Familie Reifeisen, Essener Straße 16, Dorsten
"Wie geht es dir, Herzchen, sind die Leute nett zu dir? Gibt es dort sehr hohe Berge? Kocht man dort so wie wir hier? Und hast du dich an das Essen gewöhnt? Wann gehst du zu Bett? Vor allem lerne fleißig Sprachen. Schreibe mir nett und ausführlich, du weißt ja – ich will alles wissen!" schreibt die besorgte Mutter Gertrud Reifeisen am 12. Januar 1940 an die 13jährige Tochter Ilse.
Bild: Ilse Reifeisen in jungen Jahren
Ilse Reifeisen war am 20. Dezember 1939 mit dem Kindertransport einer Jüdischen Organisation von Berlin nach Schweden geschickt worden und wurde zunächst mit weiteren 30 jüdischen Kindern in einem Stockholmer Waisenhaus untergebracht. Die Umstellung fiel dem Kind sehr schwer: Sie war zum ersten Mal allein, von den Eltern getrennt, in einem Haus mit sehr vielen Kindern und sie verstand die Sprache nicht. Einige Monate später wurde glücklicherweise eine Pflegefamilie in Vänersborg für Ilse gefunden.
Ilse Reifeisen wird am 12. Dezember 1926 im St. Elisabeth Krankenhaus in Dorsten geboren. Erfreut zeigten die Eltern, Simon und Gertrud Reifeisen, die Geburt ihrer Tochter Ilse an. Sie wächst behütet als Einzelkind in der Essener Straße 16 auf, besucht den Kindergarten der Ursulinen, später die Grund- und Mittelschule der Ursulinen, spielt mit den Kindern in den Gärten hinter der Essener Straße und wird von Ihren Eltern schon früh mit Sprachunterricht gefördert. Simon Reifeisen wollte unbedingt, dass man sich beim Essen nur auf Englisch unterhalte, damit die Tochter schnell die zweite Fremdsprache erlerne.
|
Der Vater Simon Reifeisen, auch Siegmund genannt, wurde als Ältester von insgesamt 5 Kindern am 15. November 1892 in Bolechow in Polen geboren. Simon Reifeisen studierte Rechtswissenschaften und Sprachen. Seine Diplome bekundeten, dass er fließend polnisch, deutsch, russisch, englisch und auch französisch sprach. Ab 1915 diente er in der österreichischen Armee und kam in russische Gefangenschaft, wo ihm seine Nase abgefroren ist. Die weiße Stelle konnte man später immer noch sehen.
In der Dorstener Volkszeitung erscheint am 7. Dezember 1922 folgendes Inserat:
"Eröffnung unseres Konfektionshauses. Wir führen Herrenkleidung, fertig und nach Maß in bester Verarbeitung, noch sehr billig, weit unter Tagespreisen. Besonderen Wert legen wir auf unsere große Maßabteilung, die unter Leitung eines ersten Fachmannes nur das Beste unter Garantie tadellosen Sitzes liefert. Reifeisen & Co. Hamborn, Filiale Dorsten, Essener Straße 16".
|
Das Konfektionshaus nimmt einen rasanten Aufschwung. In der Regel sind drei Angestellte beschäftigt, bei Ausverkauf sogar 5 Angestellte. Am 21. November 1924 lesen wir in der Dorstener Volkszeitung:
"Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten! Das ist und bleibt trotz aller Angriffe unsere Parole! Deshalb veranstalten wir dies. Mal etwas ganz Außergewöhnliches. Morgen geht es los! Morgen erscheinen unsere Preisangebote! Reifeisen & Co. GmbH Dorsten, Essener Str. 16".
|
Die Verlobung
Bild: Zur Verlobung von Simon und Gertrud Reifeisen
Simon Reifeisen lernt Gertrud Anna Spanier, geboren am 12. Mai 1896 in Herford, kennen, und am 26. Oktober 1924 heiraten sie im Hotel Berliner Hof in Gelsenkirchen. Sie ziehen in die Wohnung über dem Geschäft in der Essener Straße 16. Gertrud Reifeisen hilft als gelernte Sekretärin ihrem Ehemann im Konfektions-geschäft und übernimmt die Buchhaltung.
