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Augenzeugenberichte aus Gelsenkirchen

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"Reichskristallnacht"

Nach dem Novemberpogrom

Novemberpogrome 1938, in ganz Deutschland wurden jüdische Geschäfte zerstört und die Synagogen in Brand gesteckt

Zuerst kamen die großen Ladengeschäfte dran, mit mitgebrachten Stangen wurden die Schaufenster eingeschlagen. Der am Abend bereits verständigte Pöbel plünderte unter Anführung der SA die Läden aus. Dann ging es in die von Juden bewohnten Häuser. Schon vorher informierte nichtjüdische Hausbewohner öffneten die Türen.

Wurde auf das Läuten die Wohnung nicht sofort geöffnet, schlug man die Wohnungstür ein. Viele der "spontanen" Rächer waren mit Revolver und Dolchen ausgestattet. Jede Gruppe hatte die nötigen Einbrecherwerkzeuge wie Äxte, große Hämmer und Brechstangen dabei. Einige SA-Leute trugen einen Brotbeutel zur Sicherstellung von Geld, Schmuck, Fotos und sonstigen Wertgegenständen bei sich, die auf einen Mitnehmer warteten. Die Wohnungen wurden angeblich nach Waffen durchsucht, weil am Tage vorher ein Waffenverbot für Juden veröffentlicht worden war. Glastüren, Spiegel, Bilder wurden eingeschlagen, Ölbilder mit den Dolchen zerschnitten, Betten, Schuhe, Kleider aufgeschlitzt, es wurde das gesamte Inventar kurz und klein geschlagen.

Augenzeugenberichte: Die November-Pogrome in Gelsenkirchen

Jüdische Menschen werden durch die Straßen getrieben

In fast jeder Stadt in Deutschland das gleiche Bild: Jüdische Menschen werden durch die Straßen getrieben.

Die betroffenen Familien hatten am Morgen des 10. November meistens keine Kaffeetasse, keinen Löffel, kein Messer, nichts mehr. Vorgefundene Geldbeträge wurden konfisziert, Wertpapiere und Sparkassenbücher mitgenommen.


Das schlimmste dabei waren die schweren Ausschreitungen gegen die Wohnungsinhaber, wobei anwesende Frauen oft ebenso mißhandelt wurden wie die Männer. Eine Anzahl von Männern wurde von den SA-Leuten unter ständigen Mißhandlungen und unter dem Gejohle der Menge zum Polizeigefängnis getrieben. Am anderen Morgen wurden gegen 4 Uhr morgens alle der zuvor inhaftierten Personen unter 60 Jahren nach Dachau abtransportiert."

Kurt Neuwald, Ehrenbürger der Stadt Gelsenkirchen, erinnerte sich:

"In der Reichskristallnacht wurde ich nicht sofort verhaftet. Unsere Familie hatte am ganzen Abend Radio gehört, und so wussten wir, was sich anbahnte. Dann hörten wir in der Arminstraße, dort wohnten auch andere Juden, Scheibengeklirr und sahen, dass die SA Leute abholte. Wir, mein Vater und meine Brüder, flohen durch den Hintereingang unseres Hauses nach auswärts. Wir konnten uns bei einer nichtjüdischen Familie in Köln verstecken, acht Tage lang, bis die Verhaftungswelle zu Ende war. Dann konnten wir nach Hause zurückfahren und die Schäden, die angerichtetwurden, mit unseren eigenen Mitteln bezahlen.

Ich kann nur sagen, dass von unserem Geschäft, dem Bettengeschäft, das wir damals hatten, die Federn durch die ganze Straße flogen. Die Daunenbetten wurden zerschnitten. Alles wurde kaputt geschlagen. Viel blieb da wirklich nicht über. Anderen ging es ähnlich. In den Wohnungen wurde das Porzellan und auch die Möbel zertrümmert. Die Bilder an den Wänden wurden zerschnitten. Unsere Wohnung in der Arminstraße lag in der zweiten Etage.

