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Gemeinsam Gedenken am 27. Januar 2010

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"Die Erinnerung darf nicht enden; sie muß auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen. Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnerns zu finden, die in die Zukunft wirkt. Sie soll Trauer über Leid und Verlust ausdrücken, dem Gedenken an die Opfer gewidmet sein und jeder Gefahr der Wiederholung entgegenwirken. Ich erkläre den 27. Januar zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus."

Roman Herzog

"Gemeinsam Gedenken" am Internationalen Holocaust-Gedenktag in Gelsenkirchen

Schweigemarsch am Internationalen Holocaust-Gedenktag 2010 in Gelsenkirchen

Bild: Schweigemarsch am Internationalen Holocaust-Gedenktag 2010 in Gelsenkirchen

Die Witterungsverhältnisse erinnerten an die Nacht vor 68 Jahren, an den 27. Januar 1942 in Gelsenkirchen. Von Zeitzeugen, die in jener Nacht vom Sammellager an der Wildenbruchstrasse (ehemalige Ausstellungshalle) zum Güterbahnhof getrieben wurden, wissen wir, dass es in jener Nacht ebenfalls bitterkalt war.

Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen an der Veranstaltung "Gemeinsam Gedenken" hatten sich an der Wildenbruchstrasse/Ecke Fontanestrasse versammelt, um in einem Schweigezug den Weg zu gehen, den die Gelsenkirchener Juden am 27. Januar 1942 gehen mußten, bevor die Nazis die Menschen in den wartenden Deportationszug trieben. Unweit des alten Güterbahnhofs begingen die Anwesenden dann gemeinsam den Holocaust-Gedenktag.

Eröffnet wurde die Gedenkveranstaltung von Heike Jordan, Projektleiterin des Arbeitskreises Stolpersteine in Gelsenkirchen mit dem Vortrag des Gedichtes "Schlaflied für Daniel" von Siegfried Einstein, gefolgt von der Begrüßung durch Andreas Jordan vom Verein GELSENZENTRUM, der anschließend auch das Grußwort des 2. Vorsitzenden des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma Nordrhein-Westfalen, Herr Roman Franz jr. zur Gedenkveranstaltung "Gemeinsam Gedenken" und zum Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz verlas, da Herr Franz krankheitsbedingt nicht persönlich teilnehmen konnte.

Lothar Wickermann sprach für die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der AntifaschistInnen (VVN/BdA). Die Veranstaltung schloß mit der Rede von Elena Gubenko vom jüdischen Kulturverein KINOR, die auch Grußworte von Lew Belogolowski, einem der letzten in Gelsenkirchen lebenden jüdischen Kriegsveteranen der Roten Armee und von Felix Lipski (Bochum), einem Überlebenden des Ghettos Minsk, überbrachte. Die Redebeiträge werden hier ungekürzt wiedergegeben.

Heike Jordan, Projektleiterin Stolpersteine in Gelsenkirchen:

Schlaflied für Daniel

Wir fahren durch Deutschland, mein Kind.
Und es ist Nacht.
Die Scheiben klirren im Wind,
da sind die Toten erwacht,

die Toten von Auschwitz, mein Sohn.
Du weißt es nicht
und träumst von Sternschnupp' und Mohn und Sonn- und Mondgesicht.

Wir fahren durch Deutschland, mein Kind.
Und es ist Nacht.
Die Toten stöhnen im Wind:
viel Menschen sind umgebracht.

Du darfst nicht schlafen, mein Sohn,
und träumen von seliger Pracht.
Sieh doch! Es leuchtet der Mohn
wie Blut so rot in der Nacht.

Wir fahren durch Deutschland, mein Kind.
Und es ist Nacht.
Die Toten klagen im Wind -
und niemand ist aufgewacht...

Schlaflied für Daniel - geschrieben für alle Toten, die vergessen sind, weil sie "nur Juden" waren. Von Siegfried Einstein, 1961.


Andreas Jordan, Vorsitzender des gemeinnützigen Vereins Gelsenzentrum:

Heute, am 27. Januar 2010, am 65. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee möchte ich euch, die Teilnehmer und Teilnehmerinnen am Gemeinsamen Gedenken hier in unmittelbarer Nähe des alten Güterbahnhofs Gelsenkirchen herzlich bergrüßen.

