"Es ist schwer zu sagen, wer das bessere Los gezogen hat. Denn selbst die wenigen, die schließlich überlebt haben, auch sie sind für ihr Leben gezeichnet. Sie haben jeder für ihr ganzes restliches Leben noch an dem zu tragen, was sie seelich und körperlich dort erlitten haben."
Otto Wolken, Holocaust-Überlebender
27. Januar 1942 - ein Deportationszug mit Ziel Riga verlässt Gelsenkirchen
Bereits vor 1933 waren Jüdinnen und Juden mit antijüdischen Ressentiments konfrontiert. Mit der Machtübergabe an die Nazis im Januar 1933 begann ihre systematische Ausgrenzung und Entrechtung. Die antisemitische Propaganda stigmatisierte sie, zunehmend schlug ihnen Misstrauen, Hass und Hetze der nichtjüdischen Bevölkerung, die mehr und mehr zu einer Ausgrenzungsgesellschaft wurde, entgegen. Scheinlegale Gesetze und Erlasse forcierten ihre ökonomische, politische und soziale Ausgrenzung. Berufsverbote, Boykotte und Zwangsverkäufe jüdischer Betriebe und Geschäfte, Zwangsumsiedelungen innerhalb des Wohnortes und zahlreiche weitere diskriminierende Verordnungen hatten eine weitgreifende gesellschaftliche Isolation zur Folge.
Am 27. Januar 1942 rollte der erste Transport aus unserer Stadt mit jüdischen Kindern, Frauen und Männern vom Gelsenkirchener Güterbahnhof aus in Richtung Osten. Bestimmungsort der Menschenfracht war das Ghetto Riga in Lettland. 359 Gelsenkirchener Juden wurden in die zum temporären "Judensammellager" umfunktionierten Ausstellungshalle am Wildenbruchplatz unter unmenschlichen Bedingungen eingepfercht. Aus umliegenden Revierstädten wurden weitere zur Deportation bestimmte jüdische Menschen mit Bussen herangekarrt. Die Menschen wurden durchsucht, ob sie mehr als die erlaubten 10 RM dabei hatten, Frauen und Mädchen sogar gynäkologisch.
Die Gelsenkirchenerin Helene Lewek (Jg. 1881) wählte im 'Sammellager' am Wildenbruchplatz angesichts der bevorstehenden Deportation die Flucht in den Tod. Bereits kurz zuvor gab es weitere Suizide innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Mit dem Erhalt der schriftlichen Ankündigungen der "Evakuierung in den Osten" entschieden sich weitere Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener, darunter Ida Reifenberg (Jg. 1878) und Hulda Silberberg (Jg. 1883) diesen Weg zu gehen. Resignation, Angst, Verzweiflung und Einsamkeit hatten die Menschen zu diesem letzten, selbstbestimmten Schritt gebracht. Nur auf diesem Wege wussten sie sich ihrer Würde bewahrt. Auch an diese drei Menschen erinnern in Gelsenkirchen Stolpersteine.
Auf dem Weg nach Riga wurden weitere Menschen an verschiedenen Haltepunkten - u.a. in Dortmund und Hannover - in den Zug gezwungen. Der Deportationszug der Deutschen Reichsbahn erreichte schließlich mit etwa 1000 Menschen am 1. Februar 1942 Riga in Lettland.
Der überwiegende Teil der aus Gelsenkirchen und anderen Städten am 27. Januar verschleppten Juden wurden im Ghetto Riga oder in Konzentrationslagern ermordet. Zu den wenigen, die oftmals als Einzige ihrer Familien den Holocaust überlebt haben, gehören Rolf Abrahamsohn, Bernd Haase, Herman Neudorf und Elli Kamm, geborene Diament. Sie schildern, wie sie die Deportation aus Gelsenkirchen und die Ankunft in Riga erlebt haben.
