Deportation Gelsenkirchener Juden nach Warschau
Am 31. März 1942 rollte ein weiterer "Sammeltransport" mit jüdischen Kindern, Frauen und Männern ab Gelsenkirchen "in den Osten". Bestimmungsort der Menschenfracht war zunächst das Ghetto Warschau. Planmäßig um 12:12 Uhr verließ der ab Gelsenkirchen eingesetzte Transportzug der Deutschen Reichs- bahn mit dem Kürzel "Da 6" am 31. März 1942 mit 52 Gelsenkirchener Juden die Stadt. Ein Waggon war für das Begleitkommando der Schutzpolizei bestimmt. In Bielefeld wurden weitere 326, in Hannover 500 und in Braunschweig 116 jüdische Menschen in den Zug gezwungen. Am Morgen des 2. April 1942 erreichte der Zug das Ghetto Warschau. Von den aus Gelsenkirchen mit diesem Menschentransport deportierten Juden hat niemand seine Befreiung erlebt. [1]
Von Gelsenkirchen am 31. März 1942 nach Warschau deportiert:
Name, Vorname | Geb.Datum | Fam.Stand | Lebenszeichen | Gedenkblatt Yad Vashem | Stolperstein |
Bamberger, Amalie, geb. Wolf | 17.7.1876 | verw. | nein | nein |
Bloch, Hermine | 28.4.1876 | ledig | nein | nein |
Bluecher, Benjamin* | 29.12.1873 | verh. | nein | nein |
Boley, Emmy | 3.12.1876 | ledig | nein | nein |
Boley, Jenny | 29.5.1870 | ledig | nein | nein |
Buchthal, Julius | 1.11.1874 | verh. | nein | nein |
Buchthal, Frieda, geb. Hochfeld | 9.6.1881 | verh. | nein | nein |
Cohen, Helene, geb. Fryda | 2.7.1857 | verh. | nein | nein |
Frohsinn, Anne, geb. Hoffmann | 0.0.1857 | verh. | nein | |
Haeussler, Channa-Sima, geb. Kreider (Flescher) | 12.12.1900 | verh. | nein | |
Haeussler, Ester | 21.8.1932 | Kind | nein | |
Haeussler, Meier | 8.9.1936 | Kind | nein | |
Haeussler, Mali | 1.2.1938 | Kind | nein | |
Hertz, Samuel | 1.2.1938 | verh. | nein | |
Hertz, Paula, geb. Meyer | 10.12.1892 | verh. | nein |
Heymann, Alfred | 12.5.1897 | verh. | nein | nein |
Heymann, Hildegard, geb. Windmueller | 13.3.1905 | verh. | nein | |
Heymann, Gert | 3.4.1929 | ledig | nein | nein |
Heymann, Else, geb. Klestadt | 20.8.1884 | verw. | nein | |
Heymann, Moritz | 22.7.1888 | verh. | nein | |
Heymann, Hedwig, geb. Klestadt | 1.12.1895 | verh. | nein | nein |
Hoffmann, Wilhelmine Minna, geb. Hermanns | 23.10.1868 | verh. | nein | |
Hoffmann, Erna | 30.1.1900 | ledig | nein | |
Issen-Itzigsohn, Berta, geb. Kahn | 7.10.1874 | verw. | nein | nein |
Klestadt, Regine, geb. Spiegel | 27.3.1855 | verh. | nein | |
Kolski, Jenny, geb. Gerson | 30.10.1864 | verw. | nein | nein |
Kolski, Margarethe | 11.2.1898 | ledig | nein | nein |
Loewenstein, Moritz | 11.11.1885 | verh. | nein | nein |
Loewenstein, Martha, geb. Heinemann | 12.9.1886 | verh. | nein | nein |
Offenburg, Gertrud, geb. Hoffmann | 1.9.1904 | verh. | nein | |
Plaut, Hedwig, geb. Klestadt | 2.3.1881 | verw. | nein | nein |
Posner, Adele | 11.9.1884 | ledig | nein | nein |
Rosenbaum, Siegfried | 5.3.1896 | verw. | nein | nein |
Rosenbaum, Ilse | 13.2.1923 | ledig | nein | nein |
Rosenbaum, Werner | 9.9.1930 | Kind | nein | nein |
Rosenthal, Josef | 4.9.1889 | verh. | nein | nein |
Rosenthal, Rebecka, geb. von Halden | 6.12.1888 | verh. | nein | nein |
Silberberg, Jettchen, geb. Cohen | 13.2.1881 | - | nein | nein |
Scheinhorn, Klara, geb. Birnholz | 4.4.1894 | - | nein | |
Scheinhorn, Alfred | 11.4.1927 | Kind | nein | |
Schweitzer, Else | 3.10.1886 | ledig | nein | nein |
Sternberg, Willy | 25.4.1888 | verh. | nein | nein |
Sternberg, Henny, geb. Stern | 8.6.1888 | verh. | nein | nein |
Sternberg, Günther | 25.5.1924 | ledig | nein | nein |
Tepper, Salomon | 15.6.1893 | verh. | nein | nein |
Voosen, Rosalie, geb. Blumenfeld | 17.4.1874 | verw. | nein | nein |
Wollenberg, Isidor | 7.1.1873 | verh. | nein | nein |