Der Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz wurde 1996 auf Initiative des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog zum offiziellen deutschen Gedenktag für alle Opfer des Nationalsozialismus erklärt. Dieser Tag, der 27. Januar soll nun seinen festen Platz in der Gelsenkirchener Erinnerungskultur finden, mit unserem öffentlichen, gemeinsamen Gedenken wollen wir heute ein Zeichen dafür setzen.

An diesem 27. Januar im Jahre 1942 verließ der erste Deportationsszug der deutschen Reichsbahn mit 355 jüdischen Menschen den alten Güterbahnhof, in dessen unmittelbare Nähe wir uns heute zum Gemeinsamen Gedenken zusammen gefunden haben. In den folgenden Monaten verließen weitere Transporte die Stadt, von hier wurden auch mehr als 400 Sinti und Roma aus Gelsenkirchen in den Tod deportiert.

Als sowjetische Soldaten am 27. Januar 1945 das Konzentrationslager Auschwitz erreichten, waren sie entsetzt. Sie hatten im Krieg viel Leid und viele Tote gesehen - aber das, was in Auschwitz passiert war, hatten sie noch nie gesehen: Fünf Jahre lang hatten die Nationalsozialisten dort Menschen gequält, gefoltert und mehr als eine Million von ihnen ermordet.

Der 27. Januar ist der Tag des Gedenkens an alle Opfer des Nationalsozialismus, an Juden, an Sinti und Roma, an Bibelforscher, an behinderte Menschen, an Homosexuelle, an politisch anders Denkende, an Männer und Frauen des Widerstandes, an Wissenschaftler, an Künstler, an Journalisten, an Kriegsgefangene und Deserteure, an Greise und Kinder an der Front, an Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und an die Millionen Menschen, die unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft entrechtet, verfolgt, gequält und ermordet wurden. Auschwitz ist das Synonym für den systematischen Völkermord der Nazis an fast 12 Millionen Menschen. Auschwitz ist Ausdruck des Rassenwahns und das Kainsmal der deutschen Geschichte. Der 27. Januar ist somit ein besonderer Gedenktag. Er soll an die schrecklichen Verbrechen der Nationalsozialisten erinnern, er soll an alle NS- Opfer erinnern. Gedenken und Nachdenken über die Vergangenheit schaffen Orientierung für die Zukunft. Das ist wichtig, damit so etwas wie in Auschwitz nie wieder passiert.

Roman Franz jr., 2. Vorsitzender des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma in NRW:

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Der Name Auschwitz steht auch für den rassistischen Völkermord der Nationalsozialisten an den Sinti und Roma. Alleine im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau wurden fast 20.000 Sinti und Roma ermordet. Aber nicht nur dort, sondern in unzähligen Lagern und Ghettos haben die Angehörigen unserer Minderheit gelitten und sind zu Tode gekommen – aus dem einzigen Grund, dass sie als Sinti oder als Roma geboren waren.

Es waren insgesamt etwa eine Halbe Million Menschen: Männer, Frauen und in großer Zahl Kinder, denen die Nazis aus ihrer rassistischen Ideologie heraus den Lebensweg abschnitten. An diese Menschen denken wir am heutigen Tag.

Auschwitz war nicht der Anfang der rassistischen Verfolgung, und mit der Befreiung hörte das Leiden der Überlebenden nicht auf. Auch daran müssen wir heute erinnern. Es gab eine Politik, die zu Auschwitz führte, und es gab das öffentliche Handeln von vielen Beteiligten, das den Massenmord erst möglich machte und organisierte. Für die Gelsenkirchener Sinti hatte Auschwitz hier begonnen, in dieser Stadt. Sie wurden schon ab 1937 von der übrigen Bevölkerung isoliert, völlig entrechtet und in Sammellager gepfercht: Zuerst an der Cranger Straße, ab 1940 dann an der Reginenstraße.

