"Woche der Erinnerung": Rolf Abrahamsohn - Alles weiß ich noch... und das ist das Schlimme an der Geschichte
Am Vorabend des 27. Januar 2012 fand im Kulturzentrum "die flora" eine Filmpräsentation statt. Im Rahmen der von Gelsenzentrum e.V. initiierten Veranstaltungsreihe "Woche der Erinnerung" zeigte der Verein den Mittschnitt eines zeitzeugenschaftlichen Vortrags von Rolf Abrahamsohn. Zur Einführung hielt Rolf Heinrich ein beindruckendes Referat zum Thema "Sich Erinnern und Gedächtnis".
Rolf Abrahamsohn ist, wie man so sagt, ein Zeitzeuge. Zeuge einer Zeit, in der Menschen gedemütigt, erniedrigt, gequält, verschleppt und schlussendlich ermordet wurden - nur weil sie Juden waren. Rolf Abrahamsohn ist Jude. Und er ist Botschafter des Holocaust - aus eigenem Erleben. Zusammen mit seiner Mutter wurde auch der heute 86jährige Rolf Abrahamsohn einige Tage vor dem Abtransport von Recklinghausen zur Ausstellungshalle auf dem Wildenbruchplatz verschleppt. In dieser Halle, von den Nazis zum "Judensammellager" umfunktioniert, wurden etwa jüdische 360 Kinder, Frauen und Männer jeden Alters aus Gelsenkirchen eingepfercht, etwa 150 weitere jüdische Menschen wurden aus umliegenden Städten nach Gelsenkirchen gebracht. Die NS-Verfolgungsbehörden stellten in diesen Tagen ab Gelsenkirchen einen der so genannten "Judensammeltransporte" zusammen.
Am frühen Morgen des 27. Januar 1942 wurden die Menschen zum Bahnhof getrieben, ihr Gepäck wurde verladen. Der Zug verließ schließlich Gelsenkirchen in Richtung Riga. Dieser Menschentransport war der erste aus Gelsenkirchen, weitere sollten folgen. Heute, auf den Tag genau vor 70 Jahren, sahen in der Ausstellungshalle am Wildenbruchplatz, nur einige hundert Meter von hier entfernt, mehr als 500 eingesperrte Menschen einer schrecklichen, von den Nazis bereits vorbestimmten Zukunft entgegen. Die Menschen wussten nicht, was sie am Bestimmungsort erwarten sollte. Einige Wochen vor der Deportation hatten die Betroffenen bereits einen Brief erhalten, darin wurde dem Empfänger mitgeteilt, dass er zur "Evakuierung in den Osten" eingeteilt ist und sich an einem bestimmten Tag für den Transport bereit zu halten habe.
Die Menschen glaubten zu diesem Zeitpunkt noch an einen Arbeitseinsatz im Osten, wurde doch in dem Brief detailliert aufgelistet, welche Ausrüstungsgegenstände mitzunehmen sind: Schlafanzug, Nachthemd, Socken, Pullover, Hosen, Hemden, Krawatten, warme Kleidung, Näh- und Rasierzeug, Bettzeug, Medikamente und Verpflegung. Arbeit im Osten, daran glaubte man. Denn Arbeit bedeutet Brot, und Brot bedeutet Leben, bedeutet Überleben, so dachte man. Niemand konnte sich vorstellen, dass das alles nur Lug und Trug war, perfider Teil eines Mordplans, den die Nazis "Endlösung" nannten.
Rolf Abrahamsohn ist einer von den wenigen, der das Ghetto in Riga, die Selektionen und den Leidensweg durch die die Konzentrationslager Kaiserwald, Stutthof, Buchenwald, Bochum und Theresienstadt überlebte. Wenn Rolf Abrahamsohn erzählt, dann immer noch spürbar unter Angst und Schrecken. Er legt Zeugnis ab von dem unvorstellbaren Leid, dass ihm wiederfahren ist.
"Woche der Erinnerung": 27. Januar 2012 - Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus
Die Veranstaltungsreihe “Woche der Erinnerung” fand am Freitagabend mit einem Schweigegang durch die Bahnhofstraße und der daran anschließenden Gedenkveranstaltung "Gelsenkirchener Lichter" ihren Abschluss. Der Tag des Gedenkens an die Befreiung der Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz erinnerte auch an die erste Deportationjüdischer Menschen von Gelsenkirchen nach Riga.
