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Die Gelsenkirchener Erinnerungskultur

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Vom eigenwilligen Umgang mit der Geschichte

Eine Betrachtung der öffentlichen Erinnerungsarbeit der Stadtverwaltung Gelsenkirchen im Juni 2008

30.000 Euro ist gewiss nicht zu viel für eine Studie, aber kann die Lösung der Frage über die Verwicklung Nietschs und der Halfmannshofkünstler nicht in einem einfacheren Rahmen gelöst werden? Muss man wirklich bis nach Berlin fahren um etwas über Gelsenkirchener zu erfahren, die während der Nazizeit in Gelsenkirchen gelebt und gewirkt haben?

Ich möchte die Diskussion über Hubert Nietsch nutzen, um ein wenig Kritik am ISG zu üben, dessen Forschungsschwerpunkt in den letzten Jahren eine rechte Schlagseite bekommen hat und ausschließlich im Nationalsozialismus zu liegen scheint, als hätte es in Gelsenkirchen vorher und hinterher nichts Forschungswürdiges gegeben.

Zum Thema Nationalsozialismus und den Gelsenkirchener Archiven

Gewiss ist es wichtig, sich mit dem Nationalsozialismus zu beschäftigen und auseinanderzusetzen. Gelsenkirchen ist da mit seiner Aufarbeitung noch lange nicht fertig. Aber muss es immer nur um Nazis gehen und kann man nicht erst einmal mit dem arbeiten, was man zuhause in Gelsenkirchen vor der Türe hat? Gelsenkirchen ist voll mit Archiven und Sammlungen, die bei Zechen, Unternehmen Vereinen und Privatpersonen lagern. Nur mangelt es in dieser Stadt an einer entsprechenden Infrastruktur und Vernetzung, die es ermöglicht, mit dem dort vor sich hin schlummernden Material vernünftig zu arbeiten.

Das Fehlen von sogenannten Fundbüchern, in denen Quellen und Literatur so aufbereitet sind, dass sie ohne größeren Aufwand ausfindig gemacht werden können, wird Seitens des Instituts für Stadtgeschichte zwar gerne bemängelt und scheint die Zusammenarbeit mit Archiven, die sich nicht in öffentlicher Hand befinden zu erschweren, allerdings werden diese Archive auch völlig alleine gelassen. Die Stadt Gelsenkirchen kümmert sich vielleicht noch um entsprechende Räumlichkeiten, aber schon bei den Betriebskosten (Heizung, Strom etc.) müssen die Initiatoren von Einrichtungen außerhalb des ISG selbst in die Tasche greifen oder unnötig Zeit und Arbeit damit verbringen, Sponsoren zu suchen, damit die über Jahre aufgebauten Sammlungen, die den Bürgern dieser Stadt und Forschern aus allen möglichen Bereichen kostenlos zur freien Verfügung stehen, auch weiterhin erhalten bleiben.

Ich bilde mir ein, einen Teil der Archive Gelsenkirchens im letzten Jahr kennen gelernt zu haben und die Situation ist einfach chaotisch. Da stapelt sich in Kellern Kistenweise Material von Aktienunternehmen, Betrieben, Parteien, Vereinen, Gruppen und Privatpersonen, die vernünftig aufbereitet werden müssen, Material, was nur darauf wartet durchforstet und durchforscht zu werden...mit 30.000 Euro ließe sich da einiges machen.

Zur Art und Weise der Präsentation der Arbeiten des ISG:

Wissenschaftliche Arbeiten sind wichtig, aber man muss nicht aus allem eine Wissenschaft machen. Wenn man die Zeitungsartikel der WAZ zu dem Thema Nietsch verfolgt, fällt auf, dass die Idee hinter die Kulissen des Halfmannshofs zu schauen, bei den Gelsenkirchener Geschichten geboren wurde. Ich glaube nicht, dass hier jemand der User erwartet hat, dass das ISG gleich eine Doktorarbeit verfasst, die man später als Buch kaufen oder ausleihen kann, um eine Antwort zu erfahren. Man erwartet viel mehr ein paar stichhaltige Informationen, möglichst verständlich präsentiert und ohne viel Aufwand zu bekommen...

In der Darstellung und Nutzung hinsichtlich neuer Medien arbeitet das ISG völlig unzeitgemäß, denn Forschungsergebnisse und Fakten zur Stadtgeschichte werden immer nur als Druckwerk veröffentlicht. (wahrscheinlich auch mangels fehlender finanzieller Mittel). Im Internet zumindest sucht man vergebens danach. Die Homepage des ISG nutzt das Institut lediglich zur Selbstdarstellung, statt sie zur Präsentation von Inhalten, historischer Fakten oder Forschungsergebnissen rund um die Stadtgeschichte für die Öffentlichkeit aufzubereiten. Unsere Nachbarstädte haben im Gegensatz zu Gelsenkirchen das Internet als Medium zur Darstellung stadtgeschichtlicher Themen längst entdeckt, wieso nicht auch Gelsenkirchen?