Isolierung, Freiheitsberaubung und Kontrolle reichten den Nazis jedoch nicht. Die Rassenideologie zielte auf die völlige Auslöschung der von ihnen als "artfremd" gestempelten Menschen. Und die örtlichen Behörden spielten dem zu. Über 400 Sinti wurden von hier deportiert – die meisten von ihnen im März 1943 nach Auschwitz. Den wenigen überlebenden Sinti und Roma wurde nach der Befreiung durch die anhaltend feindselige und rassistische Einstellung fast der ganzen Gesellschaft ein "Neuanfang" nahezu unmöglich gemacht. Der Völkermord an unserer Minderheit wurde noch bis 1982 verdrängt und geleugnet.

Forderungen nach einem "Schluss-Strich" und nach einer so genannten "Normalität nach Auschwitz" – gemeint ist damit "ohne Auschwitz" – hört man stattdessen bis heute umso lauter. Diese kann und wird es jedoch nicht geben. Wir sagen das nicht beschuldigend oder anklagend. Aber wir, auch die jungen Generationen, sagen: Wir werden nicht vergessen, wohin Hass und Rassismus geführt haben. Und wir erwarten, dass auch alle anderen in unserem gemeinsamen Heimatland das nicht verdrängen. Denn heutige Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus sind keineswegs harmloser als damals. Von uns bleibt daher Wachsamkeit gefordert. Alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes haben die Verantwortung dafür, dass sich Auschwitz niemals wiederholt.

Meine Damen und Herren!

Dem Ruhrgebiet und damit auch der Stadt Gelsenkirchen ist in diesem Jahr durch den Titel "Kulturhauptstadt Europas" eine besondere Ehrung zuteil geworden. Diese Ehrung sollte für uns alle, die wir hier zusammen leben, Ansporn sein, sich für ein Miteinanderleben ohne Angst, für gegenseitige Achtung und kulturelle Vielfalt einzusetzen. Denn das ist die Grundlage unserer Kultur.

So hoffen wir, dass auch unser heutiges, gemeinsames Gedenken und viele weitere Begegnungen eine Kultur des Zusammenlebens fördern und bereichern. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Lothar Wickermann, Sprecher der VVN/BdA Gelsenkirchen

Liebe Teilnehmer dieses Gedenkmarsches! Liebe Freunde!

Zwischen 1933 und 1945 wurden auch Bürger aus dieser Stadt ausgegrenzt, gedemütigt, verfolgt, vertrieben, deportiert und ermordet. Wie - frage ich mich immer wieder – war dieses möglich? Warum wurden Menschen, die vielleicht Nachbarn waren oder Kollegen oder Schulfreunde ausgeschlossen aus der Gesellschaft? Warum galten für sie nicht Recht und Gesetz wie für alle? Warum wurden sie als so "minderwertig" angesehen, dass jegliches Gebot der Menschlichkeit für sie nicht galt?

Die deutschen Faschisten hatten es 1933 mit Demagogie und mit Gewalt geschafft, alle wichtigen Funktionen im Staat zu übernehmen. Und diese Mittel – Demagogie und Gewalt - zogen sich durch die Zeit der NS-Herrschaft wie zwei rote Fäden. Zuerst spürten die politischen Gegner der Nazis und die Bürger jüdischer Abstammung die Gewalt: Verhaftungen, Morde, Berufsverbote, Boykottaktionen gab es schon in den ersten Wochen ihrer Herrschaft. Welches Ausmaß diese Gewalt in den folgenden Jahren annehmen sollte, konnte damals wahrscheinlich noch keiner erahnen. Und doch hätte es dagegen einen Aufschrei geben müssen. Diesen Aufschrei gab es aber nicht in dem Maße, wie er notwendig gewesen wäre, um die zukünftigen Verbrechen zu verhindern. Warum?

Der Gewalt als politischem Mittel wurde die Demagogie an die Seite gestellt. So sollte sicher gestellt werden, dass das politische System der Nazis tatsächlich eine breite Unterstützung durch das Volk bekam. Einen besonderen Stellenwert innerhalb der Demagogie der Nazis spielte dabei die Volksgemeinschaftsideologie. Diese Volksgemeinschaft begründete sich in erster Linie im "Deutschsein", das hieß durch Abstammung. Wer diese zweifelhafte Abstammung nachweisen konnte, gehörte „dazu“, hatte Rechte. Andere dagegen wurden ausgegrenzt, ihnen wurde Rechte abgesprochen, sie wurden "Sündenböcke", wurden "Feinde", wurden "Schädlinge". Allein der sprachliche Gebrauch solcher Kriterien widersprach eigentlich jeglicher aufgeklärten Tradition. Und doch verfehlte die pauschale Schwarz-Weiß-Malerei der Nazis nicht ihr Ziel.

