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Vergangenheitsbewältigung in Deutschland anno 1965


Zeitgeist 1965: Gesundes Volksempfinden

Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben...Johann Wolfgang von Goethe, Faust I

Deutsche haben im Dritten Reich rund zwölf Millionen Menschen ermordet. Sie töteten kühl und leidenschaftslos vom Schreibtisch aus wie der Vernichtungs-Prokurist Adolf Eichmann; sie töteten voll sadistischer Gier wie der Lagerführer von Treblinka, Kurt Franz, der seinen Bernhardiner Bari auf die Geschlechtsteile männlicher Häftlinge abgerichtet hatte; sie töteten mit Hühnerverstand auf Weisung höherer Wesen, wie die vorletzte Woche in München angeklagten 14 Pflegerinnen der Heil- und Pflegeanstalt Obrawalde in Brandenburg.

Deutsche Ärzte ließen KZ-Häftlinge zu Versuchszwecken Meerwasser trinken, bis sie wahnsinnig wurden. In Kowno (Litauen) erschlugen kriminelle Zuchthäusler auf SS-Befehl ihre politischen Mitgefangenen mit Eisenstangen; in Auschwitz mußte ein Sohn auf SS-Befehl seinen Vater ertränken. "Komm zurück", intonierte eine vor einem Henkerskarren hermarschierende Lagerkapelle des KZ Mauthausen mit Fiedel und Akkordeon jedesmal, wenn sie auf dem Appellplatz zur Hinrichtung eines Mithäftlings, der geflüchtet und wieder eingefangen war, aufspielte.

80 000 Deutsche sind dafür von in- und ausländischen Gerichten abgeurteilt worden. Gegen 14 000 weitere laufen Ermittlungsverfahren. Mehrere tausend Mörder aber sind noch nicht aufgespürt. Sie leben als Bürger unter Bürgern, sie halten am Zebrastreifen und streuen Asche, wenn es schneit. Sie mögen Richter oder Rentner sein, Kriminalbeamte oder Kaufleute, Ärzte oder Arbeiter. Ihre Taten werden nicht bestraft, wenn - wie das Gesetz es vorsieht - am 8. Mai dieses Jahres jeder Mord verjährt, der im Dritten Reich begangen wurde. Der Deutsche Bundestag wird am Mittwoch beraten, ob es so geschehen soll.

Dieses sind beeidete Augenzeugenberichte von Taten, die verjähren würden:

Räumung des Judenghettos in Rowno in der Ukraine in der Nacht vom 13. Juli 1942:

"Waggon auf Waggon füllte sich, unaufhörlich ertönte das Geschrei der Frauen und Kinder, das Klatschen der Peitschen, und die Gewehrschüsse ... Frauen trugen in ihren Armen tote Kinder, Kinder schleppten und schleiften an Armen und Beinen ihre toten Eltern über die Straße zum Zuge... Auf den Straßen, die ich passieren mußte, sah ich Dutzende von Leichen jeden Alters und beiderlei Geschlechts... An einer Hausecke lag ein kleines Kind von weniger als einem Jahr mit zertrümmertem Schädel. Blut und Gehirnmasse klebten an der Hauswand."

Juden-Vergasung in den Kammern des "Sonderkommandos Belzec der Waffen-SS" bei Lemberg:

"Mütter mit Kindern an der Brust, kleine nackte Kinder, Erwachsene, Männer und Frauen, alle nackt - sie zögern, aber sie treten in die Todeskammern, von den anderen hinter ihnen vorgetrieben oder von den Lederpeitschen der SS getrieben. Die Mehrzahl, ohne ein Wort zu sogen... Nach zwei Stunden 49 Minuten ... springt der Diesel an. Bis zu diesem Augenblick leben die Menschen in diesen vier Kammern, viermal 750 Menschen in viermal 45 Kubikmetern ... nach 32 Minuten ist alles tot! Von der anderen Seite öffnen Männer vom Arbeitskommando die Holztüren. Man hat ihnen - selbst Juden - die Freiheit versprochen und einen gewissen Promillesatz von allen gefundenen Werten für ihren schrecklichen Dienst. Wie Basaltsäulen stehen die Toten aufrecht aneinandergepreßt in den Kammern. Es wäre auch kein Platz, hinzufallen oder auch nur sich vornüberzuneigen.

Selbst im Tode noch kennt man die Familien. Sie drücken sich, im Tode verkrampft, noch die Hände, so daß man Mühe hat, sie auseinanderzureißen, um die Kammern für die nächste Charge freizumachen... Zwei Dutzend Zahnärzte öffnen mit Haken den Mund und sehen noch Gold. Gold links, ohne Gold rechts. Andere Zahnärzte brechen mit Zangen und Hämmern die Goldzähne und Kronen aus den Kiefern... Einige Arbeiter kontrollieren Genitalien und After nach Gold, Brillanten und Wertsachen."

Juden-Erschießungen am 5. Oktober 1942 bei Dubno:

"Eine alte Frau mit schneeweißem Haar hielt das einjährige Kind auf dem Arm und sang ihm etwas vor und kitzelte es. Das Kind quietschte vor Vergnügen. Das Ehepaar schaute mit Tränen in den Augen zu. Der Vater hielt an der Hand einen Jungen von etwa zehn Jahren, sprach leise auf ihn ein. Der Junge kämpfte mit den Tränen. Der Vater zeigte mit dem Finger zum Himmel, streichelte ihn über den Kopf und schien ihm etwas zu erklären. Da rief schon der SS-Mann an der Grube seinem Kameraden etwas zu... Ich ging um den Erdhügel herum und stand vor dem riesigen Grab. Dicht aneinandergepreßt lagen die Menschen so aufeinander, daß nur die Köpfe zu sehen waren. Von fast allen Köpfen rann Blut über die Schultern. Ein Teil der Erschossenen bewegte sich noch. Einige hoben ihre Arme und drehten den Kopf, um zu zeigen, daß sie noch lebten.

Die Grube war bereits dreiviertel voll. Ein SS-Mann saß am Rand der Schmalseite der Grube auf dem Erdboden, ließ die Beine in die Grube herabhängen, hatte auf seinen Knien eine Maschinenpistole liegen und rauchte eine Zigarette. Die vollständig nackten Menschen gingen an einer Treppe, die in die Lehmwand der Grube gegraben war, hinab, rutschten über die Köpfe der Liegenden hinweg bis zu der Stelle, die der SS-Mann anwies. Sie legten sich vor die toten oder angeschossenen Menschen, einige streichelten die noch Lebenden und sprachen leise auf sie ein. Dann hörte ich eine Reihe Schüsse. Ich schaute in die Grube und sah, wie die Körper zuckten oder die Köpfe schon still auf den vor ihnen liegenden Körpern lagen. Von den Nacken rann Blut."

Die Mehrheit der Bundesdeutschen will, daß solche Taten nicht länger strafrechtlich verfolgt werden. Bei einer Umfrage der Tübinger Wickert-Institute sprachen sich 63 Prozent der Männer und 76 Prozent der Frauen dafür aus, mit der Verfolgung von Nazi-Verbrechern aufzuhören. Das ist fast die gleiche Mehrheit der Deutschen, die für die Todesstrafe für Taximörder und Sittenstrolche eintritt. Von rund 500 Briefen, die an den Bundestag und seinen Präsidenten in letzter Zeit gerichtet waren, forderten etwa 400, die Verjährungsfrist nicht zu verlängern.