Die Familie war gesellschaftlich sehr engagiert. Oft waren Gäste zu Besuch, zum Essen kleidete man sich immer um. Hausmädchen, für die im Dachgeschoss zwei Zimmer ausgebaut wurden, halfen im Haushalt. Wenn die Schwiegermutter aus Polen zu Besuch kam, brachte sie ihr eigenes Geschirr und ihre eigenen Töpfe mit - der Haushalt in Dorsten war ihr nicht koscher genug. Reifeisens waren eher liberal eingestellt. An den Hohen Feiertagen besuchte Simon mit seiner Tochter die Synagoge in Dorsten. Ilse bekam dort auch hebräischen Unterricht. Aber auch die christlichen Feiertage wie z.B. Weihnachten wurden mit Tannenbaum und Geschenken begangen.
|
Die Machtergreifung der Nazis bekommen auch die Reifeisens zu spüren. Ende 1936 müssen sie die angemieteten Räume für Wohnung und Geschäft der Fa. Gebr. Müller in der Essener Straße 16 aufgeben. Sie bekommen kleinere Geschäftsräume in der Essener Straße 22 von der jüdischen Familie Perlstein zugewiesen. Ihre Wohnung verlegen sie an die Grenzstrasse. Die Anfeindungen der Nazis wurden von Ilse ferngehalten. Aber auch sie machte die Bekanntschaft mit der Willkür der Nazis. Nachmittags beim Spielen wird ihr der Einlass in den Garten durch einen Mann in Uniform verwehrt. Andere Einschränkungen, außer dass Schulkameradinnen öffentlich nicht mehr mit ihr sprechen durften, fallen Ilse nicht ein, bis zu diesem Tag im Oktober 1938.
Die "Polen-Aktion"
Bild: Von links: Ilse Reifeisen, Oma Regina Spanier geb. Hermann, Betty Caspari (Schwester von Regina) und Erna Jastrow geb. Spanier
"Am 28. Oktober 1938, direkt nach der Schule, wurde ich mit meiner Mutter von zwei Polizisten zu Hause abgeholt und in das Gefängnis von Dorsten gebracht. Mein Vater war schon morgens abgeholt worden. Wir trafen ihn in einem fensterlosen Raum mit zwei Pritschen. Die Wachmannschaften waren freundlich und holten dank Vaters Geld uns etwas zu essen", erzählt Ilse Reifeisen-Hallin im Mai 2008.
Es fand die so genannte "Polen-Aktion" der Nazis statt, die sich jetzt im Oktober zum 70. Mal jährt. Eine brutale Deportation Tausender in Deutschland lebender polnischer Juden, eine Art "Generalprobe" sowohl technisch-administrativer Art als auch im Hinblick auf den öffentlichen Umgang mit der kollektiven Ausgrenzung und Deportation. In einer reichsweit koordinierten Aktion wurden ungefähr 17.000 Menschen – Juden polnischer Herkunft und ihre Familien verhaftet, in Sammelstellen gebracht und an die polnische Grenze geschickt.
|
"Am nächsten Tag wurden wir von Dorsten nach Essen zu einem Sammelplatz und einer Art Schule gebracht. Es war eng, es gab fast nichts zu essen und völlige Ratlosigkeit herrschte vor. Am 30. Oktober wurden wir mit vielen weiteren Personen von Essen in einen Waggon verladen und eine längere schrecklich enge Bahnfahrt fand statt. Wir fuhren über Berlin, in der Nacht sahen wir die Lichter", so Ilse weiter in ihrem Bericht. "Kurz vor der polnischen Grenze mussten alle aussteigen, die gehen konnten. Gertrud Reifeisen war herzkrank und ist mit dem Zug weitergefahren. Ich bin mit dem Vater ausgestiegen. Eine 10er Reihe wurde gebildet und rechts und links gingen Soldaten mit Hunden. Wie weit wir gehen mussten, weiß ich nicht mehr. Aber plötzlich wurde von polnischer Seite auf uns geschossen. Wir haben uns auf den Boden geworfen, mein Vater lag eine Weile beschützend über mir. Irgendwann sind wir weiter gezogen und in dem polnischen Ort Zbaszyn in Polen angekommen. Mein Vater ließ mich stundenlang allein mit einer Decke in einem stallartigen Gebäude zurück und suchte die Mutter. Die halbe Nacht hat er gesucht. Lange habe ich dann angestanden, um etwas Brot zu essen zu bekommen. Ich verstand die Polen nicht, da zuhause nie polnisch gesprochen wurde. Ca. 4 – 6 Tage waren wir so untergebracht, als eine Epidemie ausbrach. Mein Vater sagte dann, jetzt ist es genug und besorgte uns ein winziges Zimmer zu einem sehr hohen Preis."