Im übersteigerten Nationalismus wurde die Bevölkerung regelrecht besoffen gemacht mit deutschem "Wir-Gefühl". Überheblichkeit gegenüber anderen wurde zur Normalität. Und andere gab es viele: Natürlich die Juden, die Sinti und Roma, ausländische Staatsbürger, Anhänger religiöser Gruppen, die politischen Gegner verschiedener Couleur, Behinderte, Homosexuelle, sogenannte "Asoziale". Gegen jegliches andere wurde die Mehrheit als Mittel eingesetzt. Und: Gegenüber Minderheiten konnte sich jedes Mitglied der Mehrheit erhaben fühlen. Darum ist es durchaus verständlich, dass es damals Menschen gab, die die Verbrechen begangen haben oder sie unterstützt haben und Menschen, die einfach weggeschaut haben, weil es ihnen egal war, was mit den anderen passiert ist. Verständlich ist es – aber es ist nicht entschuldbar!

Denn es ging auch anders: Es gab den Widerstand, der sich dieser Volksgemeinschaftsideologie widersetzte, den politischen der Kommunisten und Sozialdemokraten, der bürgerlichen Demokraten, den der Weißen Rose, es gab Opposition in den Kirchen, es gab die Edelweißpiraten und es gab die Hilfe und Unterstützung im Kleinen, Privaten. Das gab es alles auch in Gelsenkirchen. Nach einigen Gelsenkirchenern, die widerstanden haben, sind deshalb heute Plätze benannt: Margarete Zingler, Fritz Rahkob, Heinrich König, Rudolf Bertram. Sie haben gezeigt, dass einer Ideologie der Volksgemeinschaft etwas entgegen gesetzt werden kann, was in der Arbeiterbewegung und auch in den Kirchen gewachsen ist: Solidarität. Solidarität nicht als Abgrenzung gegen andere, sondern zum Schutz der anderen, Solidarität nicht als Machtmittel der Mehrheit, sondern als Hilfe für Minderheiten.

Solidarität ist immer notwendig, auch heute. Zum einen, weil es sowieso auch heute immer noch schwer ist, in der – wohlgemerkt: demokratischen – Bundesrepublik Deutschland als Nicht-Deutscher zu leben. Zum anderen, weil sich der braune Geist wieder breit macht. Weil Hass gegen Minderheiten zum politischen Programm rechter Parteien gehört, die mit Stimmungen gegen Ausländer wie selbstverständlich Wahlkampf betreiben. Der Blick in die Vergangenheit zeigt uns, dass wir Verantwortung übernehmen müssen: Wir dürfen nicht vergessen, was geschehen ist. Wir dürfen nie wieder wegschauen, wenn andere aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt werden. Wir müssen uns einmischen, um erneute Verbrechen zu verhindern. Ich würde mich freuen, wenn ich viele von Ihnen bei Solidaritäts- oder Protestaktionen gegen alte und neue Nazis wieder sehen würde.

Elena Gubenko, Vorsitzende des Jüdischen Kulturvereins KINOR:

Liebe Freunde, ich begrüße Euch recht herzlich im Namen der freien jüdischen Szene Gelsenkirchen.

Heute bei dieser Veranstaltung am Gedenken an die Opfer, an die Toten, nehmen zusammen mit Deutschen die lebendigen Nachfahren von diesen Menschen teil. Und zwar deutsche Juden, jüdische Migranten. Ihr seht hier jüdische Frauen, junge Männer und ältere Männer, sogar aus Bochum. Einer davon ist der Vorsitzende des Vereines "Forum für die Zukunft des Judentums in Deutschland e.V.", dem ich auch angehöre. Hier ist heute u. a. der Sohn von einem der letzten in Gelsenkirchen noch lebenden jüdischen Kriegsveteranen, Lew Belogolowski, anwesend. Das gemeinsame Gedenken an die Toten sehe ich als ein Anlass für Lebendige miteinander auf der Augenhöhe  zu kommunizieren, näher zusammen, näher zueinander zu kommen.