Der Philosophie-Student Hans Rüdiger Minow, 20, der zusammen mit Kommilitonen vergangenen Monat in Stuttgart eine Unterschriftensammlung zur Verlängerung der Verjährungsfrist auf der Straße durchführte, wurde tätlich angegriffen. Zuruf: "Euch hat man wohl vergessen zu vergasen."
Auf dem Aschermittwoch-Treffen der CSU in Vilshofen verkündete der CSU-Abgeordnete Franz Xaver Unertl, er habe lange darüber nachgedacht, was er der Versammlung zum Thema Verjährungsfrist sagen solle. Das Resultat Unertlschen Denkens: "Sollten wir nicht 20 Jahre nach dem Krieg mit der Entnazifizierung aufhören?" Tosender Applaus.

Dies alles sind keine Symptome für einen Neonazismus: Es ist das einst als gesund bezeichnete Volksempfinden einer Nation, die in ihrer Mehrheit den Nationalsozialismus guthieß und bis 1944 Hitler in jeder freien Wahl in seinem Amt bestätigt hätte. 20 Jahre nach der Kapitulation ist die Mär von einer dünnen NS-Oberschicht, die das deutsche Volk In den Abgrund trieb, zerstoben.

Das deutsche Volk war sowenig auswechselbar wie irgendein anderes Volk. Die Menschen, die in der Bundesrepublik Adenauer, Kennedy und de Gaulle zujubelten, waren in ihrer Masse die gleichen, die einst im Westen des Großdeutschen Reiches Hitler gefeiert haben: Und der neue deutsche Rechtsstaat, der 1949 Hitlers Erbe anzutreten hatte, konnte und wollte nicht ohne die staatserhaltenden Schichten und Personen auskommen, die das Dritte Reich mit getragen hatten.

Schon 1952 forderte Kanzler Adenauer im Bundestag die Deutschen auf, endlich "Schluß mit der Nazi-Riecherei" zu machen. Er hatte guten Grund dazu. Hitlers Juden-Kommentator Hans Globke wurde oberster Beamter des neuen Staates. Parteigenosse Theodor Oberländer (Adenauer: "Wenn Sie wollen, sogar tiefbraun"), einst Reichsführer des nach Lebensraum gierenden "Bundes Deutscher Osten" und im Krieg Ausbilder der ukrainischen Spezialeinheit "Nachtigall", der später Bluttaten in Lemberg vorgeworfen wurden, avancierte zum Vertriebenenminister. Und der Staatssekretär im Entwicklungshilfe-Ministerium ist heute jener Friedrich Karl Vialon, der im Krieg als Leiter der Finanzabteilung bei der Behörde des "Reichskommissariats für das Ostland" Wertgegenstände jüdischer NS-Opfer registrierte und die Vermietung von Juden als Arbeitskräfte veranlaßte. Gegen Vialon wurde letztes Jahr ein Verfahren wegen Meineid -Verdachts eingeleitet, weil er beschworen hatte, "der Tatbestand der Vernichtung von Juden sei ihm weder in Einzelfällen noch global während des Krieges in Weißruthenien bekannt gewesen".

Die Nazis waren 1945 nicht untergetaucht; sie waren in ihre bürgerlichen Berufe zurückgekehrt. Parteigenossen wählten, Parteigenossen rückten in Parlamente und Regierungen der Bundesrepublik ein. Ribbentrops Diplomaten eroberten Schreibtische im Bonner Auswärtigen Amt; Hitler-Generäle zogen, kaum aus sowjetischer Gefangenschaft zurück, die Bundeswehr-Uniform an. In Kiel gutachtete der Euthanasie-Professor Heyde unter dem Decknamen Sawade für die Landesregierung. Als im vergangenen Jahr im Euthanasie-Prozeß in Limburg ein Rechtsanwalt aus Hannover als Zeuge gehört wurde, der in der "Kanzlei des Führers" Gnadengesuche bearbeitet hatte, fragte der Vorsitzende ihn: "Und Sie sind wohl auch 1933 in die Partei eingetreten?" Der Zeuge war empört, als Nutznießer der Machtergreifung angesehen zu werden und antwortete, die Hand entrüstet erhoben: "Aber nein, Herr Vorsitzender, früher, viel früher."

Vor allem Justiz und Polizei waren mit Nazis gespickt. Nationalsozialisten übernahmen es, in führenden Positionen die freiheitliche Ordnung der Bundesrepublik mitzuhüten. Der inzwischen pensionierte oberste Ankläger der Bundesrepublik, Generalbundesanwalt Wolfgang Immerwahr Fränkel, hatte im Krieg in der Reichsanwaltschaft zeitweilig sogar den Blutrichter Freisler an Härte übertroffen. Der SA-Mann Joachim Loesdau wurde erst im letzten Monat zum Bundesrichter gewählt. Und in der "Sicherungsgruppe Bonn" des Bundeskriminalamtes, die den Auftrag hat, die Bundesrepublik vor Landesverrätern, Hochverrätern und Spionen zu schützen, amtierten Kriminalbeamte aus dem Einsatzkommando 9, das im Krieg mindestens 11 000 litauische und russische Juden ermordete. In einem Prozeß gegen Angehörige dieses Einsatzkommandos geschah es 1962, daß der Vorsitzende den ehemaligen SS-Hauptsturmführer Georg Fleischmann aufforderte, als Zeuge die Hand zum Schwur zu erheben. Fleischmann, damals Kriminalrat in Ludwigshafen, riß seinen Arm hoch, so wie er es gelernt hatte - nicht zum Eid, sondern in Augenhöhe zum Führergruß.

Und in diesem Jahr folgte das Satyrspiel der Tragödie: Der führende Nazi-Jäger der Bundesrepublik wurde selbst als Nazi entlarvt. Der Leiter der Zentrale zur Verfolgung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg, Oberstaatsanwalt Erwin Schüle, war 1933 in die SA und 1937 in die NSDAP eingetreten. Der Leiter des Instituts für Zeitgeschichte in München, Dr. Helmut Krausnick, der häufig in NS-Prozessen als Sachverständiger auftritt, hatte am 1. Januar 1932 die Mitgliedsnummer 866684 der NSDAP bekommen.

Nur vor dem Hintergrund eines Staates, dessen größte Wählergruppe aus ehemaligen Nationalsozialisten besteht, ist der Ablauf des Streites über Verlängerung oder Nichtverlängerung der Verjährungsfrist für NS-Verbrechen verständlich. Am 5. November vergangenen Jahres, ein Jahr vor den nächsten Bundestagswahlen, ein halbes Jahr vor Ablauf der Verjährungsfrist, befaßte sich das Bundeskabinett erstmalig mit dem Thema. Justizminister Ewald Bucher, Träger des goldenen HJ-Abzeichens, hielt eine Verlängerung für rechtlich bedenklich. Sein Parteichef, FDP-Vizekanzler und Ritterkreuzträger Erich Mende ("Laßt das kleine Hakenkreuz auf dem EK!"), äußerte taktische Bedenken: Die Bevölkerung wolle die Prozesse nicht mehr länger sehen. Die Mehrheit im Kabinett war auf ihrer Seite. Nur Kanzler Erhard und die Minister Lemmer, Lücke und Blank stimmten für die Verlängerung. Wirtschaftsminister Schmücker enthielt sich der Stimme. Alle anderen waren dagegen, auch Außenminister Gerhard Schröder, einst SA-Anwärter, der die Reaktion des Auslands zu bedenken gehabt hätte.