Nebenan hat ein SA-Sturmführer gewohnt. Der kam in der Reichskristallnacht zu uns in die Wohnung, während seine Truppe damit beschäftigt war, unser Geschäft zu zerstören. Er erklärte meiner Mutter, es täte ihm sehr leid, aber er müsse nun seine Pflicht erfüllen. Aber er wollte die Wohnung verschonen. Wenn meine Mutter ihm Geld gäbe, könne er seine Leute ablenken. Meine Mutter gab ihm 100 Mark. Der Mann ist mit seinen Leuten nach der Zerstörung des Geschäfts in eine Wirtschaft gegangen und unsere Wohnung ist verschont geblieben."

Ein Gelsenkirchener Augenzeuge, der nicht namentlich genannt werden möchte:

(...) Zunächst möchte ich sagen, dass ich die brennende Synagoge - ebenfalls die jüdischen Geschäfte auf der Bahnhofstraße nach der "Reichskristallnacht" - gesehen habe. Die Schaufenster der Geschäfte waren eingeschlagen und die Ware lag verstreut auf der Straße. Es war streng verboten, die herumliegende Ware, die z.T. brannte, anzufassen. (...)

Fritz Gompertz:

Fritz Gompertz wurde am 13. April 1924 in Gelsenkirchen geboren. Die Familie Gompertz war in Gelsenkirchen bekannt und auch in der jüdischen Gemeinde führend. Gompertz betrieben seit 1909 an der Bahnhofstrasse 22 ein Pelzgeschäft. 1939 verließ Familie Gompertz Deutschland. Sie gingen nach Holland, wo sie in ein Flüchtlingslager kamen. Von dort aus emigrierte Fred 1939 zusammen mit seiner Mutter und zwei Brüdern in die USA. Vater Leo konnte wegen Problemen bei der Visa-Erteilung erst im Januar 1940 folgen.

In jener Nacht wird Fred Gompertz, damals 14 Jahre alt, vom Geräusch berstender Glasscheiben aus dem Schlaf gerissen. "Wir waren so erschrocken, dass wir Angst hatten, aus dem Fenster zu schauen". Gompertz's versteckten sich in der Wohnung und harrten angstererfüllt der Dinge. SA-Horden und HJ schlugen die großen Schaufensterscheiben des Pelzgeschäftes an der Bahnhofstrasse ein und verwüsteten den Laden. Sie warfen die Waren und Einrichtungen auf die Straße. So wurden alle anderen jüdischen Geschäfte in Gelsenkirchen ebenfalls zerstört. Die "Reichskristallnacht" am 9. November 1938 kündigte den Holocaust an. Niemals mehr im Leben vergaß Fred Gompertz diese unsagbare Angst, verbunden mit dem Geräusch von splitterndem Glas.

Leo Gompertz:

Im Jahre 1938, als die Glaubensgenossen polnischer Staatsangehörigkeit in Gelsenkirchen plötzlich verhaftet und abtransportiert wurden, während ihre Kinder noch in der Schule waren, rief ich meine Freunde in das Gemeindehaus, um die elternlos gewordenen Kinder unter die Gemeindemitglieder zu verteilen. Da wir 3 Söhne hatten, übernahm ich einen Jungen, der zufällig den Namen Grünspan hatte, aber nicht mit dem Angeschuldigten gleichen Namens verwandt war. Ein Dankbrief war das letzte Lebenszeichen.

Auf die Pogromnacht nach der Ermordung vom Rath's durch Grünspan war ich vorbereitet. Ehe ich das Geschäft verließ, ordnete ich meinen Schreibtisch und brachte alles Notwendige für meine Frau in Ordnung. Als dann die Kristallnacht anbrach und die "kochende Volksseele" sich nur dadurch zeigte, daß die schwarzen Massen in langen schwarzen Gummimänteln, mit langen Brechstangen versehen, die Fenster der jüdischen Geschäfte zertrümmerten und so auch meine 9 großen Schaufenster, wartete ich in meiner Wohnung auf die Abholung in die sogenannte "Schutzhaft". Man rief mich an: "Die Synagoge brennt." Ich sah die Flammen. Die Feuerwehr war zum Schutz der Nachbarhäuser aufgefahren....