Aus der Sicht einer freien, unabhängigen und selbstbewussten jüdischen Organisation möchten wir,  der Jüdische Kulturverein KINOR, die heutige Redebeiträge mit unseren Gedanken ergänzen. Der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert nicht nur an 6 Millionen ermordeter Juden, sondern an alle Opfer eines beispiellosen totalitären Regimes während der Zeit des Nationalsozialismus. Wir finden es wichtig, dass an dem Tag nicht nur vorzüglich Juden, sondern alle dieser Bevölkerungsgruppen gleichberechtigt erwähnt werden sollen. Und wir freuen uns, dass heute in Namen der Sinti und Roma gesprochen wurde. Was aber speziell die Juden betrifft, unserer Meinung nach, braucht die Wahrnehmung der deutsch-jüdischen Geschichte im 21. Jahrhundert entsprechend neuer Realien eine Flexibilität, eine neue Sicht, neue Visionen, neue Einstellungen. Es sollen weitere Facetten der Geschichte gesehen werden.

Heute leben in der BRD und in Gelsenkirchen viele Juden aus der ehemaligen UdSSR und sind sogar die absolute Mehrheit der jüdischen Bevölkerung Deutschlands. Das ist eine der Folgen des Holocaust – die Juden aus den GUS-Ländern wurden nach Deutschland eingeladen, um das fast ganz vollständig vernichtete deutsche Judentum wieder lebendig zu machen. Wir, die "russischen" Juden, haben unsere Geschichte nach Deutschland mitgebracht. Eine Seite dieser Geschichte – der Holocaust - gehört aber zum tragischen Teil unserer gemeinsamen deutsch-jüdischen Geschichte.

Ja, der KZ Auschwitz ist ein Symbol des Holocaust geworden. Wir finden es aber wichtig, dass hier in Deutschland auch über das Ausmaß und über die Orte der jüdischen Tragödie in Osteuropa und auf dem Territorium der Sowjetunion gesprochen wird. Lasst uns nennen und nicht vergessen die Zahl der vernichteten sowjetischen Juden - mindestens 2 800 000! Und dazu 250.000 Juden, die vom Ausland in die UdSSR gebracht und hier vernichten wurden. Hier im Land und in dieser Stadt leben einige dieser Opfer des Holocaust und deren Nachgeborenen!

Aber Juden nur als Opfer zu sehen und zu zeigen, ist ein schädliches Klischee! Man soll heute laut sagen: Juden, besonderes "russische" Juden, waren Kämpfer gegen die Nazis und sogar (zusammen mit anderen) Befreier Europas vom Faschismus! Gerade ein Jude, Kapitän Schapiro, war derjenige, der als erster am 27. Januar 1945 im Bestande der Sowjetischen Armee die Tore von Auschwitz öffnete. Rund 500.000 Juden in der fünf Millionen Menschen umfassenden Roten Armee haben gegen die Nazis gekämpft. Diese Menschen haben zum Sieg über den Faschismus, der Befreiung vom Nationalsozialismus unter Einsatz ihres Lebens beigetragen. Außerdem haben die Juden auch bei den Partisanen gekämpft. Bei den sowjetischen Partisanen gab es nicht nur zahlreiche Juden, sondern sogar spezielle jüdische Partisanenbrigaden, die vor allem wegen ihres ungeheuren Mutes und Geschicks bekannt waren. Es gab auch andere Formen der jüdischen Widerstandsbewegung, z. B. Widerstand in Ghettos. Einige dieser Menschen, die "letzten Mohikaner", und ihre Nachkommen leben heute in Deutschland und in Gelsenkirchen, vielleicht auf ihrer Straße, vielleicht sogar in ihrem Haus. Lasst Euch diese Menschen kennen lernen, reicht ihnen Eure Hand!