Die Bundesregierung glaubte, die Verjährung von NS-Morden würde von der Welt genauso hingenommen werden wie die 1960 bereits eingetretene Verjährung von NS-Totschlagsdelikten. Sie hatte sich geirrt. Im Ausland, vor allem in den Vereinigten Staaten, brach das jahrelang unterdrückte Mißtrauen gegen Deutschland mit ungeahnter Vehemenz aus. Der Vorsitzende der Organisation jüdischer Nazi-Opfer in Amerika, Dr. Hillel Seidman, verweigerte bei einem Besuch des deutschen Konsulats in New York dem Generalkonsul Dr. Klaus Curtius den Handschlag. Bonns Botschafter in Washington, Heinrich Knappstein, der den Einfluß der Juden in Amerika wohl abzuschätzen weiß, warnte in immer alarmierender klingenden Telegrammen das Auswärtige Amt vor einer Verjährung der NS-Verbrechen. Die Berichte anderer deutscher Missionschefs waren zwar weniger dringend abgefaßt, enthielten aber alle den gleichen Tenor.

Dem Bundesjustizminister Bucher wurde vom Auswärtigen Amt ein Durchschlag aller dieser Telegramme zugestellt. Dennoch blieben Schröder und Bucher bei ihrer Meinung, die deutschen Diplomaten überschätzten das Interesse ihrer Gastvölker erheblich. Bucher: "Ich nehme die ausländischen Reaktionen nicht so tragisch." Private Meinungsumfragen bestärkten ihn in seiner Auffassung. Er beauftragte seinen Sohn Hanno-Thomas, 21, der am Londoner King's College Philologie studiert, sich sorgfältig unter englischen Kommilitonen umzuhören. Sohn Hanno-Thomas berichtete, die englischen Studenten interessierten sich für diese Frage fast überhaupt nicht.

Noch im Januar dieses Jahres erklärte der Minister in einem SPIEGEL-Gespräch: "Die Bundesregierung hat ihren Standpunkt mit, rechtlichen Überlegungen begründet. Sie hat gesagt, es sei rechtlich nicht möglich, die Verjährungsfrist zu verlängern. Wenn sie davon abgehen würde, müßte ich als zuständiger Minister plötzlich - einen gegenteiligen Standpunkt vertreten, würde mir also selber ins Gesicht schlagen. Das wäre unmöglich. Ich müßte meinen Hut nehmen."
SPIEGEL: Und wenn sich das Parlament zu einer Verlängerung entschlösse?
BUCHER: Dann nicht. Das wäre etwas anderes. Daran hätte sich die Regierung zu halten, also auch ich.

Damit war die Bundesregierung in eine Zwickmuhle geraten. Einerseits wollte sie aus ihrer inzwischen geweckten, durch den Waffenstopp an Israel noch gesteigerten Angst vor der Auslands-Reaktion gern die Verjährungsfrist verlängern. Andererseits war es ihr durch Buchers öffentliche Festlegung unmöglich geworden, diesen Weg zu gehen, ohne den Rücktritt des Justizministers und damit eine Koalitionskrise mit der gesamten FDP zu riskieren.

In einer Kabinettssitzung am vorletzten Mittwoch zog die Regierung ihren Kopf aus der Schlinge. Nachdem im Kreis der Minister nun auch Schmücker, Heck und Frau Schwarzhaupt für eine Verlängerung der Verjährung stimmten, verfertigten Bundesjustizminister Bucher und Bundespressechef von Hase in einem Nebenzimmer im Palais Schaumburg ein Kommuniqué mit folgendem Text: "Die Bundesregierung wird den Deutschen Bundestag in seinem Bemühen unterstützen, unter Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze eine Möglichkeit zu schaffen, daß der Gerechtigkeit Genüge getan wird." Damit hatte zwar die Regierung einmal mehr ihren Anspruch aufgegeben zu regieren. Aber der Schwarze Peter war dem Parlament zugeschoben und Justizminister Bucher ist eine Eselsbrücke gebaut, über die er ungefährdet in die Zukunft stapfen kann.

Gleichgültig wie der Bundestag über die Verjährung entscheiden wird - zwei bittere Resultate sind schon jetzt unvermeidlich:
- Der Eindruck, daß die Deutschen nicht aus eigenem Antrieb, sondern
- wenn überhaupt - nur aus außenpolitischer Liebedienerei künftig NS-Verbrechen verfolgen wollen.
- Die Gewißheit, daß auch eine Verlängerung der Verjährungsfrist die deutsche Vergangenheit nicht bewältigen kann.

Der Historiker Golo Mann umriß bereits im vergangenen Jahr die Ausweglosigkeit des Problems: "Nähme man es mit der Schuld am Dritten Reich und im Dritten Reich genau, so müßte ungefähr die Hälfte der Nation über die andere Hälfte zu Gericht sitzen. Das war der Grundsatz der Entnazifizierung'; und war von vornherein unmöglich... Einzurichten haben wir uns mit der Unlösbarkeit der ganzen Problematik. Sie wird allmählich verwelken dadurch, daß die schuldigen Generationen alt werden und sterben. Nie wird reiner Tisch mit ihr gemacht werden können."
Ehe nicht neue Generationen herangewachsen sind und die Macht übernommen haben, wird die deutsche Vergangenheit nicht bewältigt sein. Jeder andere Versuch war von vornherein zum Scheitern verurteilt und ist in der Nachkriegszeit gescheitert, vom ersten Nürnberger Prozeß im Kapitulationsjahr über die Entnazifizierung eines ganzen Volkes bis zu den Kriegsverbrecher-Prozessen dieser Monate, in denen die kleinen Häscher verurteilt werden, während der Eichmann-Gehilfe Hunsche frei gesprochen werden muß.
Mit Instinkt für historische Effekte wählten die Sieger die Szene für das Tribunal. Wie Adolf Hitler 1940 nach dem erfolgreichen Frankreich-Feldzug den Waffenstillstand im Wald von Compièngne unterzeichnen ließ, wo 1918 die deutsche Kapitulation besiegelt worden war, so beriefen die Alliierten 1945 ihr Jüngstes Gericht nach Nürnberg ein, wo sich der Nationalsozialismus mit seinen Parteitagen gigantomanisch zur Schau gestellt hatte. Auf der Anklagebank vor dem "Internationalen Militärgerichtshof" saßen alte Kämpfer wie Julius Streicher, Bonzen wie Hermann Göring, Wirtschaftsexperten wie Hjalmar Schacht, Generäle wie Wilhelm Keitel, Ideologen wie Alfred Rosenberg - ein Auswahlrest großdeutscher Prominenz, der in der Breite seines Spektrums deutlich machte, daß nunmehr eine Generalabrechnung anhob. Für alle Zeiten und für alle Völker sollte ein Exempel statuiert werden: die Maxime, daß in Zukunft jedermann zur Rechenschaft gezogen werde, der "in ähnlicher Weise die Zivilisation angreift" ( so formulierte es der US-Ankläger Robert H. Jackson). Am 30. September und am 1. Oktober 1946 wurde das Urteil verkündet. Der Internationale Militärgerichtshof beorderte die meisten Angeklagten an den Galgen (zwölf Todesurteile) oder hinter Gitter und erklärte das Führerkorps der NSDAP, die SS, die Gestapo und den Sicherheitsdienst (SD) zu "verbrecherischen Organisationen". Aber die Legitimation für diesen Prozeß, die aus der Zukunft abgeleitet wurde, war fragwürdig. Die Urteile wurden gefällt aufgrund einer Rechtscharta, die erst nach Verübung der Taten statuiert worden war. Das widersprach dem Rechtsgrundsatz, daß niemand nach einem Post-factum-Statut angeklagt werden darf.