Die kleine Stadt Zbaszyn von rund 4500 Einwohnern war überfordert. Etwa 1500 Personen konnten in Privatzimmern wohnen, die anderen hausten weiter in Militär-Pferdeställen und einer alten Fabrik. Für viele entspannte sich die Situation nach einigen Tagen, insbesondere solche, die unerlaubte Geldmittel eingeschmuggelt hatten oder zu polnischen Verwandten weiter reisen konnten. Die Schwester von Simon Reifeisen kam über England nach Polen und brachte finanzielle Hilfe.
Ende Januar kam es auf diplomatischen Kanälen zu einem Agreement zwischen deutscher und polnischer Regierung über eine kurzfristige Rückkehr-Erlaubnis für einige Deportierte; diese sollten Gelegenheit erhalten, Vermögensverhältnisse abzuwickeln.
"Meinem Vater wurden Dokumente in Zbaszyn vorgelegt, die den Verkauf seines Geschäftes in Dorsten betrafen. Er weigerte sich dies zu unterschreiben, aber er war bereit dies zu tun, wenn er zurückreisen könne".
Brief von Simon Reifeisen aus dem Gefängnis in Gelsenkirchen an Tochter Ilse in Schweden
Im März 1939 konnten Reifeisens befristet wieder nach Deutschland einreisen. Das Geschäft in Dorsten ist aber schon verkauft, die Wohnung aufgelöst. Sie finden Unterkunft bei der Großmutter Regina Spanier in Gelsenkirchen. Simon wird schon bald zwangsverpflichtet zur Arbeit, meistens als Übersetzer; dann wird er in das Polizeigefängnis von Gelsenkirchen eingesperrt. Im Dezember 1939 kurz vor Ilses Abreise nach Schweden sieht sie dort ihren Vater zum letzten Mal.
|
Gertrud und Simon Reifeisen versuchen dringend aus Deutschland auszureisen. Sie setzen alle Hebel in Bewegung, um zu Verwandten nach Israel, nach Polen, nach Chile, nach Russland oder in die USA zu gelangen. Aber kein Land lässt sie einreisen. Ihr einziger Trost ist, die Tochter in guten Händen zu wissen. Sie schicken jede Woche einen Brief an die Tochter nach Schweden.
"Sehr betrübt bin ich darüber, dass unser Einreisegesuch abgelehnt ist, aber man darf den Mut nicht sinken lassen. Am 20.1. geht wieder ein Transport, ob wir ihm angeschlossen werden, wissen wir noch nicht; wenn ich nur daran denke, bekomme ich eine Gänsehaut.", so Gertrud Reifeisen am 5. Januar 1942 und weiter schreibt sie am 14. Januar 1942: "Nun das Arbeiten schreckt mich nicht, wenn man dabei nur satt wird und lässt sich die Zeit wohl auch überbrücken und dann müssen wir eben später vollständig von vorn anfangen. Für uns ist es ein Lichtblick, dass du herausgerettet bist. Vielleicht sehe ich auch zu schwarz, trotz meines Optimismus."
|
Die bevorstehende Deportation
Bild: Brief von Gertrud Reifeisen an Tochter Ilse vom 19. Januar 1942
Transkription:
Reifeisen & Co. GmbH
Herren- und Damen-Konfektion, Manufakturwaren
Bank-Konto Spar- und Darlehnskassenverein
Dorsten, den 19. Januar 1942
Mein liebes Ilsekind!