Ich möchte die Grußworte zu unserer Aktion von zwei der "letzten Mohikaner", die persönlich heute hier nicht teilnehmen könnten, weiter geben – von einem der letzten in Gelsenkirchen noch lebenden jüdischen Kriegsveteranen, Lew Belogolowski, und von Felix Lipski, dem ehemaligen Häftling des Minsker Ghettos, heute Autor, weltweit bekannter Aktivist im Bereich Erinnerungskultur und Vertreter der Holocaust-Überlebende und Widerstandskämpfer (auch in Gelsenkirchen ist bereits gut bekannt). Nun spreche ich die Aufrufe von den beiden aus:

- Den Frieden wahren, friedlich und tolerant mit einander leben!
- Nein den Holocaustleugnern!
- Nicht vergessen!
- Nie wieder!

Schließen möchte ich mit diesen beiden Zitaten: "Wenn wir vergessen, sind wir schuldig, sind wir Komplizen" von Elie Wiesel und "Menschen! Seid wachsam!" - das sagte einst Julius Fucík. Liebe Freunde, ich danke euch für eure Aufmerksamkeit.

Bericht eines Teilnehmers: → Gemeinsames Gedenken am 27.1.2010 in Gelsenkirchen

Andreas Jordan, Januar 2010


Gemeinsam Gedenken 2010

Der Verein GELSENZENTRUM E.V. lädt zu einer Gedenkveranstaltung in Gelsenkirchen am Internationalen Holocaust Gedenktag - 27. Januar 2010 - ein. Die Veranstaltung beginnt um 19:00 Uhr mit dem Treffen an der Wildenbruch- Ecke Fontanestrasse, anschließend ist ein Schweigezug zur Verladerampe am Großmarkt geplant. Dort wird die Veranstaltung "Gemeinsam Gedenken" mit verschiedenen Redebeiträgen ergänzt und findet dort auch ihren Abschluß.

Unterstützer für diese Gedenkveranstaltung sind herzlich Willkommen! → Email an GELSENZENTRUM E.V.

Download Flyer zur Gedenveranstaltung: → "Gemeinsam Gedenken"

Unterstützter der Gedenkveranstaltung "Gemeinsam Gedenken 2010":

Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der AntifaschistInnen Gelsenkirchen (VVN/BdA)
Jüdischer Kulturverein KINOR E.V. Gelsenkirchen

27. Januar 2010 - Internationaler Holocaust-Gedenktag

Der 27. Januar ist der Tag des Gedenkens an alle Opfer des nationalsozialistischen Gewaltregimes: an Sinti und Roma, an Juden, an Christen, an Menschen mit Behinderung, an Homosexuelle, an politisch Andersdenkende sowie Männer und Frauen des Widerstandes, an Wissenschaftler, Künstler, Journalisten, Kriegsgefangene und Deserteure, Greise und Kinder an der Front, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und an die Millionen Menschen, die unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft entrechtet, verfolgt, gequält und schließlich ermordet wurden.

Der Gedenktag wurde am 3. Januar 1996 durch Proklamation des Bundespräsidenten Roman Herzog eingeführt und auf den 27. Januar festgelegt. In Deutschland wird der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus seit 1996 begangen, den weltweiten Gedenktag gibt es nach einem UN-Beschluss seit 2005. Am 27. Januar 1945 hatten Soldaten der Roten Armee die Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau befreit. Das KZ Auschwitz (-Birkenau) steht symbolhaft für den Völkermord und die Millionen Opfer des Nazi-Regimes.

Gewidmet den Opfern der Nazi-Barbarei

Holocaust

Nach Jahrzehnten des Verleugnens und Verdrängens ist der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma inzwischen zu einem festen Bestandteil des historischen Gedächtnisses der Bundesrepublik geworden. Dies wäre nicht möglich gewesen ohne das Engagement der unmittelbar Betroffenen, also der Überlebenden und ihrer Angehörigen, die lange um die moralische Anerkennung als Opfer des Holocaust gerungen haben. Eine wichtige Station auf diesem Weg war die Einrichtung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg zu Beginn der Neunzigerjahre, wo seit März 1997 die erste ständige Ausstellung zur Vernichtung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus zu sehen ist.