Dann kam der Augenblick: Ein SS-Offizier kam mit 3 Mann in meine Wohnung, die sie erst nach Waffen untersuchten, um mich abzuholen. Die Kinder schliefen, und ich nahm von meiner tapferen Frau Abschied. Ich kam in das Polizeigefängnis der Stadt und sah, als ich aus dem Haus trat, meine Fenster zerbrochen und die wertvollen Waren größtenteils auf der Straße liegen. Mit 13 anderen Freunden fand ich Unterkunft in einer Zelle, die wir, manche blutig geschlagen, ruhig und gelassen teilten. Die Polizei stand Gewehr bei Fuß in dieser Nacht und durfte nichts tun, um die "kochende Volksseele" der schwarzen und braunen Horden zurückzuhalten. Der wachhabende Kommissar empfing uns mit den Worten: "Heute Ihr, morgen wir." Was für die Zukunft in diesen Worten lag, konnten weder wir noch er selbst damals ahnen.

Gegen Mitternacht erschien ein Beauftragter der Stadt und forderte Herrn Ewald Eisbach und mich auf, ein Dokument zu unterschreiben, mit der Aufgabe, "die baufällige Synagoge und das Gemeindehaus" niederzureißen. Wir lehnten die Unterschrift ab, mit der Begründung, daß dazu nur der damalige Vorsitzende der Gemeinde, Herr Rabbiner Dr. Siegfried Galliner das Recht habe. Dr. Galliner wohnte z. Zt. im Hause des damaligen Vorsitzenden der Zionistischen Partei in Gelsenkirchen und war mit den anderen jüdischen Bewohnern dieses Hauses nicht verhaftet.

Zwischen dem 15. und 18. November 1938 wurden alle Juden in Gelsenkirchen wieder entlassen, ohne in ein Lager gesandt zu werden. (Ich erhielt den Befehl, mein Haus an einen mir aufgetragenen Interessenten zu verkaufen und mein Geschäft nie wieder zu öffnen und bald auszuwandern.) Außerdem war am 10. November mittags unter Führung von Herrn Hohnroth eine Horde von Hochschuljungen durch die zerschlagenen Schaufenster in das offene Geschäftslokal eingedrungen, und man hatte alles zertrümmert, was an Ware und Einrichtung noch vorhanden war. Meine jüdischen Angestellten mußten die Glasscherben der großen Scheiben mit ihren Händen aufräumen, wozu auch unser zweiter Sohn Fred, der damals 14 Jahre alt war, kommandiert wurde.

(Quelle: Leo Gompertz: Arbeit für die jüdische Jugend in Deutschland. Mein Erlebnis im Dienste des Judentums, abgedruckt im Anhang von: U. Gatzemeier: Zur Geschichte der Juden in Gelsenkirchen. Von den Anfängen bis 1933. Schriftliche Hausarbeit zur 1. Staatsprüfung, Lehramt für die Primarstufe, Universität Duisburg-Gesamthochschule,1983)

Berichte Gelsenkirchener Zeitzeugen

Die nachfolgenden Zeitzeugenberichte sind nach einem Aufruf in der Presse den Verfassern dieser Veröffentlichung zu Protokoll gegeben worden. Namen und Adressen der Zeitzeugen sind bekannt.

Herr S.: In der Nacht zum 10. November 1938 kam ich mit 4 Arbeitskollegen von der Nachtschicht. Auf dem Heimweg kamen wir an dem Lebensmittelgeschäft Schöneberg, Ecke König-Wilhelm-Straße/1. Walzwerkstraße vorbei. Dort sahen wir 3 Männer, mit langen grauen Kitteln bekleidet, die mit Messingstangen die Schaufenster einschlugen. Anschließend warfen sie die Ladeneinrichtung auf die Straße. Der hinzukommende Ladeninhaber wurde als "Judensau" beschimpft und fürchterlich verprügelt. Nachdem das Geschäft zerstört war, verließen die Männer die Räume in Richtung Schalker Strasse. Wir folgten ihnen. Auf der Schalker Straße zerschlugen die gleichen Männer die Fensterscheiben des jüdischen Fleischergeschäftes Leo Sauer und liefen weiter. Bei der Verfolgung der Randalierer konnten wir sehen, daß auch die Scheiben der jüdischen Geschäfte Goldblum und Katzenstein zerschlugen wurden.