Rolf Abrahamsohn sel. A. (1925 – 2021) aus Marl erinnert sich:
"Am Morgen des 24. Januar um sieben Uhr wurden wir in Recklinghausen lebenden Juden aus den Häusern geholt. Wir standen bis nachmittags um vier auf der Straße, bevor man uns mit Lastwagen nach Gelsenkirchen zur Ausstellungshalle am Wildenbruchplatz brachte. Am 27. Januar verließ der Deportationszug mit einigen hundert Juden aus Gelsenkirchen, Recklinghausen und weiteren umliegenden Orten die Stadt. Man hatte uns gesagt, dass wir in ein Arbeitslager kämen, damals habe ich das noch geglaubt. Im Zug war es tagsüber sehr heiß und nachts eiskalt - das war unser Glück. So konnten wir wenigstens das gefrorene Wasser von den Fenstern ablecken, damit wir nicht ganz verdursten.
Als wir am 1. Februar in Riga am Bahnhof Skirotava ankamen, wurden wir mit Gebrüll und Schlägen von der SS empfangen. Wir sollten einige Kilometer bis ins Ghetto Riga laufen, den Schwachen bot die SS scheinheilig eine Fahrt auf LKW dorthin an. Was die Menschen, die auf die LKW stiegen, nicht wussten: das war praktisch schon eine erste Selektion. Sie brauchten uns ja als Arbeiter. Wer nicht laufen konnte, konnte nach der Logik der SS auch nicht arbeiten und so fuhren die LKW mit ihrer Menschenfracht direkt zu den Erschießungsstätten im Wald von Bikernieki."
Lebensgeschichtliche Erinnerungen von Rolf Abrahamsohn: → Video
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Bernd Haase aus Gelsenkirchen, der heute in den USA lebt, erzählt:
"Im Dezember 1941 wurden meine Mutter, meine Schwester und ich aufgefordert, unsere Habseligkeiten für eine Umsiedlung nach Osten zusammenzupacken. Wir kennzeichneten unsere Möbel und packten Bettzeug und Kleidung in Rucksäcke. Am Abreisetag packten wir noch Butterbrote ein. Es kam ein Bus und brachte uns vom Judenhaus an der Bochumer Straße zur Gelsenkirchener Ausstellungshalle. Für unsere Nachbarn fuhren wir äußerlich normal weg. In der Ausstellungshalle mussten wir dann wie Tiere auf dem strohbedeckten Boden liegen.
Nur ein kleiner Zwischenfall: Es hatte geschneit und das Auto von einem der Nazi-Bonzen kam nicht weiter. So mussten ich und ein paar Andere den Wagen bis zur Arminstrasse schieben. Doch fühlte ich mich für eine halbe Stunde frei. Am fünften Tag, früh am Morgen, mussten wir durch Schnee und Dunkelheit zum Güterbahnhof marschieren. Dort schickte uns die Gestapo in einen Personenzug, brüllend und Peitschen schwingend. Wir wurden durchsucht und unser Geld und andere Wertgegenstände wurden uns weggenommen. Wir hatten unsere Rucksäcke mit im Zugabteil, unsere Koffer und die Haushaltsgegenstände wurden in einen angehängten Waggon gepackt. Dieser Wagen wurde später abgekoppelt und sein Inhalt an Fremde verteilt. Langsam verließ der Zug Gelsenkirchen. In Dortmund wurden weitere Waggons angehängt."
→ Lebensgeschichtliche Erinnerungen von Bernd Haase
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Elli Kamm, geboren 1926 starb 2002 im Alter von 76 Jahren in den USA. Sie berichtete:
"Im Januar 1942 pferchten sie uns zusammen in Gelsenkirchen einem großen Warteraum und steckten uns dann in Züge. Der Transport ging nach Riga, in Lettland. Die Züge waren sehr kalt. Ich weiß nicht mehr genau, es waren fünf Tage, sechs Tage. Es war so kalt. Einigen Leuten erfroren die Finger, die Zehen, die Füße, es war schrecklich. Wir hörten die Flugzeuge, es gab Schiessereien, Bombardierungen, aber jedenfalls kamen wir Ende Januar, Anfang Februar bei Riga an. Der Ort hieß Skirotava.