An den nationalsozialistischen Massenmorden - dem Holocaust - vor allem an Millionen so genannter Slawen, meist Polen und Russen, an 500 000 Sinti und Roma, an mindestens 5,5 bis 6,5 Millionen Juden aber auch an hunderttausenden Behinderten, an etwa 20.000 deutschen Kommunisten und Sozialdemokraten, an 5.000 Homosexuellen und an 1.200 Zeugen Jehovas und weiteren unzähligen, bis heute namenlosen Opfern war nahezu der gesamte Staatsapparat beteiligt, ebenso die geistigen Eliten des so genannten "Dritten Reiches"

Die Zeit lässt uns von der Freiheit kosten

"Nur ein kleiner Zwischenfall ein paar Tage vorher: Es hatte geschneit und das Auto von einem der Nazi-Bonzen kam nicht weiter. So mussten ich und ein paar Andere den Wagen bis zur Arminstrasse schieben. Doch fühlte ich mich für eine halbe Stunde FREI."

(Bernd Haase, Überlebender der Shoa aus Gelsenkirchen in den Tagen vor der Deportation Gelsenkirchener Juden im Januar 1942. Zusammen mit vielen anderen jüdischen Menschen aus Gelsenkirchen musste Bernd Haase mit seiner Familie in der Ausstellungshalle am Wildenbruchsplatz auf die Departation warten.)

Der 27. Januar 1942 in Gelsenkirchen

Der erste und auch gleichzeitig der größte Deportations-Transport aus Gelsenkirchen fand am 27. Januar 1942 statt. 355 jüdische Mitbürger wurden zunächst - sichtbar für alle - auf dem Wildenbruchplatz in der dortigen Ausstellungshalle gesammelt.

Hulda Silberberg, einzige Schwester des Vaters von Helmut Silberberg, der sich seit Kriegsende Ed Silverberg nennt, wurde von den Nazis in den Tod getrieben. Angesichts der bevorstehenden Deportation beging sie am 3. Januar 1942 im Alter von 58 Jahren Selbstmord. Sie stach sich eine Gabel in die Halsschlagader. Hulda Silberberg wurde auf dem jüdischen Friedhof Gelsenkirchen-Ückendorf begraben. Der "Deutsche Reichsanzeiger" vom 31. Mai 1943 veröffentlicht ihre Enteignung: Hulda Silberberg, geboren am 24.05.1883 in Schubin, Vermerk "Jüdin". Datum der Verfügung 20. Juli 1942, Unterzeichner: Röer/Münster. Die Gelsenkirchener Jüdin Helene Lewek, geboren am 29. Juli 1881 in Mikstat, beging in der Ausstellungshalle am Wildenbruchplatz angesichts der bevorstehenden Deportation Selbstmord.

Viele von ihnen mussten für Ihre "Evakuierung nach dem Osten" sogar die Fahrkarten bezahlen. Am Güterbahnhof stiegen sie in die Züge - es waren Personenzüge - und wurden in das Ghetto nach Riga in Lettland geschafft. In Dortmund wurden weitere Waggons angehängt. Ein zweiter Transport ging am 31. März 1942 nach Warschau, ein dritter am 27. Juli 1942 nach Theresienstadt. Insgesamt haben von 615 deportierten Juden aus Gelsenkirchen nur 105 überlebt.

Stadtchronik

Die Chronik der Stadt Gelsenkirchen verzeichnet für den 27. Januar 1942:

"In der städtischen Ausstellungshalle ist ein Judentransport zusammengestellt worden. Es handelt sich um 506 Juden aus dem Präsidialbezirk Recklinghausen, die heute nach den Ostgebieten evakuiert werden. Unter ihnen befinden sich 350 Personen aus Gelsenkirchen. Vorerst verbleiben in unserer Stadt noch 132 meist alte und kränkliche Juden".

Der kleine Heinz

Am 27. Januar 1942 steigt in Gelsenkirchen auch der siebenjährige Heinz Goldschmidt in den Deportationszug. Auschnitt aus der Lesung von Esther Goldschmidt am 6. Februar 2009 an der Gerhard-Hauptmann-Realschule in Gelsenkirchen. Sie las aus Ihrem Buch "Vergangene Gegenwart"


Andreas Jordan, Oktober 2009

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