Wollenberg, Elfriede, geb. Silberberg | 21.3.1873 | verh | nein | nein |
Ständig, Rebecka, geb. Alpern | 18.2.1895 | verh. | nein | nein |
Ständig, Sabine | 26.6.1934 | Kind | nein | nein |
Todtenkopf, Harry | 17.8.1904 | ledig | nein | nein |
Todtenkopf, Clara, geb. Cohnhoff | 20.11.1875 | - | nein | nein |
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*Bluecher, Benjamin: zuletzt wohnhaft Gelsenkirchen, Horster Str. 36 starb bereits vor der Deportation in Köln-Ehrenfeld (Jüdisches Ktrankenhaus) an den Folgen einer Krebserkrankung. (Quelle: Arolsen Archives)
Für einige der vorstehend genannten Menschen wurden in Gelsenkirchen bereits Stolpersteine verlegt. Weitere Stolpersteine sind in Planung, Stolperstein-Paten gesucht. (Stand 1/2022)
Abb. 1: Quarantänestation an der Leszno Straße 109-111
Die Neuankömmlinge wurden zunächst in die außerhalb des Ghettos gelegene so genannte "Quarantäne-Station" in der Nähe des so genannten "Umschlagplatzes" untergebracht und nach einigen Tagen unter Aufsicht der jüdischen Ghetto-Polizei in das Ghetto getrieben und auf die Wohnquartiere verteilt.
Adam Czerniaków, zwangsweise von den deutschen Besatzern zum Vorsitzenden des Judenrates des Warschauer Ghettos bestimmt und damit verantwortlich für die Umsetzung der deutschen Anordnungen und Befehle im Warschauer Ghetto notierte in seinem Tagebuch die Ankunft der Gelsenkirchener Juden [2]:
"1. April. Seder-Nacht. Morgen Pessach. (...) In den Morgenstunden kamen etwa 1000 Vetriebene aus Hannover und Gelsenkirchen an. Sie kamen in die Quarantäne-Station Leszno-Straße 109 [3]. (...) um 10 Uhr wurde ich Zeuge der Verteilung von Nahrungsmitteln. Die Vertriebenen haben nur kleine Pakete mit sich gebracht, es sind fast nur ältere Menschen, darunter viele Frauen, auch kleine Kinder."
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Erste Transportzüge fuhren bereits in diesen Tagen vom Durchgangsghetto Warschau in das knapp 100 Kilometer enrfernte Vernichtungslager Treblinka. Adam Czerniaków schreibt in sein Tagebuch:
Eintrag vom 9. April 1942: Am Morgen Anweisung Auerswalds an die Gemeinschaft. 160 junge deutsche Juden aus der Quarantäne sollen zur Deportation nach Treblinka bereitgestellt werden.
Eintrag vom 10. April 1942: Um 10 Uhr morgens geht ein Transport von deutschen Juden im Alter von 17-35 Jahre alt, für Treblinka bestimmt aus der Quarantäne Leszno-Straße 109/111 ab.
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Wer von den Gelsenkirchener Juden nicht bereits im Ghetto starb, wurde in den folgenden Monaten in den Gaskammern von Treblinka mittels Gas erstickt. Unter den aus Gelsenkirchen nach Warschau verschleppten Menschen befand sich auch Gertrud Offenburg und ihre Familie. Gertrud Offenburg war in Warschau zunächst im Sammellager Gartenstrasse 27, dann in der Nawleki Strasse 17 u. 63 untergebracht. Ihre letzte Nachricht datiert vom 19. Juli 1942 [4], ab diesem Zeitpunkt fehlt von ihr jedes Lebenszeichen
Auch Isidor und Elfriede Wollenberg sind am 31. März 1942 mit dem zweiten Deportationstransport aus Gelsenkirchen in das Ghetto Warschau verschleppt worden. Am 1. August 2011 verlegte Gunter Demnig Stolpersteine in Gelsenkirchen, die in der Von-Der-Recke-Straße gegenüber der Begegnungsstätte "Alter Jüdischer Betsaal" an das Ehepaar Wollenberg erinnern.
Deportationen von Warschau nach Treblinka
Abb. 2: Bekanntmachung des Judenrates in Warschau über die beginnende Deportation aller Ghettobewohner "nach dem Osten" vom 22. Juli 1942. Der Sekretär und Übersetzer des "Judenrates" in Warschau war Marcel Reich-Ranicki, er musste den Text der Bekanntmachung nach den Anordnungen der SS verfassen, die dem "Judenrat" zuvor diktiert worden war.