"Über der ganzen Nürnberger Urteilsfällung", so befand der US-Senator und Präsidentschaftsbewerber Robert Taft, "steht der Geist der Rache". Es war ein Prozeß der Sieger gegen die Besiegten. Gleichwohl hat es den Deutschen schlecht angestanden, die Urteile von Nürnberg als Akt der Sieger-Willkür anzuprangern. Denn sie selbst hatten Willkür wie kein anderes Volk je zuvor exerziert oder doch geduldet. Sie selbst, die nichts gewußt hatten oder nichts hatten wissen wollen, sahen sich mit einem Male der blutigen Bilanz der NSGewaltherrschaft konfrontiert. Nun wurden sie gemessen an allen Mördern der Geschichte, die - so formulierte es ein US-Tribunal später - "durch Jahrhunderte hindurch gezeigt hat, warum der Mensch seinen Bruder umbrachte... Er tötete, um sich seines Bruders Habe, sein Weib, seinen Thron, seine Stellung anzueignen; er mordete aus Eifersucht, Rache, Leidenschaft, Wollust und Kannibalismus. Er tötete als Monarch, als Sklavenhalter, als Wahnsinniger und als Räuber. Aber es war dem 20. Jahrhundert vorbehalten, eine solch nie dagewesene Orgie des Mordens hervorzubringen".

Zu sühnen waren Mord und Totschlag der Vorkriegszeit: bei der Machtübernahme von 1933, als die Nationalsozialisten politische Gegner (vor allem Kommunisten) zu Hunderten in sogenannte Schutzhaftlager, die Vorläufer der Konzentrationslager, transportierten: bei der sogenannten Röhm-Revolte von 1934, als Hitler mißliebige SA-Leute und Politiker aller Schattierungen umbringen ließ; in der Kristallnacht von 1938, als die Nazis 20000 Juden inhaftierten und 36 auf der Stelle töteten. Zu sühnen aber wären vor allem Mord und Totschlag während der Zeit des Zweiten Weltkriegs:
- bei der Euthanasie-Aktion, der mindestens 100 000 Menschen zum Opfer fielen - Patienten von Heil- und Pflegeanstalten in der "Aktion T 4", KZ-Häftlinge unter der Chiffre "14 f 13" und schließlich mißgebildete oder geisteskranke Kinder, die in besonderen "Kinderfachabteilungen" getötet wurden;
- bei der Aktion der sogenannten Einsatzgruppen des Sicherheitsdienstes, die fast überall den deutschen Fronttruppen folgten und Zigeuner ebenso wie Bolschewisten, vor allem aber alle Juden exekutierten, deren sie habhaft werden konnten (Opfer allein in Polen und in der Sowjet-Union: mindestens eine Million);
- bei der von den Nazis programmierten "Endlösung der Judenfrage", die in reichsdeutschen Konzentrationslagern, vor allem aber in KZs und Gettos auf polnischem Territorium (Massenvernichtungslager: Auschwitz, Belzec, Chelmno, Majdanek, Sobidor, Treblinka) Millionen Menschen bestialischen Tod brachte.

Diese Tatbestands-Komplexe, vermehrt um andere Delikte wie Verbrechen gegen Kriegsgefangene und Fremdarbeiter, türmten sich nun auf vor der Justiz wie ein Hochmassiv des Unheils. Es auszumessen, war eine Aufgabe, wie sie keine Justiz jemals hatte bewältigen müssen. Aufzuklären war die Rolle von Schreibtischtätern, Befehlsüberbringern und Todesschützen. Zu entwirren war das Netz komplizierter Zuständigkeiten und verschachtelter Verantwortung, das die NS-Machthaber aus Polizei, Gestapo, SS, SD und vielerlei Parteidienststellen geknüpft und über eigene Untertanen wie fremde Geknechtete geworfen hatten. Die Rolle der Blutrichter, die Tausende von Menschen mit nazistischen Begründungen vom Leben zum Tode beförderten, blieb dagegen ungesühnt. Sie konnten zwar in Pension gehen, aber nicht angeklagt werden, weil sie das Fallbeil nach dem damals geltenden Gesetz in Bewegung gehalten hatten.

Während die geschlagenen Deutschen hungernd nach Magermilch Schlange standen, Besatzer-Kippen sammelten und Kohlen klauten, begannen die Alliierten, zwischen Ruinen zu richten und rechten. Als Rechtsgrundlage diente ihnen das Kontrollratsgesetz Nr. 10 vorn 20. Dezember 1945. Es stellte unter Strafe: Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Zugehörigkeit zu einer verbrecherischen Organisation.
Danach wurden in Deutschland von Besatzungsgerichten verurteilt:
- 1814 Angeklagte (davon 450 zum Tode) in der amerikanischen Zone;
- 1085 Angeklagte (davon 240 zum Tode) in der britischen Zone;
- 2107 Angeklagte (davon 104 zum Tode) in der französischen Zone.
486 der verhängten Todesurteile wurden vollstreckt. Am Strang endeten beispielsweise der Oberdienstleiter Viktor Brack aus der "Kanzlei des Führers", der die Euthanasie-Aktion geleitet hatte; der Reichsgeschäftsführer der Gesellschaft "Ahnenerbe", Wolfram Sievers, der 112 Juden hatte töten lassen, weil er sich Skelette für die Sammlung der Straßburger Universität wünschte; oder auch Bruno Tesch, der Miteigentümer jener Firma, die das KZ-Gas "Zyklon B" hergestellt hatte.

Aber diese erste Urteilswelle war nicht das Ergebnis systematischer Bemühungen alliierter Besatzungsgerichte, alles und jedes Unrecht zu sühnen. Amerikaner, Engländer und Franzosen urteilten damals nur die Täter ab, die ihnen durch Zufall in die Hände gerieten. Oft werteten sie das Aktenmaterial nur oberflächlich aus. Mitunter scheiterten sie schon an Sütterlin-Marginalien auf deutschen Dokumenten. Dazu der Zeithistoriker Hanns von Krannhals: "Für manche amerikanischen Sachbearbeiter war das - nach ihren eigenen Worten - ,so unverständlich wie Arabisch'. Sie kapitulierten." Die Nonchalance der Alliierten ging so weit, daß sie etwa im Krupp-Prozeß den Filius Alfried Krupp von Bohlen und Halbach als Ersatzmann für seinen erkrankten Vater zu zwölf Jahren Haft verurteilten.

Was westliche Beeatzungsgerichte damals ahndeten, war nur ein Bruchteil der Rechnung, die Europa den Deutschen aufmachte. Wohin immer Deutsche ihren Fuß gesetzt hatten, mußten sie nun ihren Kopf hinhalten - In der Tschechoslowakei, wo der Chef der Ordnungspolizei, Kurt Daluege, hingerichtet wurde; in Dänemark, wo der Reichsbevollmächtigte Dr. Werner Best zum Tode verurteilt (später begnadigt) wurde; in Polen, wo die Gauleiter Albert Forster, Arthur Greiser und Erich Koch die Todesstrafe erhielten. In westeuropäischen Ländern wurden Hunderte von Deutschen verurteilt, in Polen 16 819, in der Sowjet-Union schätzungsweise 24 000. Gesühnt wurden damit fast ausnahmslos Verbrechen, die von Deutschen an Ausländern begangen worden waren.

Westdeutsche Gerichte waren in den ersten Nachkriegsjahren zuständig für Verbrechen, die von Deutschen an Deutschen oder an Staatenlosen verübt worden waren. Aber das gab genug Stoff für Tausende von Prozessen etwa gegen Synagogenbrandstifter, Kommunistenmörder oder Euthanasie-Töter. Bis zur Gründung der Bundesrepublik verhängten deutsche Gerichte über 4000 Urteile, darunter auch zwölf - damals noch mögliche - Todesstrafen".
Anfang der fünfziger Jahre ebbte die Prozeßwelle sowohl vor alliierten als auch vor deutschen Gerichten merklich ab. Was Deutschen von Deutschen angetan worden war, schien weitgehend gesühnt. Was Ausländern von Deutschen angetan worden war, wähnten die meisten Deutschen von den Alliierten geahndet - eine Vorstellung, die insbesondere solche Strafverfolger und Richter beruhigen mochte, die schon im Dritten Reich Robe und Barett getragen hatten.