Wir verfolgten die Männer weiter und kamen zur Gildenstraße. Dort sahen wir Polizeiabsperrungen und die brennende Synagoge. Verwundert mußten wir feststellen, daß die Feuerwehr den wütenden Brand nicht bekämpfte. Unsere Verfolgung führte uns zur Arminstraße. Dort zerschlugen die Männer die Schaufenster eines Tabakgeschäftes und warfen die Auslagen auf die Straße. Die protestierende Ladenbesitzerin wurde als "Judensau" beschimpft und geschlagen. Bei unserer Verfolgung konnten wir feststellen, daß die Männer unter den grauen Kitteln SA-Uniformen trugen. Unter den Kitteln hielten die Männer geplünderte Gegenstände verborgen.

Herr W.:Wir gingen am 10. November wie üblich zur Schule - Bismarck-Schule I - an der Laubstraße. Dort angekommen, wurden wir geschlossen von unserem Lehrer in Richtung Stadtmitte geführt. Am Schalker Markt, Ecke Gewerkenstraße, waren die Schaufenster der jüdischen Geschäfte eingeschlagen. Auf der Schalker Straße, Ecke Grillostraße, schlugen bestellte Leute - unter lautem Gejohle - die Schaufenster des Schuhgeschäftes Jampel ein.

Wir gingen weiter über die Schalker Straße. Überall das gleiche Bild: Die Fenster jüdischer Geschäfte waren zerstört. Am Neumarkt angekommen, sahen wir die brennende Synagoge. Mir fiel auf, daß die anwesende Feuerwehr den Brand nicht bekämpfte, sondern nur das übergreifen der Flammen auf benachbarte Gebäude verhinderte. Am Abend feierten NS-Gruppen den Synagogenbrand lauthals in der Gaststätte meiner Eltern.

Frau W.: Ich war damals 7 Jahre alt und ging am Morgen des 10. November 1938 vor der Schule mit meiner Mutter die Neustraße, heute Gildenstraße, entlang. Wir sahen, daß einige Geschäfte und Wohnungen stark verwüstet waren. Meine Mutter war ganz entsetzt und sagte: "Da wohnen doch noch Leute drin." Ein Passant, der in der Nähe stand, erwiderte: "Wenn Sie das nicht sehen können, gehen sie doch weiter". Wir kamen dann bei einem Schuhgeschäft Ecke Kirchstraße/Weberstraße vorbei. Auf dem Bürgersteig vor dem Geschäft lagen viele Schuhe verstreut, die Scheiben waren zersplittert. Ich sah ein Paar Schuhe, das mir gefiel, hob es auf und sagte zu meiner Mutter: "Du, die passen mir bestimmt". Meine Mutter wurde richtig böse und befahl mir, die Schuhe sofort wieder hinzulegen. In der Kirchstraße auf der linken Seite befand sich ein kleines Milchgeschäft. Die ganze Einrichtung war zerschlagen und Milch und Eier flossen über den Bürgersteig.

Frau W.: Ein Erlebnis werde ich nie vergessen: Ich besuchte die Marienschule und von meinem Klassenraum aus konnte man in die Neustraße blicken. Wir sahen am 10.11. morgens Feuerwehrwagen zur Synagoge fahren und waren alle recht verstört von den Ereignissen der Nacht. Unsere Lehrerin nahm das zum Anlaß, ein Gedicht über die Feuerwehr einzuüben.

Frau W.:Ich war damals 10 Jahre alt und wohnte ca. 100 m von der Synagoge entfernt in der Neustraße, heute Gildenstraße. Am Abend des 9. November 1938, wir Kinder waren schon alle im Bett, hat mein Vater uns geweckt. Er selbst ist wach geworden weil, wie er sagte, leere Benzinfässer durch die Neustraße gerollt worden sind. Durch die zur Straße liegenden Wohnungsfenster konnten wir einen Feuerschein sehen, der aus der Richtung der Synagoge kam.

