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Das Wörterbuch des Unmenschen



Argumente gegen den Begriff "Reichskristallnacht"


Der Begriff gilt als Euphemismus, da er die Sachbeschädigungen (Glasscherben) anspricht und die Misshandlungen und Ermordungen der Pogromopfer ausklammert. Dieser Vorwurf entstand keineswegs erst in den letzten Jahren: Schon am zehnten Jahrestag 1948 kritisierte die "Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen" (eine Verfolgtenorganisation):

Ehe es soweit ist, daß sich dieses falsche Wort in dem allgemeinen Sprachgebrauch so eingebürgert hat, daß es nicht mehr wegzubringen ist, möchten wir darauf hinweisen, welche Entstellung mit der Benutzung dieses Wortes verbunden ist. Das Wort "Kristallnacht" ist nicht von den früher Verfolgten erdacht und in den Sprachgebrauch gebracht worden.

Auch diese Wortschöpfung könnte als Euphemismus verstanden werden, da sie, sicher meist ungewollt, zusätzlich einen Teil der NS-Propaganda transportiert, es habe sich um die angeblich spontanen Ereignisse ca. einer Nacht gehandelt. Historisch gesehen aber ist es unhaltbar, die Novemberpogrome auf die Nacht vom 9. auf den 10. November zu reduzieren, so forderte unter anderem die Verhaftungswelle ab dem 10. November mehr Todesopfer als die eigentliche Pogromnacht.

Eine Umbenennung der Ereignisse allein bedeutet noch keine Aufarbeitung der Novemberpogrome oder Vergangenheitsbewältigung, könnte sie dennoch vortäuschen. Der frische Begriff verdeckt die Einmaligkeit der Reichskristallnacht als ein so nie vorher dagewesenes Ereignis. Wird diesem Ereignis der Eigenname genommen und ihm eine Kategoriebezeichnung wie Reichspogromnacht gegeben, so könnte daraus folgen, daß dessen Singularität geleugnet würde - in dem Reich gab es seit den Kreuzzügen viele Pogrome, aber keiner davon war die Reichskristallnacht. Die Umbenennung - die ca. in dem deutschen Sprachraum stattfand - kann die Wissensfindung über die in vielerlei in- und ausländischer Literatur auch heute noch so benannte Reichskristallnacht erschweren.

Im Schlusswort eines Aufsatzes aus dem November 2002 macht der Politologe Harald Schmid darauf aufmerksam, daß die dem Begriff "Reichskristallnacht" scheinbar oder tatsächlich innewohnende Verharmlosung auch als konstruktives Element zu dem Aufrechterhalten einer Debatte zu diesem Thema verstanden werden kann.

Gewiss, in politischer Hinsicht bleibt "Reichskristallnacht" dubios: Versteht man den Begriff als Bestandteil des "Wörterbuchs des Unmenschen", so verbietet sich eine distanzlose Übernahme ohnehin; nimmt man ihn als historischen Ausdruck, der er ja tatsächlich ist, so ist er zwar wissenschaftlich unverzichtbar, doch stellt sich das Problem, daß er jedenfalls für Nachlebende das Ereignis selbst eher verdeckt. Doch das Wort bleibt auch ein nützlicher sprachlicher Stolperstein. Denn die scheinbar lediglich etymologische und semantische Kontroverse führt geradewegs zu dem Gespräch über die ganze NS-Vergangenheit, den kritischen Umgang mit ihr und das Bemühen um moralische Genauigkeit - auch in der heutigen Benennung politischer Verbrechen. So wird uns dieser Sprachstreit in dem "Novemberland" (Günter Grass) weiter begleiten.

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Andreas Jordan, Dezember 2007