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Antisemitische Vorfälle in Gelsenkirchen-Buer im Jahr 1933

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Julius Less

Julius Less wurde am 5. Januar 1893 in Kamin/Westpreußen geboren, 1926 kam er nach Buer/Westfalen. Im April 1933 wurde Julius Less in der Buerschen Innenstadt zweimal von SA-Leuten in der Öffentlichkeit zusammengeschlagen, nur weil er Jude war. Drei Wochen später erfuhr er dann, dass die SA nach ihm suchte und ihm nach dem Leben trachtete. Julius Less flüchtete kurze Zeit nach diesen Vorfällen in die benachbarten Niederlande.

Dort wohnte Julius Less zunächst an der Vechtstraat 21 in Amsterdam. In den Niederlanden lernte er seine spätere Frau, Mietje Plas, geboren am 4. September 1902 in Amsterdam, kennen. Das Paar heiratete und lebte im Februar 1941 an der Blasiusstraat 80 II in Amsterdam. Nach der deutschen Besetzung der Niederlande wurde auch das Ehepaar Less verhaftet und in das Durchgangslager Westerbork verbracht.

Mietje und Julius Less wurden am 21. April 1943 von Westerbork in das Ghetto Theresienstadt verschleppt. [1] Julius Less wurde am 29. September 1944 von Theresienstadt weiter in das KZ Auschwitz deportiert und dort ermordet, das genaue Datum seines Todes ist nicht bekannt. Mietje Less wurde am 06. Oktober 1944 von Theresienstadt in das KZ Auschwitz verschleppt, dort starb sie am 8. Oktober 1944. [2]

Bericht von Julius Less: In Gelsenkirchen-Buer von S.A.-Männern verfolgt und verprügelt

Unterzeichneter gibt hiermit seine Erklärung, weshalb ich meinen letzten Wohnort in Deutschland verlassen musste. Bemerke, dass ich am 5. Januar 1893 zu Kamin in Westpreussen geboren bin.

Mit meinem 14ten Lebensjahre, im Jahre 1907, kam ich zur Provinz Westfalen und erlernte dort 3 1/2 Jahre lang den Kaufmannsberuf (Herrenkonfektionsbranche).

Bei Ausbruch des Krieges war ich 21 Jahre alt. Im Herbst 1914 wurde ich zum Militär einberufen. Im Frühjahr 1915 wurde ich in der Champagne-Schlacht schwer verwundet. 1917 kam ich ein zweites Mal nach Frankreich zur Front. Nach Beendigung des Krieges ging ich wieder einem Beruf nach. Bis zum Jahre 1926 war ich in Cleve/Rhld. in Stellung, von dort ging ich nach Gelsenkirchen-Buer, wo ich vom Jahre 1926 an gewohnt habe.

Diesen Ort musste ich durch den Umsturz in Deutschland plötzlich verlassen, da im Frühjahr 1933 jeder, dem man den Juden von weitem ansah, der Gefahr ausgesetzt war, ohne jeden nichtigen Grund und ohne polizeilichen Schutz von der S.A. oder S.S. nach Belieben und ihrer eigenen Willkür misshandelt zu werden. Die Polizeimacht war in den Händen der S.A. und diese machte, was sie wollte.

Im April 1933 ging ich durch die Strassen im Geschäftsviertel von Buer. Es war an einem Nachmittag ca. 3 Uhr, als ich am Warenhaus Althoff vorbei kam. Auf der anderen Seite stand der Adjutant der S.A.-Hilfspolizei mit einigen S.A. Leuten. Als er mich vorbeigehen sah, zeigte er auf mich. Ich ging aber nichts ahnend meines Weges. Kaum war ich ca. 30 Meter weiter gegangen, als neben mir der Kommando-Ton ertönte "Halt stehen bleiben!"

Ich blieb stehen, drehte mich um, da stand der S.A.-Adjutant mit 2 S.A.-Leuten neben mir und brüllte mich an, was ich hier zu suchen hätte. Als ich ihm in ruhigem Tone sagte, dass ich als deutscher Bürger doch hier gehen könne, außerdem wäre ich im Kriege gewesen, war es für mich aus: "Sie bespitzeln unsere S.A., sie dreckiger Judenlümmel, wir wollen sie mit ihrem Ponim* hier nicht mehr sehen." Ich sagte ihm, dass ich ja doch hier wohne wo sollte ich denn hingehen? "Gehen sie nach Palästina, wo sie hingehören, wenn ich sie morgen noch hier erblicke, werden sie totgeschlagen." Nur dem Umstand, dass ich ganz kleinlaut war, hatte ich's zu verdanken, dass es diesmal für mich ohne geschlagen zu werden abging. Nach diesem Vorfall wagte ich mich ganze vier Tage nicht auf die Strasse.

Als ich am fünften Tage nur mit dem Vorsatz, für eine Stunde herauszugehen, die Strasse betrat, es war an einem April-Tage nachmittags 5 Uhr, ich war auf dem Rückweg zur Wohnung, als dieser betreffende Adjutant von der S.A.-Hilfspolizei aus einer Entfernung von ca. 80 Metern (wo er mit ca. sechs S.A.-Leuten stand) mich erblickte. Ich glaubte schon, als ich ca. 100 Meter weg war, es ist alles gut, er hat mich wahrscheinlich nicht beachtet, im selben Moment höre ich schwere Laufschritte hinter mir. Kaum dass ich sehen konnte, ob irgendjemand hinter mir ist, da wurde ich schon von einem S.A.-Mann (Größe 185 cm.) Mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen. Bei jedem neuen Schlag, den er mir versetzte: "Du Saujude, du Dreckjude." Ich liess ruhig auf mich einschlagen, (da ein Widerstand Selbstmord gewesen wäre). Als ich von den Schlägen schon halb von Sinne war, hörte ich einige Frauen schreien und rufen: "Schlagen sie den Mann doch nicht so fürchterlich, der hat ihnen doch nichts getan." Da er durch das Schlagen schon mürbe geworden war, liess er von mir ab.