Ab dem 22. Juli 1942 wurde das Warschauer Ghetto durch die SS im Rahmen der so genannten "Endlösung der Judenfrage" schrittweise aufgelöst. Auf dem "Umschlagplatz" wurden die Juden für die Deportationen zusammengetrieben. Dicht gedrängt wurden die Menschen in Güterwaggons abtransportiert, die Massentötungen in Treblinka an Juden aus dem Warschauer Ghetto begannen am 23. Juli 1942. Bis zum 12. September 1942 deportierte die SS mit Hilfe der deutschen Polizei und der jüdischen Ghettopolizei täglich bis zu 7.000 Juden, insgesamt wurden bis zum 12. September etwa 265.000 Menschen überwiegend in die Gaskammern des Vernichtungslagers Treblinka gebracht.
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Abb. 3: Ohne die bereitwillige Mithilfe der Reichsbahn wäre der schnellen Verlauf der Deportationen und damit die effiziente Abwicklung des Nazi-Mordprogramms sicher nicht möglich gewesen.
Alle ankommenden Personen wurden ohne Selektion oder Registrierung vom Zug zu einem abgegrenzten Teil des Lagers geführt. Sie mussten sich entkleiden, den Frauen wurde das Kopfhaar geschoren. Ihnen wurde erklärt, sie befänden sich in einem "Durchgangslager". Ein schmaler Gang endete in den Gaskammern, die als Baderaum ausgegeben wurde. Die Menschen erstickten innerhalb von 20 Minuten qualvoll durch Motorenabgase.
Kleidung und Gepäck der Ermordeten füllten umfangreiche Magazine und wurden dann mit Zügen in das Deutsche Reich gebracht und weiter verwendet. Allein in Treblinka wurden zwischen Juli 1942 und August 1943 etwa 1,1 Millionen Menschen, hauptsächlich polnische, aber auch fast 30.000 nicht-polnische Juden sowie tausende "Zigeuner" ermordet.
Befehligt und organisiert wurde Treblinka von nicht mehr als ungefähr 30 SS- und Polizeioffizieren. Ein Teil des Personals und die Kommandanten hatten zuvor Erfahrungen beim Massenmord an Kranken ("Euthanasie") gesammelt, einer dieser erfahrenen Massenmörder und "Erfinder" der Gaskammern, in denen mit Motorabgasen gemordet wurde, war der spätere SS-Hauptscharführer Lorenz Maria Hackenholt aus Gelsenkirchen.
Am 1. April 1933 trat Hackenholt der NSDAP als Mitglied Nr.: 1727962 bei, 1934 wurde er freiwillig Mitglied der SS. In einem Lebenslauf schreibt Hackenholt: "Nach dem Eintritt in die SS kam ich am 1. Januar 1934 an die Führerschule von SS-Abschnitt XVII [Anm. d. Verf.: SS-Führerschule Gelsenkirchen-Rotthausen] und blieb dort bis zu meiner Entlassung bei der Auflösung der Schule. Ich wurde u. a. zum Kraftfahrer ausgebildet. Im November 1939 wurde ich dann nach Berlin für den "besonderen Einsatz" abkommandiert." Lorenz Hackenholt war nach 1945 einer der meistgesuchten NS-Verbrecher - vorgeworfen wurde ihm 70.000facher Mord und die Beihilfe zum Mord in 1,5 Millionen Fällen. Er wurde einige Zeit nach dem Krieg auf Antrag seiner Frau zum 31. Dezember 1945 für tot erklärt. Es gab jedoch nach 1945 Hinweise, dass Hackenholt noch lebt.
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Quellen:
[1] Die Namensliste der aus Gelsenkirchen in das Ghetto Warschau verschleppten Juden basiert auf die Eintragungen im Gedenkbuch des Bundesarchivs für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland (1933-1945)
[2] Raul Hilberg, Stanislaw Staron, Josef Kermisz (Hrsg.): The Diary of Adam Czerniakow. Stein & Day, New York 1979, S. 339-340 ff.
[3] Die ehemaligen Schule an der Leszno-Straße 109-111 befand sich außerhalb des Ghettos, neben dem so genannten "Umschlagplatz" im Ghetto. Das Gebäude wurde von den Deutschen als "Krankenhaus" und auch als "Quarantäne-Station" genutzt, auch fanden dort Selektionen statt. Jeder Neuankömmling musste die Station durchlaufen. Vgl. auch: Barbara Engelking-Boni, Jacek Leociak: The Warsaw ghetto, a guide to the perished city, 2009. S. 313-314 ff.
[4] Josef Offenburg (Yosef Ofenburg), der Ehemann von Gertrud Offenburg, macht diese Angaben 1956 im Gedenkblatt Yad Vashem.
Abb.1 u. 2.: Archiwum Zydowskiego Instytutu Historycznego (AZIH), Warszawa
Abb. 3: BA
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