Schön für Hagen, schade für Gelsenkirchen

Mein Tip: Einfach mal bei Google ein paar Stichwörter eingeben, die mit Gelsenkirchen zu tun haben und schauen, was einem vom ISG da angeboten wird und was man alternativ auf anderen Seiten findet. Auf der Seite der Stadt Hagen erfährt man zum Beispiel mehr über den Kriegsverlauf in Gelsenkirchen, als auf der Seite des ISG. Dort befindet sich übrigens auch ein Artikel über Alfred Meyer, seit Jahren Lieblingsthema des Instituts für Stadtgeschichte, verfasst von dessen Leiter Dr. Jürgen Priamus. Auf den Internetseiten des ISG hingegen erfährt man über Meyer so gut wie nichts, lediglich, welche Ämter er einmal ausübte und an der Wannseekonferenz teilgenommen hat.... ach ja: 1937 hat er in Gelsenkirchen das Teilstück der A3 eingeweiht...

Wieso veröffentlichen die Forscher des ISG ihre Artikel auf den Seiten anderer Ruhrgebietsstädte, nicht aber auf der eigenen? Wofür braucht das ISG Gelsenkirchen überhaupt eine eigene Internetseite, wenn man seine Ergebnisse beispielsweise beim Historischen Centrum Hagen ins Netz stellt? Schön für Hagen, schade für Gelsenkirchen.

Stichwort: Künstlersiedlung Halfmannshof

...Vermutlich wird man über Nietsch und Co. nichts außerordentlich spektakuläres mehr herausfinden. Zumindest nichts um ihm mit der "Nazikeule" eins drüber geben zu können, oder ihm den Stempel "Nationalsozialist" aufzudrücken. Das ISG hätte allerdings mal wieder eine neue Publikation über den Nationalsozialismus herausgebracht, diesmal nicht über einen Nazi aus der zweiten Reihe, wie Alfred Meyer, sondern einen aus der vierten, fünften oder sechsten ... Wenn demnächst eine wissenschaftliche Aufarbeitung zu diesem Thema als Buch erhältlich ist, vom Halfmannshof mitgetragen und unterzeichnet, dann kann man wirklich sagen, das Thema ist geklärt.

Natürlich kann man sich über jede Arbeit freuen, die Licht in die dunkle braune Zeit vor 1945 wirft. Aber die derzeitige Konzentration auf den Künstlerhof geht zu Lasten anderer Themen, die in Gelsenkirchen meines Erachtens eine viel größere Rolle spielen als ein Künstler oder eine Künstlergruppe, von denen ein Teil bestimmt in der Partei war und vielleicht nicht nur mitgeschwommen ist sondern auch davon profitiert hat. Mich würde aber wundern, wenn im Zusammenhang mit dem Halfmannshof spektakuläres ans Tageslicht käme, weil von denen jemand übermässig Dreck am Stecken hat. Das ISG wird wahrscheinlich Hubert Nietsch mit seiner Studie 63 Jahre nach dem Nationalsozialismus nachträglich einen wissenschaftlich fundierten Persilschein im Wert von 30.000 Euro ausstellen...

Kulturhauptstadt 2010

Ich frag mich allen ernstes, wann endlich mal die Industrieunternehmen Gelsenkirchens und deren herausragende Köpfe Gegenstand der historischen Forschung in Gelsenkirchen werden. Wir waren einst die größte Kohlenstadt Europas, aber die Zechen Gelsenkirchens sind diejenigen, die man am wenigsten kennt. 2010 feiert sich Gelsenkirchen mit dem Ruhrgebiet als Kulturhauptstadt Europas und alles dreht sich um Zollverein in Essen, um die Jahrhunderthalle und das Bergbaumuseum in Bochum, um Zollern in Dortmund etc. Die Bergwerke der grössten Kohlenstadt allerdings sehen im Rahmen dieser Feierlichkeiten eher bescheiden aus, weil sie niemand kennt. Nicht unbegründet, denn es forscht ja auch niemand nach in Gelsenkirchen.

Das erste, was der Stadt für 2010 einfiel, war wieder mal nur Fussball. Aber seit das Thema, auf Schalke ein UEFA Cup Endspiel auszutragen vom Tisch ist, gibts eigentlich auch nichts wirklich großes, mit dem Gelsenkirchen auf der Kulturhauptstadtfeier aufwarten kann.... Nicht, dass wir hier nichts vergleichbares hätten, unsere Industriekultur kennt nur nicht jeder ausserhalb der Stadt.

Wenn man sich die Publikationen des ISG anschaut, dann gibt es zwar den einen oder anderen Bildband über die Kolonien mit alten Fotos von Industrieanlagen, aber das war es. Gegenstand grösserer Forschungen waren sie noch nie.