Außerdem begann sich die politische Landschaft zu verändern. Die Westmächte hofierten der Bundesrepublik. Deutsche nahmen wieder Waffen in ihre Hände. Die jahrelang mit Macht betriebene Entnazifizierung entpuppte sich als eine eher komische Angelegenheit, die dem Amerikaner John McCloy, zeitweilig US-Hochkommissar in Deutschland, den Kommentar entlockte: "Ich fühle mich nicht veranlaßt, sie zu verteidigen."
Es war die Zeit, da die 13 293 000 förmlich Entnazifizierten - 9 833 864 galten als "nicht betroffen", der Rest wurde der "näheren Verbindung zum Nationalsozialismus" für schuldig befunden - ihr Ungemach vergessen konnten. Es war die Zeit, da Deutsche den Bauch wieder voll und den Kopf frei für Überlegungen hatten: derart etwa, ob in den Gettos und Konzentrationslagern nicht sechs Millionen Juden, sondern womöglich nur fünf Millionen umgebracht worden seien. Der Jargon änderte sich. Was bis dahin als "Kriegsverbrecher" galt, verniedlichte sich in der Umgangssprache zu "Kriegsverurteilter". Und als 1955 die Verfolgung von NS-Verbrechen ausschließlich Sache der deutschen Justiz wurde, waren die Alliierten längst dabei, bestrafte Nazis zu begnadigen.

Unter den Begnadigten waren zum Beispiel die bis dahin noch nicht hingerichteten 300, in scharlachrote Jacken gekleideten Todeskandidaten ("Rotjacken") aus dem Zuchthaus Landsberg -Männer hoher NS-Ränge und schwerer Schuld, die nun von der deutschen Justiz nicht noch einmal belangt werden konnten. Gegen eine Reihe anderer NS-Deutscher durften die bundesrepublikanischen Behörden, weil alliierte Verfahren voraufgegangen waren, aufgrund des sogenannten Überleitungsvertrags nicht einmal mehr ermitteln. Auf diese Weise wurden der frühere Oberreichsanwalt Dr. Lautz, die KZ-Ärztin Dr. Oberheuser, der Einsatzgruppenchef SS-Standartenführer Professor Six der westdeutschen Gerichtsbarkeit entzogen. Der frühere Generalbundesanwalt Max Güde formulierte das Dilemma: "Jetzt werden Niederrangige angeklagt und verurteilt, und der Höherrangige ist seit Jahren auf freiem Fuß und nicht mehr zu belangen. Dieses ungleiche Recht ist eins der bittersten Probleme."

Und es gab nach Ansicht des Bonner Justizministeriums ein Bündel weiterer Gründe dafür, weshalb nun - Mitte der fünfziger Jahre - die deutsche Vergangenheit vor deutschen Gerichten kaum noch zur Debatte stand, etwa: - Die DP-Lager in Deutschland - als "displaced persons" wurden die im Krieg nach Deutschland verschleppten Fremdarbeiter und die heimatlos gewordenen Überlebenden der KZ bezeichnet -, aus denen zahlreiche Anzeigen bei den deutschen Strafverfolgungsbehörden einzugehen pflegten, hatten sich mittlerweile geleert. Die Insassen waren zum größten Teil ausgewandert und unterließen es, die Strafverfolgung in Deutschland mit Verve zu betreiben.

Viele NS-Täter hatten sich durch Selbstmord einem Gerichtsverfahren entzogen - so der Reichsorganisationsleiter Dr. Robert Ley, der für Massenmorde in Rowno und Lublin verantwortliche SS-Obersturmbannführer Pütz, der für die Vergasung von über 300 000 Menschen verantwortliche Führer des Sonderkommandos Chelmno, Bothmann.

Viele NS-Täter tauchten unter und blieben für die deutsche Justiz- unerreichbar - so die KZ-Ärzte Mengele und Schumann sowie der SS -Standartenführer Walter Rauff, der den Einsatz von Vergasungswagen leitete; schließlich auch der Judenreferent im Reichssicherheitshauptamt Adolf Eichmann (der später von israelischen Agenten in Südamerika gekidnappt wurde).

Die Ermittlungsarbeit der deutschen Justiz litt zudem an mehreren Mängeln: Eine Zusammenarbeit zwischen Alliierten und deutschen Stellen fand nicht statt; die deutschen Staatsanwaltschaften koordinierten ihre Nachforschungen nicht ausreichend und vernachlässigten die systematische Bearbeitung zusammenhängender Tatkomplexe; die Dokumentation war lückenhaft, weil Akten entweder unauffindbar oder aber deutschen Ermittlern nicht zugänglich waren. Bei der Verfolgung von Taten außerhalb des Bundesgebiets gab es grotesk anmutende Kompetenz-Schwierigkeiten. Das Bundesjustizministerium: "Es gab... keine Staatsanwaltschaft in der Bundesrepublik, die als Verfolgungsbehörde des Tatorts zuständig gewesen wäre und somit Veranlassung gehabt hätte, nach dem Verbleib der Beschuldigten zu forschen."

Das änderte sich erst 1958, als der sogenannte Ulmer Einsatzkommando-Prozeß begann, der selbst überhaupt nur zufällig durch eine Arbeitsgerichtsklage des ehemaligen Polizeidirektors von Memel, SS-Oberführer Fischer-Schweder, ausgelöst wurde. Zum erstenmal leitete das Gericht damals seine Zuständigkeit aus dem Sachzusammenhang ab, in diesem Fall aus dem von den Angeklagten gemeinschaftlich begangenen Judenmord in Litauen. Der ermittelnde Staatsanwalt in diesem ersten großen Gewaltverbrecher-Prozeß der deutschen Justiz hieß Erwin Schüle.
Schüle hatte bis dahin Berichte über deutsche Ausrottungsaktionen im Osten für Greuelpropaganda gehalten. Nun entdeckte er im amerikanischen "Document Center" zu Berlin eine minutiöse "Buchführung des Todes" (Schüle). Es gelang ihm, die in den Akten mit ungenauen Vermerken wie "Exekution 1 Person" ausgewiesene Tätigkeit des "Einsatzkommandos Tilsit" so genau zu rekonstruieren, daß sich ergab, wer wann wo auf wessen Befehl wen exekutiert hatte. Für Schüle war diese Erkenntnis so beklemmend, daß er auf den damaligen Hamburger Generalstaatsanwalt Kramer den "Eindruck eines echt erschütterten Menschen" machte. Pg Schüle, einst selbst in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, als Angehöriger der 215. Infanterie-Division zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt und später begnadigt, wurde zu einem der konsequentesten NS-Verfolger. Er brachte Angehörige des Einsatzkommandos Tilsit wegen Erschießung von 5000 litauischen Juden und Kommunisten vor das Ulmer Schwurgericht und machte damit der deutschen Justiz klar, "daß ein erheblicher Teil insbesondere der im Osten begangenen NS-Verbrechen noch nicht geahndet worden war".

Nach dem Publizisten Ernst Friedlaender forderte denn auch Schüles damaliger Vorgesetzter, der Stuttgarter Generalstaatsanwalt Erich Nellmann, in jener Zeit, die Verfolgung von NS -Gewalttaten nicht länger mehr "ohne System, planlos, zufällig" zu betreiben. Nellmann: "Das muß anders werden." Die Justizminister der Bundesländer waren gleicher Ansicht. Als der damalige Bundesjustizminister Fritz Schäffer ihren Vorschlag ablehnte, ein zentrales Ermittlungsbüro beim Bund zu installieren, beschlossen sie im Herbst 1958, in Ludwigsburg bei Stuttgart selbst eine "Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" einzurichten. Ihr Leiter wurde Erwin Schüle. Erst jetzt kam System in die Verfolgung der NS-Untaten. Schüles Institution erhielt aus jedem Bundesland einen Staatsanwalt oder Richter;
- einen Jahres-Etat von rund einer halben Million Mark.