Wir haben wenig Zeit zum Schreiben, uns bleiben nur noch 2 Tage, ab Donnerstag den 22. haben wir Ausgehverbot, müssen also alles noch schnellstens erledigen. Vielleicht kommen Backs noch fort, allerdings heute Vormittag hatten sie ihren Pass noch nicht und am 21. d. M. , also Mittwoch, läuft das Einreisevisum ab. Man bemüht sich in Stockholm um eine Verlängerung. Für mich wäre es eine große Freude, wenn sie doch noch fort kommen, und du dann dort mit ihnen sprechen kannst. Werde ein tüchtiges Mädel, Ilsechen, strebe vorwärts, versuche immer wieder für uns die Einreise zu erhalten, vielleicht können wir dann doch aus dem Osten nach dort kommen. Ob Oma hier bleiben kann, ist sehr fraglich, man nimmt auf ihre 74 Jahre und ihre Leiden keine Rücksicht. Der 2. Transport ab Herford-Bielefeld geht vorerst nicht ab und so haben Onkel und Tante wenigstens noch Glück. Wohin wir verschickt werden, wissen wir nicht.
2 Tage werden wir hier erst zur Kontrolle festgehalten und gesammelt, und dann sollen wir 4 Tage unterwegs bleiben, also ca. 6 Tage ohne Bett, ohne Kleidung zu wechseln, etc. Ein Glück, dass Du allem nicht ausgesetzt bist, wie es die alten Leute und die ganz kleinen Kinder überstehen sollen ist uns allen ein Rätsel. Das Schicksal meint es sehr hart mit uns. Vati geht zur Post und soll den Brief mitnehmen, darum Schluss. Liebchen, sei vorsichtig und bleib brav. Grüß Malms und Andersons von uns und empfange viele Küsse Von Deiner Mutti.
|
Der letzte Brief an die Tochter ist von Siegmund Reifeisen mit 21. Januar 1942 datiert:
"Nun muss ich dir leider mitteilen, dass wir ab Freitag gesammelt werden und fahren am 26. oder 27ten ab. Mutter schreibt noch extra. Nun sei fleißig, treu und brav. Lasse im Eifer zum Lernen nicht nach und bemühe dich, die beste Schülerin zu sein.
Sei dankbar zu Gott, dass er dich bis jetzt immer beschützt und behütet, sei der Familie Malm dankbar, dass sie dich in guter Pflege behalten und dir den richtigen Weg zeigen. Gebe Gott, dass du uns gesund erhalten bleibst und von Dir nur Gutes hören sollen. Wir nehmen einen Rucksack, einen Koffer und ein Bett jeder mit. Hoffentlich geht alles gut."
|
Ilses Karte an ihre Eltern. Vermerk: "Abgereist ohne Angabe der Adresse"
Ilses Karte an die Eltern vom Februar 1942 kommt zurück mit dem Vermerk, dass der Empfänger unbekannt verzogen ist.
Gertrud und Simon Reifeisen sowie die Großmutter Regine Spanier werden am 26. Januar 1942 in der Rundhalle auf dem Wildenbruchplatz in Gelsenkirchen gesammelt. Dorthin wurden alle Juden aus Dorsten, Lembeck, Marl, Recklinghausen, Herne und Gelsenkirchen gebracht.
Am 27. Januar sind sie morgens um drei Uhr am Güterbahnhof in Gelsenkirchen verladen worden. Der Transport bestand aus 1000 Personen. Bei 30 Grad unter Null in unbeheiztem Wagen, ohne Wasser und sonstige Verpflegung. Von Gelsenkirchen führte die Deportationsroute über Dortmund und endete am Rigaer Bahnhof.
|
Regina Spanier ist bei der Liquidierung des Ghettos Riga umgekommen. Simon Reifeisen wird 1942 bei der "Tötungsaktion Krebsbach" im KZ Kaiserwald/Riga ermordet. Gertrud Reifeisen wird ebenfalls vom Ghetto Riga in das KZ Kaiserwald überstellt und von dort in das KZ Stutthof bei Danzig gebracht. Ihr Todesdatum wird mit dem Jahr 1945 angenommen.
Nur die Stolpersteine in der Essener Straße in Dorsten erinnern heute an Gertrud und Simon Reifeisen.
Elisabeth Cosanne Schulte-Huxel, Jüdisches Museum Westfalen, Dorsten. Mit freundlicher Genehmigung.
Der Artikel über die Familie Reifeisen von Elisabeth Cosanne Schulte-Huxel ist im Heimatkalender der Herrlichkeit Lembeck und der Stadt Dorsten 2009 erstmalig erschienen.
|