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Fernschreiben an alle Leitstellen

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Von den Novemberpogromen 1938 zum Holocaust:

Die Pogrome 1938 waren keineswegs der Anfang der Judenverfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland. Schon kurz nach der Machtübergabe an Hitler folgte der Aufruf zum "Judenboykott" am 1. April 1933. Zwei Jahre später folgten die "Nürnberger Rassengesetze". Nach den Judenpogromen um den 9.11.1938 folgten weitere, koordinierte Aktionen des NS-Terrorregimes mit dem Ziel, Deutschland - wie die Nazis es nannten - "judenfrei" zu machen.

Der Chef der Gestapo-Abteilung für Regimegegner, Heinrich Müller, sandte um 23:55 Uhr ein Fernschreiben an alle Leitstellen der Staatspolizei im "Dritten Reich":

Fernschreiben von

Gestapa-Fernschreiben vom 9. 11. 1938, 23 Uhr 55
Berlin Nr. 234 404 9.11.2355

An alle Stapo Stellen und Stapoleitstellen, An Leiter oder Stellvertreter
Dieses FS ist sofort auf dem schnellsten Wege vorzulegen.

1. Es werden in kürzester Frist in ganz Deutschland Aktionen gegen Juden insbesonders gegen deren Synagogen stattfinden. Sie sind nicht zu stören.
Jedoch ist im Benehmen mit der Ordnungspolizei sicherzustellen, dass Plünderungen und sonstige besondere Ausschreitungen unterbunden werden können.
2. Sofern sich in Synagogen wichtiges Archivmaterial befindet, ist dieses durch eine sofortige Massnahme sicherzustellen.
3. Es ist vorzubereiten die Festnahme von etwa 20-30 000 Juden im Reiche. Es sind auszuwählen vor allem vermögende Juden. Nähere Anordnungen ergehen noch im Laufe dieser Nacht.
4. Sollten bei den kommenden Aktionen Juden im Besitz von Waffen angetroffen werden, so sind die schärfsten Massnahmen durchzuführen. Zu den Gesamtaktionen können herangezogen werden Verfügungstruppen der SS sowie Allgemeine SS. Durch entsprechende Massnahmen ist die Führung der Aktionen durch die Stapo auf jeden Fall sicherzustellen.
Zusatz für Stapo Köln:
In der Synagoge Köln befindet sich besonders wichtiges Material. Dies ist durch schnellste Massnahme im Benehmen mit SD sofort sicherzustellen.


Gestapa II. Mueller
Dieses FS ist geheim.

Quelle: Hans-Jürgen Döscher, "Reichskristallnacht" Die November-Pogrome 1938, Frankfurt a.M./ Berlin 1988, S.89

Polizei und SS waren demnach eine Stunde nach der SA über die angeordneten Pogrome informiert, die um 23:00 Uhr begonnen hatten. Sie sollten diese "Aktion" zu der längst geplanten Internierung wohlhabender Juden nutzen. Nachdem Himmler neue Rekruten der Waffen-SS vereidigt hatte, erteilte er die "näheren Anordnungen" Heydrich, der diese um 1:20 Uhr seinerseits als Blitzfernschreiben an alle untergeordneten Dienststellen sandte.

Darin bekräftigte er das Verbot, zu plündern, den Schutz für Nachbargebäude vor Bränden und ergänzte, dass Ausländer, auch Juden nicht zu belästigen seien. Die Zahl der Festzunehmenden ließ er offen: "Sobald der Ablauf der Ereignisse dieser Nacht die Verwendung der eingesetzten Beamten hierfür zulässt, sind in allen Bezirken so viele Juden, insbesondere wohlhabende Juden festzunehmen, als in den vorhandenen Hafträumen untergebracht werden können." Die Leitung der Zerstörungen oblag den örtlichen Propagandaämtern der NSDAP. Sie beriefen die SA-Ortsgruppen ein, die ihre Mitglieder instruierten und in Marsch setzten, um die Befehle auszuführen.

Abschrift des "Blitz-Fernschreiben des SS" Gruppenführers Heydrich:

An alle Stapoleit- und Stapostellen, an alle SD, OA, und alle UA.

Blitz, dringend, sofort vorlegen !

Dringend sofort dem Leiter oder seinem Stellvertreter vorlegen.
Betrifft: Maßnahmen gegen Juden in der heutigen Nacht.