Rüstungsmonopole, Großindustrie und Banken

Wann heißen die Themen in Gelsenkirchen endlich mal GBAG und Rheinelbe? Wann stehen Personen wie Emil Kirdorf im Visir der Arbeiten? Da reichen wahrscheinlich 30.000 Euro nicht aus und dafür wird man nicht nur nach Berlin fliegen müssen. Wenn das scheinbar einzige Thema des ISG schon Nationalsozialismus heisst, wieso muss man sich mit Nazis der hinteren Reihen auseinandersetzen, wenn diese Stadt auch welche aus vorderster Reihe zu bieten hat? Was ist Mit Dürfeld und Ambros? Wieso kennt die kaum jemand in Gelsenkirchen, wo sie doch "namhafte" Kriegsverbrecher waren, die wegen ihrer Beziehung zu Auschwitz sogar bei den Nürnberger Prozessen abgeurteilt wurden?

Wieso fällt Gelsenkirchenern zum Stichwort "Hydrierwerk Scholven" fast nur die Pionierleistung in Sachen Kohlenhydrierung ein, nicht aber Ambros oder Göring, Bütefisch oder ter Mer? Oder Rüstungskonzern? Weil es ihnen niemand sagt. Weil in Gelsenkirchen niemand darüber diskutiert. Vielleicht weil man Leute wie Ambros oder Bütefisch selbst beim ISG nicht kennt und gar nicht weiss, welche Rolle sie in Gelsenkirchen einst spielten...

Die Industrie Gelsenkirchens, die entscheidend zur Stadtentwicklung beigetragen hat und ohne die die Großstadt gar nicht möglich wäre, scheut das ISG scheinbar, wie der Teufel das Weihwasser und in dem Punkt, besonders was den Nationalsozialismus angeht, ist in Gelsenkirchen noch gar nichts geklärt, nicht einmal Ansatzweise. Wahrscheinlich werden das irgendwann auch die historischen Forschungseinrichtungen anderer Ruhrgebietsstädte für Gelsenkirchen übernehmen. Auch in diesem Zusammenhang lohnt ein Vergleich mit Hagen, Bochum, Essen etc. ...

Ein Institut, welches sich mit der Stadtgeschichte auseinandersetzt, sollte sich nicht nur der Forschung verpflichtet fühlen, sondern auch daran interessiert sein, seine Ergebnisse weiterzugeben. Nicht nur an andere Forscher, sondern auch an die interessierten Bürger. Stichwort Didaktik. Wie gross das Interesse in Gelsenkirchen an der Geschichte ist, sieht man am besten hier bei den Gelsenkirchener Geschichten. Je mehr in diese Internetseite reingestellt wird, um so neugieriger werden die User. Das ISG mag zwar vom Anspruch her selbständig und unabhängig sein, aber nach außen hin wirkt es eher wie ein Amt, da kann auch die wunderschöne Behausung im Wissenschaftspark nichts dran ändern. Öffnungszeiten Di. Mi. Do. 10 bis 17 Uhr.

Nein, Bücher können sie nicht ausleihen und ihren Laptop und Scanner können sie leider auch nicht mitbringen...die Dokumentationsstätte "Gelsenkirchen im Nationalsozialismus" in Erle (Cranger Straße 323) ist während der Schulferien geschlossen..."Autorenlesungen sieht das Konzept der Dokumentationsstätte nicht vor"...

Fehlende Bürgernähe

Was ich vermisse ist eine Bürgernähe, die die Einwohner Gelsenkirchens mit in die Forschung einbezieht, das sind Workshops und Arbeitsgruppen unter wissenschaftlicher Leitung, die genauso zu einem vernünftigen Ergebnis führen können, welches für weitere Forschungszwecke als Buch oder Schriftenreihe aufgemacht werden kann. Es ist unglaublich, wie viel einem zum Beispiel alte Bergleute über ihren Pütt erzählen können und was diese Leute an Fotos, Büchern oder anderen Dokumenten in ihren Regalen stehen haben. Wieso nutzt man diese Chance nicht aus mit solchen Menschen zusammen zu arbeiten, solange sie noch leben und über den Bergbau erzählen können? Beim ISG arbeitet Akademiker, die alle mit Bergbau nichts am Hut haben, die allerdings in der Lage wären, solche Informationen vernünftig aufzubereiten und in den entsprechenden Kontext zu stellen.

Mit der Künstlersiedlung Halfmannshof wäre es vielleicht auch möglich gwesen im Rahmen eines Workshops deren Geschichte aufzuarbeiten, immerhin haben die Mitglieder dieser Gruppe reges Interesse an der Aufarbeitung bekundet. Wenn es da wirklich ein Archiv gibt, dann könnte man denen zum Beispiel zeigen, wie man in so ein Archiv Ordnung bringt um es über das Thema Nietsch hinaus längerfristig für andere Forschungsprojekte zugänglich zu machen.

Eine Anfrage oder einen Sachverhalt mit einer Studie bedienen zu können, ist natürlich die Krönung eines jeden Wissenschaftlers und Instituts. Aber wieso muss es der Mercedes sein, wenn man auch mit einem Golf ans Ziel kommen kann? Wenn es sich Gelsenkirchen noch nicht einmal leisten kann, dass sich zumindest die Internetpräsenz des ISG ein wenig informativer und für den User spannender gestaltet, dann stehen die 30.000 Euro für eine Studie erst recht in keinem Verhältnis...


Gastbeitrag von Johannes Fischer, Gelsenkirchen. Juni 2008

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