Die Bundesländer bildeten außerdem für die Zusammenarbeit mit Ludwigsburg kriminalpolizeiliche Sonderkommissionen (Schüle: "Unser verlängerter Arm"). Die Ludwigsburger Zentrale verschaffte sich über Hitlers Konzentrationslager und Menschenvernichtungsanstalten, über KZ-Bewacher und Einsatzkommandos, über befehlsgewaltige Gestapo- und Sicherheitsdienstführer, über die Sonderaufträge von bestimmten Polizei- und SS-Formationen erstmals ein Gesamtbild mit Detail-Genauigkeit. So gelang es ihnen, Verdächtige ausfindig zu machen, die dank geschickter Tarnung in die Rolle von Ehrenmännern und dank schlichter Falschangaben längst wieder in Beamtenpositionen hineingeschlüpft waren. Die Zentrale Stelle entlarvte beispielsweise
- den hannoverschen Kriminalobermeister Pradel als ehemaligen leitenden Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes in Berlin und Mitverantwortlichen für die Gaswagenmorde;
- den Chef des Landeskriminalamts von Rheinland-Pfalz, Kriminaloberrat Heuser, als ehemaligen Einsatzkommandochef in der Sowjet-Union;
- den niedersächsischen Kriminalkommissar Fuchs als Mitbeteiligten an Einsatzkommando-Morden und
- den Ruhestands-Kriminalhauptkommissar Herz, zuletzt Lehrer an der Landespolizeischule von Baden-Württemberg in Freiburg und SPD-Gemeinderat im nahegelegenen Dorf Umkirch, als maßgebenden Mitarbeiter der Gestapo-Leitstelle Königsberg und
- den Leiter der Bensheimer Schutzpolizei, Hauptkommissar Wollschläger, als Beteiligten an Juden-Deportationen im Osten.

Die Schüle-Mannschaft arbeitete so gründlich, daß selbst Dr. Nahum Goldmann, der Präsident des jüdischen Weltkongresses, des Lobes voll war. In der Tat: Gemessen an ihren Möglichkeiten, arbeitete die Zentralstelle mit bemerkenswertem Erfolg.

Nur waren diese Möglichkeiten auf fatale Weise zwiefach beschnitten:
- einmal dem Auftrag nach - Ludwigsburg hatte sich nur mit NS-Gewaltverbrechen zu befassen, die außerhalb des Bundesgebietes begangen worden waren;
zum anderen arbeitstechnisch - Ludwigsburg mußte sich jahrelang allein mit Tat-Dokumenten aus der Bundesrepublik und dem westlichen Ausland begnügen.

Die Auftragsbegrenzung bedeutete, daß zahlreiche Institutionen des Dritten Reiches nicht systematisch auf Tatspuren hin geprüft wurden: etwa AA und Innenministerium, Justizministerium, das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, das Oberkommando der Wehrmacht und die höheren Stäbe, die Kanzlei des Führers, der Persönliche Stab des Reichsführers SS, das Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt, das Rasse- und Siedlungshauptamt, das Reichskommissariat für die Festigung des Deutschen Volkstums.
Die Beschränkung auf westliche Erkenntnisquellen bedeutete, daß ausgerechnet dort nicht recherchiert werden konnte, wo die meisten NS-Gewaltverbrechen begangen worden waren - in Osteuropa. Bonn - wie in seiner gesamten Außenpolitik so auch hier ein Gefangener der Hallstein-Doktrin - war voller Hemmungen, die Quellen im Osten auszuschöpfen: Bei der Aufarbeitung deutscher Vergangenheit kommunistische Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen, war den Kommunistenfeinden am Rhein zutiefst zuwider. Das war verständlich. Aber dennoch bürdete sich die Bundesregierung in diesem Punkt schwere Schuld auf.

Schon im August 1959 lud das polnische Justizministerium Ludwigsburger Ermittler zur Akteneinsicht nach Warschau ein. Der damalige Justizminister Fritz Schäffer (CSU), vom baden-württembergischen Justizminister in Kenntnis gesetzt, lehnte schockiert ab. Im Oktober 1959 diskutierten die Länderjustizminister in Hamburg darüber, ob die Arbeit der Ludwigsburger Zentralstelle durch Vereinbarungen mit Polen und der Tschechoslowakei beschleunigt werden könnten. Wieder war Schäffer, in Übereinstimmung mit dem AA, dagegen.
"Würde die Bundesregierung", so hieß es in einer Expertise des Justizministeriums, "einen dieser (Ostblock-) Staaten um Übersendung von Akten oder sonstigen Schriftstücken ersuchen, so ginge sie zwar keine unmittelbare Verpflichtung ein, in einem gleichen Fall auch ihrerseits Rechtshilfe zu leisten. Der andere Staat könnte aber, einer internationalen Übung entsprechend, hieraus schließen, daß die Bundesregierung bereit sei, Gegenseitigkeit zu gewähren." Fazit: "Schon der Eindruck einer solchen Bereitschaft muß aber vermieden werden, weil sonst unerwünschte außenpolitische Folgerungen daran geknüpft werden könnten."

So konnten hessische Staatsanwälte, die mit der Aufklärung des Auschwitz-Komplexes beauftragt waren, im August 1960 nicht in amtlicher Eigenschaft nach Polen reisen: "Wir sind einfach als Touristen mal rübergefahren." Nach ihrer Rückkehr bestätigten die Touristen, was die Ludwigsburger längst vermutet hatten: "Die Polen haben viel Material, und vieles davon ist sehr gut geordnet." Aber am 29. September 1960 konstatierte das Bundesjustizministerium, es sei weiterhin 'nicht zu vertreten, daß das Beweismaterial von einem deutschen Richter oder Staatsanwalt in dem anderen Staat eingesehen wird".
Einsicht in das Ostmaterial schien aber um so mehr geboten, als DDR, Tschechoslowakei und Polen nun immer häufiger belastende Dokumente über die NS-Vergangenheit deutscher Generäle, Richter und Staatsanwälte veröffentlichten - zu einem Zeitpunkt, da die Bundesrepublik das Problem der NS-Juristen nachsichtig zu lösen suchte: Bonn bereitete damals das "Deutsche Richtergesetz" vor, dessen Paragraph 116 allen belasteten Juristen den Weg in die vorzeitige Pensionierung nahelegte.

Unter diesen Umständen erlaubte die Bundesregierung schließlich - Ende 1960 - den Länderjustizverwaltungen in Ausnahmefällen, die Hilfe östlicher Behörden in Anspruch zu nehmen. Die generelle Aktendurchsicht in Ost-Archiven aber war westdeutschen Ermittlern nach wie vor verboten. Die Bundesregierung beharrte auf ihrem Verbot auch dann, als der Rechtsausschuß des Bundestags im Frühjahr 1963 forderte, daß deutsche Staatsanwälte im Osten lagernde Akten auf Blut-Urteile deutscher Richter hin prüfen sollten. Der "politische Wert" des Materials, so argumentierte das Justizministerium, sei für seine kommunistischen Besitzer viel zu hoch, als daß mit einer vollständigen Offenlegung für die deutschen Ermittler gerechnet werden könne. Ferner: "Wenn die Aktion erfolgreich sein soll, müßte eine Arbeitsgruppe, bestehend aus mehreren Beamten - voraussichtlich eine längere Zeit tätig sein... Dadurch würde der Aktion ein viel zu großes politisches Gewicht beigelegt."