Es fror, es war kalt. Und denken Sie daran: Bevor wir Deutschland verließen, sagten sie uns, wir könnten nur so und so viel mitnehmen. Wir zogen zwei Unterhemden, drei Pullover, drei Blusen, drei, vier Unterhosen an, so dass, wenn sie uns das Gepäck wegnehmen würden, wir immer noch das hätten, was wir am Körper hatten und so die Möglichkeit hätten, eine Zeit lang zu wechseln. Als wir in Skirotava ankamen und die SS da stand, ich denke, Obersturmführer Lange war sein Name und einige Andere. Mit Hunden und Schnee bis zum Hals und sie schrien: "Raus, raus, raus!" Das war einfach schrecklich, ich meine so ein Chaos. Es war unglaublich. Sie befahlen uns, zu dritt oder zu viert da zu stehen und dann abzumarschieren." → Lebensgeschichtliche Erinnerungen von Elli Kamm
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Herman Neudorf sel. A. (1925 – 2023) geboren in Horst-Emscher:
"Am 20. Dezember 1941 erhielten wir von der Gestapo, Staatspolizeistelle Gelsenkirchen, die erste Aufforderung: 'Sie haben sich auf einen Transport zum Arbeitseinsatz nach dem Osten vorzubereiten. An Gepäck darf 10 RM mitgenommen werden. Die Fahrtkosten sind selbst zu entrichten - natürlich einfach, eine Rückfahrt war nicht vorgesehen. Vorbereitungen wurden getroffen. Medikamente, Frostschutzmittel, Winterkleidung, warme Decken und so weiter beschafft. Am 20. Januar 1942 kommt wieder ein Schreiben: 'Sie haben sich zum Transport nach dem Osten in den nächsten drei Tagen bereitzuhalten.' Nun ist es soweit.
An einem Januarmorgen um 10 Uhr morgens wurden wir von der Gestapo aus dem Judenhaus an der Markenstraße in Horst abgeholt und in einen Autobus verfrachtet, mit je einem Koffer. Im nu sammelte sich um das Auto eine Anzahl Schulkinder. Auf ihre neugierige Frage, wohin wir fahren, antwortete der Gestapo-Chauffeur: 'Zur Erholung in ein Sanatorium.' Am Sammelplatz schliefen wir eine Nacht am Boden und am nächsten Tag wurden wir verladen. Es war der 27. Januar 1942. Aber diese Mörder wussten zu gut, wohin unsere Fahrt führt. Hoher Schnee mit ca. 25 Grad Kälte. Der Zug stand bereit. Ungeheizt. Am Ende des Zuges wurden drei Wagen mit unseren Koffern, Verpflegung und Küchengeräten angehängt. Dann fuhren wir ab. Türen natürlich abgeschlossen. Vor Hannover erfuhren wir, daß die letzten Wagen "heißgelaufen" waren und abgehängt werden mußten. Nun besaßen wir nur noch das, was wir am Leibe trugen. Mehrere Tage Fahrt durch Ostpreußen, Litauen, Lettland. Aborte verstopft, die Abteilwände mit einer Eisschicht überzogen.
Am 1. Februar erreichten wir unsere neue "Heimat", der Transport hielt am Bahnhof Riga-Skirotava. Auf uns warteten schon SS-Leute in dicken Pelzmänteln. Sie trieben uns mit Schlägen, Beschimpfungen und Gebrüll aus dem Zug. Die Glieder waren noch starr vor Kälte. Zum Teil mit Autos oder zu Fuß ging es ab. Ungefähr drei Stunden Marsch. Lettische Wachen hüteten uns sorgfältig und rissen einigen gute Kleidungsstücke vom Leibe herunter. Ein mit Stacheldraht umgebener Stadtteil tauchte auf. Personen mit gelben "Judensternen" konnte ich erkennen. Das war also das Rigaer Ghetto, das uns allen ewig in Erinnerung bleiben sollte. Oft wundert man sich selbst, dass man diese schrecklichen Jahre, die noch folgten, überhaupt überleben konnte."
→ Lebensgeschichtliche Erinnerungen von Hermann Neudorf
Abb.: Ausstellungshalle am Wildenbruchplatz, 1942 temporäres "Judensammellager" - von dort wurden die Menschen durch Gelsenkirchens Straßen zum Güterbahnhof getrieben. (Luftbild: Stadt Gelsenkirchen, Repro A. Jordan)
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Andreas Jordan, Januar 2012. Edit. 2023, Gelsenzentrum e.V. | ↑ Seitenanfang
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