Auf Grund des Attentats gegen den Leg.Sekr. v. Rath in Paris sind im Laufe der heutigen Nacht 9./10.11.38 im ganzen Reich Demonstrationen gegen die Juden zu erwarten. Für dir Behandlung dieser Vorgänge ergehen folgende Anordnungen.
1.) Die Leiter der Staatspolizeistellen oder ihre Stellvertreter haben sofort nach Eingang dieses Fernschreibens mit den für ihren Bezirk zuständigen Politischen Leitungen, Gauleitung oder Kreisleitung,fernmündlich Verbindung aufzunehmen und eine Besprechung über die Durchführung der Demonstrationen zu vereinbaren, zu der der zuständige Inspekteur oder Kommandeur der Ordnungspolizei zuzuziehen ist. In dieser Besprechung ist der Politischen Leitung mitzuteilen, dass die Deutsche Polizei vom Reichsführer der SS, und Chef der Polizei die folgenden Weisungen erhalten hat, denen die Maßnahmen der Politischen Leitungen zweckmäßig anzupassen wären:
a) Es dürfen nur solche Maßnahmen getroffen werden, die keine Gefährdung deutschen Lebens oder Eigentums mit sich bringen (z.B. Synagogenbrände nur, wenn keine Brandgefahr für die Umgebung ist).
b) Geschäfte und Wohnungen von Juden dürfen nur zerstört, nicht geplündert werden. Die Polizei ist angewiesen, die Durchführung dieser Anordnung zu überwachen und Plünderer festzunehmen.
c) In Geschäftsstraßen ist besonders darauf zu achten, dass nicht jüdische Geschäfte unbedingt gegen Schäden gesichert werden.
d) Ausländische Staatsangehörige dürfen, auch wenn sie Juden sind nicht belästigt werden.
2.) Unter der Voraussetzung, dass die unter 1.) angegebenen Richtlinien eingehalten werden, sind die stattfindenden Demonstrationen von der Polizei nicht zu verhindern, sondern nur auf die Einhaltung der Richtlinien zu überwachen.
3.) Sofort nach Eingang dieses Fernschreibens ist in alle Synagogen und Geschäftsräumen der jüdischen Kultusgemeinde das vorhandene Archivmaterial polizeilich zu beschlagnahmen, damit es nicht im Zuge der Demonstrationen zerstört wird. Es kommt dabei auf das historisch wertvolle Material an, nicht auf neuere Steuerlisten usw. Das Archivmaterial ist an die zuständigen SD-Dienststellen abzugeben.
4.) Die Leitung der sicherheitspolizeilichen Maßnahmen hinsichtlich der Demonstrationen gegen Juden liegt bei den Staatspolizeistellen, soweit nicht die Inspekteure der Sicherheitspolizei Weisungen erteilen. Zur Durchführung der sicherheitspolizeilichen Maßnahmen können Beamten der Kriminalpolizei sowie Angehörigen der SD, der Verfügungstruppe und der allgemeinen SS Zugezogen werden.
5.) Sobald der Ablauf der Ereignisse dieser Nacht die Verwendung der eingesetzten Beamten hierfür zulässt, sind in allen Bezirken so viele Juden, insbesondere wohlhabende Juden festzunehmen, als in den vorhandenen Hafträumen untergebracht werden können. Es sind zunächst nur gesunde, männliche Juden nicht zu hohen Alters festzunehmen. Nach Durchführung der Festnahmen ist unverzüglich mit dem zuständigen Konzentrationslagern wegen schnellster Unterbringung der Juden in den Lagern Verbindung aufzunehmen. Es ist besonders darauf zu achten, dass die auf Grund dieser Weisung festgenommenen Juden nicht misshandelt werden.
6.) Der Inhalt dieses Befehls ist an die zuständigen Inspekteure und Kommandeure der Ordnungspolizei und an die SD-Ober- und Unterabschnitte weiterzugeben mit dem Zusatz, dass der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei diese polizeilichen Maßnahmen angeordnet hat. Der Chef der Ordnungspolizei hat für die Ordnungspolizei einschließlich der Feuerlöschpolizei entspr. Weisungen erteilt. In der Durchführung der angeordneten Maßnahmen ist engstes Einvernehmen zwischen Sicherheitspolizei und der Ordnungspolizei zu wahren.
Der Empfang dieses Fernschreiben ist von den Stapoleitern oder seinen Vertretern durch FS. an das Geheime Staatspolizeiamt, z.H. SS-Standartenführer Müller,zu bestätigen.

gez. Heydrich, SS-Gruppenführer

Gestapa-Fernschreiben vom 9.11.1938 in: Hans-Jürgen Döscher, "Reichskristallnacht" - Die November-Pogrome 1938, Frankfurt a.M./ Berlin 1988, S.89

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Andreas Jordan, November 2005

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