Da ganz in der Nähe der Synagoge die Werkstatt meines Vaters lag, hatte er große Sorgen, daß es dort brennen könnte. Auf die Idee, daß die Synagoge brannte, kamen wir gar nicht. Mein Vater und ich gingen hinunter auf die Straße und dann in Richtung Synagoge. Dort sahen wir daß das Gebäude innen brannte. Einige Männer hatten brennende Fackeln in der Hand und steckten damit die Fensterläden des Gemeindehauses an, das neben der Synagoge stand.

Herr M.: Ich bin 1920 aus der Schule gekommen und habe eine Lehre als Maler begonnen. Mein Lehrmeister hatte fast nur jüdische Kundschaft. Ich selbst kannte sehr viele Juden in Gelsenkirchen, weil ich bei Ihnen bearbeitet habe, z.B. die Familie Plauz in der Dürerstraße und die Familie Goldschmitz. Am 10.11.1938 fuhr ich morgens gegen 7.30 Uhr mit dem Fahrrad zur Arbeit. Ich wohnte in der Georgstraße. Ecke Ringstraße/Wildenbruchstraße befand sich ein großes Stoffgeschäft mit hohen Räumen. Die Fensterscheiben waren zertrümmert und in einer Ecke des Geschäftes brannte es.

Ein Mann warf Stoffballen ins Feuer. Es standen nur wenige Leute vor dem Geschäft, sie waren wohl alle auf dem Weg zur Arbeit. Ich verstand nicht, warum die Stoffballen verbrannt werden sollten und rief dem Mann zu: "Verbrenn nicht alle, wirf mir einen raus". Ich wußte ja nicht, daß das die "Kristallnacht" war. Der Mann schrie zurück: "Die stinken".

Herr Schö.: Am Morgen des 10. November 1938 gegen ca. 10 Uhr ging ich in Richtung Innenstadt, um zu sehen, was in der Nacht geschehen war. Ich kann mich allerdings nur noch an zwei Dinge erinnern: Ich konnte nur bis zum Neumarkt gehen. Dort war die Gildenstraße durch Polizei und SA abgesperrt. Von weitem sah ich einen Löschzug der Feuerwehr vor der noch brennenden Synagoge stehen. Gelöscht wurde aber nicht. Ich ging dann weiter in die Vereinsstraße, das ist die Straße hinter dem Westfalenkaufhaus. Dort befanden sich verschiedene jüdische Geschäfte und Wohnungen. Ein Jude, er war Zigarrenvertreter, wohnte in der 1. oder 2. Etage in dem Haus neben Weka. Seine Möbel und viele andere Gegenstände waren aus dem Fenster geworfen worden und lagen zerschmettert auf der Straße.

Frau M.: Ich kann mich nur an ein zerstörtes Geschäft erinnern: Die großen Schaufenster des Pelzgeschäftes Gompertz in der Bahnhofstraße waren eingeschlagen. Das Glas bedeckte weite Teile des Bürgersteiges. Zwischen den Glassplittern lagen auf der Straße verstreut einige Pelze. Sie waren stark beschädigt und vom Glas zerschnitten, so als hätte man sie von innen durch die zerstörten Fenster hinausgeworfen. Die Pelze lagen nicht nur in unmittelbarer Nähe des Geschäftes, sondern sogar verstreut bis zum übernächsten Haus.

Herr Sch.: Wir wohnten 1938 in der Teutstraße Nr. 11. Im Hause Nr. 9 wohnte die Familie Groß, denen das Schuhgeschäft am Neumarkt (Heute Teppich Jeggle) gehörte. Diese Familie genoß sowohl in der Geschäftswelt und auch in der Nachbarschaft ein hohes Ansehen. Am Abend des 9. November vernahm ich aus dem Haus Nr. 9 Gepolter, Geräusche und Schreie. Alle Fenster waren erleuchtet. Möbelstücke wurden auf die Straße geworfen, Hilferufe drangen auf die Straße. In der Wohnung randalierten uniformierte SA-Leute, zertrümmerten die Einrichtung und schlugen auf die Mitglieder der Familie Groß ein. Diese Aktion dauerte ca. 1 Stunde. Am nächsten Morgen erfuhren wir - aus dem Volksempfänger - daß "spontane Aktionen" der deutschen Bevölkerung gegen die Juden stattgefunden hätten.