Dieser Vorfall spielte ich an der Ecke der La Chevallerie- und Brückgartenstrasse [sic!] ab. Ich blutete aus Nase und Mund, als ich in die Brückgartenstrasse [sic!] einbog, um zu meiner Wohnung zu kommen. Bis dorthin waren es noch ca. 400 Meter. Als ich mich bereits auf halben Wege befand, von den erhaltenen Schlägen noch halb betäubt, hörte ich zu meinem grössten Schrecken, wieder Laufschritte hinter mir. Zu Tode erschreckt sehe ich mich um, da erblicke ich im Eiltempo auf mich zulaufend jetzt drei S.A.-Hilfspolizisten mit weissen Binden am Arm.

Weglaufen dachte ich noch, wäre zwecklos gewesen, da sie dann auf mich geschossen hätten. Zudem konnte ich auch nicht laufen, da ich von den erhaltenen Schlägen zu geschwächt war. So blieb ich einfach stehen und wartete, bis sie mich erreicht hatten. Als sie mich erreicht hatten, sagte ich: "Meine Herren, was wollen sie bloss von mir?" Als Antwort bekam ich sofort einen Faustschlag von dem Ersten, während der Andere von den übrigen Zweien sagte: "Du Dreckjude, kannst du Laufschritt Marsch-Marsch?" Da bekam ich von dem Dritten schon Fusstritte von hinten auf allen Körperteilen.

So wurde ich unter dauerndem Schlagen und Treten 50 Meter zurückgetrieben. Dabei bin ich wohl an die zwanzigmal gefallen. Während ich am Boden lag, traten sie mich, wo es ihnen passte. Nun erschien dieser Adjutant der S.A., als er mich aus Ohren, Nase und Mund bluten sah. (Inzwischen hatten sich wohl an die 200 Menschen angesammelt, von denen die Frauen durch Protestrufe ihren Unwillen bezeugten). Er gab das Kommando: "Ablassen!" Als ich mit Mühe in meiner Wohnung anlangte, traf ich meine Wirtin unter Weinkrämpfen an. Sie wollte gerade einkaufen gehen, als sie so Zeuge dieses Schauspiels wurde. Diese Frau, sowie viele andere, die meiner Wirtin bekannt sind, kann ich als Zeugen angeben. Ausserdem befinden sich zwei Flüchtlinge hier ebenfalls aus Buer, die es auch wissen.

Am selben Abend dieses betreffenden Tages holte meine Wirtin aus der Nachbarschaft den ihr seit Jahren bekannten S.A.-Funktionär Zurhausen, da sie befürchtete, die S.A. würde des Nachts kommen und ihr Unannehmlichkeiten bereiten. Dieser Funktionär sagte, er könne für nichts einstehen, ich solle mich am Besten in Schutzhaft begeben. So ging ich noch dieselbe Nacht zu Bekannten, wo ich mich von den erhaltenen Verletzungen drei Wochen aufgehalten habe.

Nach dieser Zeit wagte ich es wieder, unter Menschen zu gehen. Ich stand gerade in der Wirtschaft Ellinghaus Hochstrasse, als zwei S.S.-Zeitungsverkäufer eintraten und mich anbrüllten: "Du Saujude, du bist bei unserer S.A. als Gegner des Dritten Reiches bekannt, wenn du nich innerhalb 24 Stunden verschwunden bist, wirst du von uns kastriert!"

Am anderen Tage wurde mir vertraut zugebracht, das die S.A. mich angeblich wegen Verbreitung von Greuelnachrichten überall suche. Dieses war für mich das Signal, dass mein Leben auf dem Spiel stand. So habe ich noch die gleiche Nacht, sowie ich ging und stand, auf Umwegen die Flucht ergriffen.

Diese meine Angaben sind richtig und wahr.

Amsterdam, den 29. November 1933

(gez.) Julius Less

Vechtstraat 21

Den hier als Abschrift vorliegenden Bericht hat Julius Less nach seiner Flucht aus Gelsenkirchen-Buer in die Niederlande am 29. November 1933 in Amsterdam niedergeschrieben. Das Orginaldokument befindet sich seit Januar 1959 in THE WIENER LIBRARY, London. (Index-Nr. P.II.c. No. 990.)

* Ponim (jiddisch): Gesicht.
Brückgartenstraße, gemeint ist die Brinkgartenstraße

[1] Yad Vashem: Deportation Database and Research Project Online Guide - the Netherlands
[2] Terezínská pametní kniha / Theresienstädter Gedenkbuch, Institut Theresienstädter Initiative, Band I–II: Melantrich, Praha 1995; Band III: Academia, Praha 2000
In Memoriam - Nederlandse oorlogsslachtoffers, Nederlandse Oorlogsgravenstichting (Stiftung Niederländische Kriegsgräberfürsorge), 's-Gravenhage (zur Verfügung gestellt von der Stiftung der Freunde von Yad Vashem in den Niederlanden, Amsterdam)

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Andreas Jordan, Oktober 2010

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