Die Gedenkveranstaltung auf dem Neumarkt in der Gelsenkirchener Innenstadt erinnerte am Abend des 27. Januar an den geplanten, beschlossenen und systematisch durchgeführten Völkermord an den europäischen Juden, an Sinti und Roma und schloss dabei alle Opfer des totalitären NS-Regimes ein, ungeachtet ihrer Nationalität, Ethnie, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung oder sonstiger Merkmale. Erinnert wurde auch an diejenigen, die von den Nazis schikaniert, inhaftiert, gefoltert und ermordet wurden, weil sie Widerstand leisteten oder verfolgten Menschen Schutz und Hilfe gewährten.
An diesem Tag jährte sich auch zum 70. Male die erste Deportation jüdischer Menschen aus Gelsenkirchen. Die allermeisten der am 27. Januar 1942 nach Riga verschleppten jüdischen Menschen wurden von den Nazis ermordet. Die oftmals einzigen Spuren ihres Lebens finden sich heute nur noch in den alten Meldeunterlagen der Stadt. Es sind bürokratischen Vermerke wie „nach dem Osten abgeschoben“ oder „unbekannt verzogen“. Es blieben nur wenige am Leben, die Zeugnis ablegen konnten.
Herman Neudorf, einer der wenigen Gelsenkirchener Juden, die 1945 von den Alliierten befreit wurden, formuliert es so: "Oft wundert man sich selbst, dass man diese schrecklichen Jahre überhaupt überleben konnte." Veranstalter Andreas Jordan von Gelsenzentrum e.V. sagte in seiner Rede: "Gemeinsam wollen wir heute auch an die Menschen aus Gelsenkirchen denken, denen in Riga und anderswo unbeschreibbares Leid zugefügt worden ist, die dennoch überleben konnten. Ihre Leidenswege sollen heute nicht unbedacht bleiben." Eine Aufzeichnung der Gedenkveranstaltung wird den in den USA lebenden "Gelsenkirchen Survivors" - eine Gruppe Gelsenkirchener Juden, die den Holocaust überlebt haben - auf deren Wunsch zur Verfügung gestellt.
Roman Franz, Vorsitzender des Landesverbandes NRW und Vorstandsmitglied des Zentralrates und des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma betonte in seiner Ansprache, wie wichtig es sei, “nicht mehr wegzuschauen, denn wir wissen alle, zu was der Nationalsozialismus führte. Leider fehlt hier in Gelsenkirchen aber immer noch ein öffentliches Zeichen der Erinnerung und des Willens, dass Schicksal der aus Gelsenkirchen verschleppten und in Auschwitz ermordeten Sinti und Roma nie zu vergessen. Der Sinn unseres Gedenkens ist nicht Anklage und Schuldzuweisung, sondern Ermutigung zum handeln - die Erinnerung an das Geschehen durch Zeichen des Gedenkens oder Veranstaltungen wie die heutige ist ein Appell an unsere Verantwortung für unser Zusammenleben heute. Politikerinnen und Politiker sollten darin besonders Vorbilder sein, heutigen Erscheinungen von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus endlich entschiedener entgegenzutreten, denn diese sind keineswegs harmloser als damals.”
Auch Dr. Michael Krenzer (Zeugen Jehovas), Marianne Konze (VVN/BdA), Toni Lenz (MLPD) und Kalle Wittmann (AUF) hoben in ihren Wortbeiträgen hervor, dass es grade in unserer Zeit – nicht nur aufgrund des Terrors der NSU und vieler anderer Nazis in Deutschland – wichtig ist, sich der geschichtlichen Verantwortung Deutschlands während des Nationalsozialismus bewusst zu werden. Die Gelsenkirchener Stadtspitze, wie auch Vertreter der etablierten Parteien, der Kirchen sowie der “Demokratischen Initiative” suchte man auf der Gedenkveranstaltung vergeblich. “Wo ist der Oberbürgermeister von Gelsenkirchen? Wo sind die politischen Vertreter und Vertreterinnen? Warum stehen sie nicht hier?” fragte Bärbel Beuermann (DIE LINKE) in ihrem Wortbeitrag, und weiter führte sie aus: “Ich vermisse diese Solidarität der Stadt Gelsenkirchen und ich mahne an: Wenn Mahnen und Gedenken nicht respektiert wird, dann gehen wir in eine Zukunft, die wir alle nicht haben wollen.” Die Gedenkveranstaltung endete mit dem Appell an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer: “Seit wachsam! Nie wieder Faschismus!”