Und noch einmal, im April 1964, ließ das Bundesjustizministerium die mit der Aufklärung von NS-Verbrechen befaßten Staatsanwälte wissen, daß sich an der Bonner Haltung nichts geändert habe: "Einer Entsendung von Beamten (in Ost-Archive) zur generellen Durchsicht von Akten, losgelöst von Einzelfällen, wird nicht zugestimmt."

Das war die Bonner Haltung in einem Jahr, in dem eine neue Prozeß-Lawine das ganze Ausmaß noch nicht gesühnter NS-Verbrechen bereits sehr wohl ahnen ließ. Die Ludwigsburger Ermittlungen und die Recherchen anderer Staatsanwaltschaften hatten mittlerweile längst klargemacht, daß die deutschen Justizbehörden während der Prozeß-Flaute Mitte der fünfziger Jahre "der irrigen Ansicht waren, den Gesamtkomplex bereits bewältigt zu haben".

Allein 1959 fanden drei umfangreiche Verfahren statt:
- In Bonn gegen die KZ-Mörder und Rußland-Heimkehrer Gustav Sorge und Wilhelm Schubert (lebenslänglich Zuchthaus),
- in Hanau gegen den Getto-Mörder Wilhelm Unkelbach (lebenslänglich Zuchthaus),
- in Hagen gegen den SS-Obersturmbannführer Wolfgang Wetzling und den Hauptmann Ernst Moritz Klönne (Zuchthausstrafen wegen der Erschießung von 208 Fremdarbeitern).
Und nun platzte am Körper der Republik, der sich von den ererbten Wunden allmählich zu erholen schien, eine Eiterbeule nach der anderen auf: 1960 Prozeß in Münster gegen den Lagerarzt von Auschwitz Dr. Paul Kremer (zehn Jahre Zuchthaus) und in Fulda gegen den SS-Sanitäter Gottlieb Muzikant (lebenslänglich Zuchthaus). 1961 Verhandlung in München gegen Dr. Otto Bradfisch, Leiter eines Einsatzkommandos (zehn Jahre Zuchthaus). 1962 Verfahren in Münster gegen den KZ-Arzt Dr. Heinz Baumkötter (acht Jahre Zuchthaus), in Nürnberg gegen den SS-General Erich von dem Bach-Zelewski (lebenslänglich Zuchthaus), in Berlin gegen den Einsatzkommando-Chef Dr. Alfred Filbert (lebenslänglich Zuchthaus).

Diese prozessuale Spätlese offenbarte immer neue Tatkomplexe und immer neue Terror-Techniken. Zugleich wurde es für die Justiz, zwei Jahrzehnte nach Kriegsende, immer schwieriger, die Taten präzise zu rekonstruieren und die Schuld der Täter zweifelsfrei festzustellen. Die Unschuldsbeteuerungen der Angeklagten aber glichen denen von 1945: Die Mörder hatten nur gehorcht. Die Gerichte, vor denen sie sich nun zu verantworten hatten, ließen sich darauf in der Regel nicht ein. Sie gingen davon aus, daß die Berufung auf Treueid und Gehorsamspflicht rechtlich nicht relevant sei: Massaker-Befehle hätten auch nach dem einst gültigen Strafrecht nicht befolgt werden müssen. Und die Berufung auf den sogenannten Befehlsnotstand wurde von deutschen Gerichten nur in Ausnahmefällen akzeptiert: nur dann, wenn der Angeklagte nachweisen konnte, daß die Befehlsverweigerung für ihn lebensgefährlich gewesen wäre.

Die deutsche Justiz war dazu verdammt, mit derselben Pedanterie Morde aufzuklären, mit der den ungezählten Gaskammer-Opfern die Goldzähne entfernt worden waren. Sie konnte Mord um Mord sühnen - aber die Vergangenheit war damit nicht zu bewältigen: weder beim Prozeß gegen den Himmler-Gehilfen Karl Wolff, der im vorigen Jahr wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 300 000 Fällen zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, geschweige denn im Frankfurter Auschwitz-Prozeß, der 1963 begann und noch immer andauert. Und nichts machte das Dilemma der Justiz deutlicher als der Prozeß gegen die Eichmann-Gehilfen Hermann Krumey und Otto Hunsche. Je höher die Beschuldigten in der Hierarchie des Terrors gestanden hatten, um so hoffnungsloser war es offenbar nun, ihre Schuld am Massenmord juristisch nachzuweisen.

Krumey bekam im Januar dieses Jahres für die Beihilfe am Mord von 300 000 ungarischen Juden fünf Jahre Zuchthaus (was seine U-Haft fast abdeckte), Hunsche wurde freigesprochen. Das konnte auch Bundeskanzler Erhard nicht fassen. An seinem Geburtstag wandte er sich empört an den Gratulanten Dr. Thomas Dehler: "Was sagen Sie zu diesem unerhörten Urteil in Frankfurt?"
Als das unerhörte Urteil von Frankfurt gefällt wurde, scherte Bonn bei der Verfolgung von NS-Verbrechen gerade auf neuen Kurs. Die plötzlich aufflammende Diskussion um die Verjährung trieb die Bundesregierung zur Flucht nach vorn: Was jahrelang ignoriert worden war, war nun heiß begehrt - Belastungsmaterial aus Ost-Europa. Wie weiland Lenin erließ Kanzler Erhard am 20. November letzten Jahres einen Aufruf "an alle". Alle, also auch die Osteuropäer, sollten nun möglichst umgehend Unterlagen über NS-Gewaltverbrechen den deutschen Strafverfolgungsbehörden zugänglich machen. - 19 1/2 Jahre nach der Kapitulation.

Nun endlich erweiterte die Regierung, einem Antrag der Bundestagsfraktion der SPD wie der CDU/CSU entsprechend, die Befugnisse der Ludwigsburger Zentralstelle; der Schüle-Mannschaft wurde nunmehr ausdrücklich auferlegt, was bis dahin untersagt gewesen war:
- Aufnahme von Ermittlungen auch bei NS-Verbrechen, die in Deutschland begangen worden sind (ausgenommen bleibt lediglich der Komplex Reichssicherheitshauptamt, an dem ein Sonderstab seit Februar 1963 in West-Berlin arbeitet).
- Generelle Auswertung allen Dokumentenmaterials über NS-Verbrechen auch in östlichen Archiven.
Nun endlich durfte Schüle - im Februar 1965 - mit einigen Mitarbeitern nach Warschau reisen. Was sie dort bei der Aktendurchsicht entdeckten, läßt nach der vorsichtigen Formulierung des Bundesjustizministeriums, "die Möglichkeit nicht ausschließen, daß in dem bisher noch nicht gesichteten Material wichtige Anhaltspunkte für bisher mann beschied Bonn, die Prager Regierung werde "voraussichtlich" Ermittlern aus Ludwigsburg die Bestände des Prager Staatsarchivs öffnen. Dazu Bonn, bis vor kurzem noch gegen jede Aktion "mit zu großem politischem Gewicht": "Das Bundesjustizministerium wird unverzüglich im Sinne dieser Anregung tätig werden."