Ich ging am 10. November in die Stadtmitte. Mein Weg führte über die Rotthauser Straße und den Machensplatz zur Klosterstraße. Am Ende der Klosterstraße sah ich einen großen Menschenauflauf. Die Schaufenster des Pelzgeschäftes Gompertz waren eingeschlagen, die Schaufensterpuppen zertrümmert, die Pelze geraubt. Auf der Bahnhofstraße sah ich Fenster und Fassaden mit antijüdischen Parolen beschmiert. Weiter ging ich in die heutige Gildenstraße. Dort konnte ich noch die Überreste der brennenden Synagoge sehen. Der Platz vor der Synagoge war von der Polizei abgesperrt.

Die anwesende Feuerwehr unternahm keine Löschversuche, sondern schützte nur die Nachbarhäuser , um ein übergreifen des Brandes zu verhindern. Augenzeugen berichteten mir, daß der gegenüber wohnende Zahnarzt - Dr. Eichengrün - aus einem Fenster heraus die brennende Synagoge fotografieren wollte. Als SA-Männer dieses bemerkten, stürmten einige von ihnen in die Wohnung, entrissen dem Zahnarzt die Kamera und schlugen ihn fürchterlich zusammen. In den nächsten Tagen konnte man in den Gelsenkirchener Zeitungen lesen, daß in der Nacht vom 9. zum 10. November, "spontane Aktionen" der deutschen Bevölkerung gegen die Juden stattgefunden hätten.

Herr I.: Schon kurz nach der "Machtübernahme" durch die Nationalsozialisten hatte das Leben eine neue "Qualität" angenommen. Überwachung und Kontrolle waren in allen Lebensbereichen zu spüren. SA-Posten standen vor jüdischen Geschäften und versuchten so, deutsche Bürger von dem Besuch jüdischer Geschäfte abzuhalten. Der "Überwachungsdruck" wurde so groß, daß jüdische Geschäfte immer mehr gemieden wurden. Nur wenige Menschen setzten sich über diese "Überwachung" hinweg, nahmen Verleumdungen und Bedrohungen in Kauf und hielten ihren alten Kaufleuten über einen kurzen Zeitraum noch die Treue.

Bereits in den Jahren 1933-1935 erschienen in den Krankenkassenverwaltungsstellen Listen, die die Namen und Adressen jüdischer Ärzte enthielten und die Bevölkerung dazu aufforderten, diese Ärzte nicht mehr aufzusuchen. Langsam wurde der öffentliche Druck auf die jüdische Bevölkerung größer. Gleichzeitig wurde der Druck und die Beeinflussung des Staates auf die deutsche Bevölkerung vergrößert. Einzelne, die sich der judenfeindlichen Verhaltensweise widersetzten, wurden "herausgegriffen" und "bestraft".

Jüdische Ärzte verloren ihre Patienten, jüdische Kaufleute ihre Kunden. Am 9.11.1938 trommelten plötzlich Menschen an unsere Haustür. Sie teilten uns mit, daß sie aufgefordert worden waren, ihre Wohnungen in der Georgstraße zu verlassen, da Maßnahmen im Bereich der Synagoge vorgenommen werden müßten. Diese Maßnahmen stellten sich als Vorbereitung zur Brandstiftung heraus. Ich lief zur Synagoge. Das Gebiet um die Synagoge war von der Polizei abgesperrt.

Die Synagoge brannte. Die Feuerwehr bekämpfte den Brand nicht, sie verhinderte allein das übergreifen des Feuers auf andere Gebäude. Aus dem Wohnhaus des Zahnarztes Dr. Eichengrün, das gegenüber der Synagoge stand, ertönten laute Schreie. Ich ging weiter durch die Stadt, bis zum Polizeiamt im alten Rathaus. Am Polizeiamt sah ich 2 Männer mit einer Liste jüdischer Geschäfte in der Hand und mit langen Eisenstangen bewaffnet. Ich folgte diesen Männern zur Bahnhofstraße und sah, daß sie die Schaufenster jüdischer Geschäfte einschlugen.

