in den sicheren Tod unmittelbar von ihrem letzten Wohnort aus antreten müssen. Von den Berlinern war ein erheblicher Teil noch nicht lange in der Reichshauptstadt zu Hause gewesen – mancher, wie Heinz Frischler oder die Putzmacherin Else Leibholz, hatte sich einst aus dem Osten vor Pogromen oder aus Sorge wegen einer ungewissen Zukunft hierher geflüchtet. Den Elektrotechniker Paul Krotoschiner und den bei Siemens-Schuckert als Zwangsarbeiter eingesetzten Kaufmann Gustav Seelig hatte die Gestapo bei der so genannten Fabrikaktion in Berlin überfallartig verhaftet. Andere Deportierte wie Jeannette Passmann aus Gelsenkirchen, die Düsseldorfer Schneiderin Brandel Grub und die Pfeifenhändlerstochter Elisabeth Klein aus Wien waren unter großen Entbehrungen nach Belgien emigriert und nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Fänge der Nazis geraten. Wieder andere hatte man zunächst aus ihren Dörfern vertrieben und in ein städtisches Ghetto gepfercht, wie Kalman Bezsmiertny ins Ghetto von Bialystok, ehe sie von dort in das Vernichtungslager verschleppt wurden.

Die Täter sollen nicht das letzte Wort haben

Um diese Topologie des Terrors zu ergründen, ihr Gestalt zu geben und die Opfer zu finden, bedurfte es verzweigter Recherchen, die immer wieder auch an Grenzen stießen. Denn ich hatte nicht einkalkuliert, dass mich die Schicksale der gesuchten 86 Personen gleich mit der ganzen europäischen Dimension des Holocaust konfrontieren würden.

Gerade als es gelungen war, die Nummern in Namen zurückzuführen, stieß ich auf die Arbeit eines französischen Historikers. Auf den Spuren eines Unbekannten heißt das Buch, 1999 erschienen, in dem Alain Corbin demonstriert, wie er einer willkürlich aus einem Findbuch herausgesuchten Person – der Zufall bestimmte einen französischen Holzschuhmacher aus dem 19. Jahrhundert – anhand von Verwaltungsakten und anderen zugänglichen Dokumenten zu Gestalt verhilft. Corbin gab den Ansporn weiterzusuchen. Konnte er sich allerdings auf die Suche nach einer Person konzentrieren, so hatte ich ein Vielfaches vor mir. Doch auch in den Zielen unterschieden wir uns. Ihn verbinde, schreibt Corbin, mit seiner historischen Recherche kein Glauben, keine Mission, kein Engagement. Ich dagegen war Partei – zwar nicht bei der objektiven Rekonstruktion der Tatzusammenhänge, wohl aber in dem Sinn, anonym gebliebenen Opfern eines Verbrechens ein Gesicht zu geben. Dies auch um ihrer Angehörigen willen, die, wie mir immer wieder bestätigt wurde, Gewissheit haben wollten, so schrecklich sie sich auch ausnähme.

Vor allem aber sollten die Täter nicht das letzte Wort haben. Ihre Namen gehören in die Verbrecherkartei der Geschichte, wer will, mag sie dort finden. Doch erinnert und im Gedächtnis bewahrt werden sollen die, die zu wissenschaftlichen Zwecken ermordet wurden, ihres Namens, ihrer Identität beraubt. Jeannette Passmann, geborene Vogelsang, die Kaufmannswitwe aus Gelsenkirchen, und Frank Sachnowitz, der 17-jährige Norweger aus Larvik. Und Ichay Litchi, geboren am 13. Juli 1911 in Thessaloniki, seit Anfang der dreißiger Jahre ein beliebter Schuhmacher in Paris, Rue Abbé Groult No. 65; Vater von vier Kindern, einer Tochter und drei Söhnen, von denen einer Henri heißt.

Quelle: Hans-Joachim Lang: "Die Namen der Nummern", Verlag Hoffmann und Campe, 2004.
Aus: DIE ZEIT Nr.35 19. August 2004


Andreas Jordan, September 2008

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