Um die erwartete Dokumentenschwemme bewältigen zu können, richtete die Ludwigsburger Zentralstelle Mitte Januar eine Dokumentations-Abteilung ein. Ihre Beamten legten zunächst einmal ein Verzeichnis all jener Archive an, die bislang nicht systematisch durchforstet werden konnten. Ergebnis: Von allen westlichen und östlichen Akten-Depots einmal abgesehen, gibt es in der Bundesrepublik mindestens an fünf Stellen Dokumentensammlungen, die bislang nicht gründlich ausgewertet werden konnten - allein beim Bundesarchiv in Koblenz 180 laufende Meter Akten; allein beim Militärgeschichtlichen Forschungsamt Freiburg ein Aktenberg von zehn Tonnen. Drei Monate vor Toresschluß, Anfang Februar, setzte die Staatsanwaltschaft Göttingen 21 Bundeswehrpioniere mit modernem Gerät zum Sturm auf die Weißen Klippen bei Osterode im Harz an. Die Soldaten buddelten die teils verschütteten Stollen des kurz vor Kriegsende von KZ-Häftlingen ausgehöhlten Gipsberges frei, weil man dort versteckte SS-Akten vermutete und Aufschluß über noch ungeklärte NSVerbrechen zu finden hoffte. Die Aktion blieb ohne Erfolg.

Von der Durchsicht dieser Archive, insbesondere aber von der bisher von Bonn verweigerten Möglichkeit, östliche Dokumentensammlungen einsehen zu können, versprechen sich die Ludwigsburger die Aufklärung zahlreicher bisher gänzlich unbekannter NS-Verbrechen vor allem in Polen und der Sowjet-Union. Einen überzeugenden Beweis für die Richtigkeit ihrer Vermutung lieferte der Schüle-Mannschaft die Gefälligkeit der österreichischen Justizbehörden. Zwei Innsbrucker Justizbeamte waren bei Ermittlungen im Gebiet von Kielce (Polen) auf ein amtliches Verzeichnis der Opfer deutscher Exekutionen an Juden und Polen gestoßen. Die Österreicher schickten die Liste nach Ludwigsburg. Die Überprüfung ergab, daß die Massenhinrichtungen von 35 000 Personen durch SS und SD den deutschen Ermittlern bislang gänzlich unbekannt waren.

Eine erste, noch oberflächliche Auswertung der von den Tschechen übermittelten Dokumente ergab überdies, daß mit umfangreichen Hinweisen auf bislang unbekannte Juden-Erschießungen in Rußland zu rechnen ist. Nach Ansicht der Zentralstelle handelt es sich dabei um das beste Material, das seit Jahren nach Ludwigsburg gelangt ist. Schüles Ermittler lassen freilich keinen Zweifel, daß die Auswertung dieser und aller noch zu erwartenden Dokumente unmöglich bis zum Verjährungs-Stichtag, dem 8. Mai, abgeschlossen werden kann - eine Einsicht, der sich unterdessen auch das zuvor so optimistische Bundesjustizministerium anschließen mußte. Justizminister Bucher vorletzte Woche in einem Bericht an den Bundestag: "Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, daß noch unbekannte Taten von Bedeutung oder unbekannte Täter in maßgebenden Stellungen nach dem 8. Mai 1965 noch bekannt werden."
Trotzdem würde Bucher - wenn es nach ihm ginge - lieber ein ungünstiges Auslandsecho jetzt ertragen, als die Justiz mit weiterer Bürde beladen: "Wenn wir verlängern, entsteht der Schaden doch genauso. Dann geraten die Richter unter Druck: Sollen sie aus Beweismangel freisprechen oder wegen des zu erwartenden Auslandsechos verurteilen."

Der SPD-Starjurist Adolf Arndt, der heute mit Rücksicht auf das Auslandsecho für eine Verlängerung der Verjährungsfrist eintritt ("Unser internationales Gesamtrenommee steht auf dem Spiel"), teilte des Ministers Furcht vor künftigen "Justizkatastrophen". Arndt: "Was ist bei Prozessen, die in den 70er Jahren geführt werden müßten, schon noch beweisbar?" Hauptmotiv der Verjährungsvorschriften im seit 1871 geltenden deutschen Strafrecht ist tatsächlich, daß sich wegen Vergeßlichkeit der Zeugen ein Tathergang nach langer Zeit kaum noch mit hinreichender Sicherheit rekonstruieren läßt. Seitdem geht ein Mörder, der 20 Jahre lang unentdeckt blieb, straffrei aus, wenn nicht eine richterliche Handlung den Verjährungsablauf zuvor unterbrochen hat. Da NS-Verbrechen während des Dritten Reiches naturgemäß nicht verfolgt wurden, weil "der damals als Gesetz geachtete 'Führerwille' entgegenstand" (Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 28. Mai 1963), legten Rechtsprechung und Gesetzgebung in der Bundesrepublik und ihren Ländern den 8. Mai 1945 als Stichtag für den Verjährungsbeginn aller NS-Taten fest.

Der Juristen-Streit geht nun darum, ob die 20-Jahre-Frist für Mord, die demnach am 8. Mai 1965 auslaufen würde, heute rückwirkend weiter verlängert werden kann. Denn Artikel 103 des Grundgesetzes legt fest: "Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde." Eine Juristen-Schule betrachtet die Verjährung als materiellen Bestandteil des Strafbarkeitsbegriffs. Logische Schlußfolgerung: Verlängerung der Verjährung nur durch eine Verfassungsänderung möglich. Andere Juristen betrachten die Verjährung als bloße Verfahrensregel. Logische Schlußfolgerung: Eine Verlängerung der Verjährung ist durch einfaches Gesetz möglich.

Voll Unbehagen diskutiert der Bundestag, wo vor allem in CSU und FDP die Anhänger des Stopps der NS-Verfolgung sitzen, nun in dieser Situation über vier Vorschläge, die Verjährungsfrist für nationalsozialistische Mordtaten zu verlängern:
- Vorschlag Arndt (SPD): Der Artikel 102 des Grundgesetzes ("Die Todesstrafe ist abgeschafft.") wird ergänzt: "Die staatliche Befugnis, Verbrechen des Völkermordes oder Mordes aus der Zeit seit dem 1. Januar 1933 strafrechtlich zu verfolgen, verjährt nicht. Für diese Verbrechen kann kein Gesetz Straffreiheit gewähren. Über Gnadengesuche entscheidet bei diesen Verbrechen der Bundespräsident."
- Vorschlag Güde und Kanka (CDU): Durch Verfassungsänderung wird die Verjährungsfrist für schwere Schreibtisch-Mörder und besonders heimtückische und grausame Exzeßtäter aufgehoben.
- Vorschlag Benda (CDU): Die Verjährungsfrist für Mord wird generell von 20 auf 30 Jahre erhöht, wie es im Entwurf des neuen Strafgesetzbuches ohnehin vorgesehen ist.
- Vorschlag Adenauer (CDU): Der Stichtag für den Beginn der Mord-Verjährung (bislang 8. Mai 1945) wird auf 1949 (Gründung der Bundesrepublik) oder gar 1955 (Ende der Besatzungszeit) verlegt.
Eine Verfassungsänderung, wie sie Arndt, Güde und Kanka für notwendig halten, könnte nur mit Zweidrittel-Mehrheit des Bundestags beschlossen werden; die Vorschläge Adenauers und Bendas hingegen könnten mit einfacher Mehrheit angenommen werden, wären aber möglicherweise verfassungsrechtlich anfechtbar.

Hin- und hergerissen kommentiert Bundesjustizminister Bucher: "Von all solchen Eselsbrücken halte ich nichts. Aber wenn ich verlängern müßte, würde ich Artikel 103 des Grundgesetzes ändern und die Verjährungsfrist auf 30 Jahre erhöhen. Das wäre noch die sauberste Lösung. Zugleich wäre Grundgesetz-Änderung allerdings die blamabelste Lösung." Überwältigt von der Aufgabe, die deutsche Vergangenheit mit Mitteln der Justiz zu bewältigen, resigniert der deutsche Minister: "Alle Versuche, hier eine lückenlose Gerechtigkeit zu finden, sind leider zum Scheitern verurteilt."

Quelle: DER SPIEGEL, Ausgabe 11/1965 vom 10.03.1965