Ich lief durch weitere Straßen. Aus einzelnen Wohnungen drangen verzweifelte Schreie - Juden! Ecke Karlstraße/Kirchstrasse flogen aus der Wohnung jüdischer Mitbürger Möbelstücke auf die Strasse. Offenbar waren in der ganzen Stadt Gruppen unterwegs, um Gewalt gegen die jüdischen Mitbürger auszuüben. Am anderen Morgen ging ich über die Bahnhofstraße zu meiner Arbeitsstelle. Ich sah, daß die jüdischen Geschäfte zerstört und die Schaufenster ausgeraubt waren. In der heutigen Ebertstraße wurden aus einem jüdischen Teilzahlungsbankgeschäft Karteikarten aus dem Fenster geworfen. Mittags, auf dem Weg zum Essen, sah ich, daß noch immer Menschen in den zerstörten jüdischen Geschäften herumstöberten.

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Frau M.:Wir wohnten damals in der Karolinenstraße. Mein Vater kam am 10. November 1938 morgens von der Nachtschicht und erzählte, daß in der Bahnhofstraße die Schaufensterscheiben eingeschlagen worden waren. Daraufhin gingen meine Mutter und ich (ich war damals 14 Jahre alt) gegen 9 Uhr in die Stadt, um zu gucken, was passiert war. Am Pelzgeschäft Gompertz waren alle Scheiben zersplittert, das Glas lag auf der Straße und die Schaufenster waren leer.

Ungefähr sieben Männer waren in dem Geschäft und kamen jeweils mit einem Pelz unter dem Arm wieder heraus. Das war aber nur noch der Rest der Pelze, die besten und wertvollsten waren schon weg. Wer die genommen hat, habe ich nicht gesehen. Einer der herauskommenden Männer war unser Nachbar. Seine Frau lief dann schon am Nachmittag mit dem Pelz in der Straße herum. Auf unserem Weg nach Hause kamen wir an der heutigen Husemannstraße vorbei, früher hieß sie Hindenburgstraße. Dort befand sich ein Geschäft für Fleischereibedarf und Gewürze, das dem Herrn Meier gehörte. Die Türen waren weit geöffnet. Die Gewürze waren überall verstreut (ich habe noch den Geruch in der Nase). Die schweren Maschinen standen noch im Geschäft, es war wohl nicht so leicht möglich, sie umzustoßen oder hinauszuwerfen. Kein Mensch war in der Nähe zu sehen.

Herr A.: Ich hatte jüdische Freunde, die auf der Viktoriastraße - heute Magdeburger Straße - wohnten. Auf Ferien vom Arbeitsdienst (1937), wollte ich meinen Freund - Werner Neumann - besuchen. Schon meine Mutter sagte mir: "Erich, gehe nicht hin, es sind doch Juden." Trotzdem suchte ich die Familie auf. Erschreckt mußte ich feststellen, daß die Fassade des Wohnhauses beschmiert war: "Juda, verrecke!" Mutter Neumann öffnete mir die Tür und erschrak, als sie mich erkannte. Sie ließ mich nicht in die Wohnung und sagte nur: "Erich, wenn du keine Schwierigkeiten haben willst, dann geh bitte, sofort!" Deutlich war zu spüren, welche Angst sie hatte. Als ich 1947 aus dem Krieg zurückkehrte, gab es keine Familie Neumann mehr. Sie war "verschwunden"!

Bei einem Rundgang durch meine Heimatstadt konnte ich an vielen jüdischen Geschäften und auch an Wohnhäusern, in denen Juden wohnten, antijüdische Hetzparolen entdecken. Auf der Schalker Straße gab es mehrere jüdische Geschäfte: Ecke Grenzstraße das Textilgeschäft Goldblum, gegenüber das Schuhgeschäft Jorzik, das Textilgeschäft Katzenstein und am Schalker Markt, das Textilgeschäft Vorgang. All diese Geschäfte wurden in der Nacht zum 10. November durch uniformierte SA-Männer zerstört. Ich konnte sehen, daß randalierende Gruppen in die Geschäfte eindrangen, sie zerstörten und die sich in den Geschäften befindlichen Menschen verprügelten. Am anderen Morgen vernagelten SA-Männer die demolierten und geplünderten Geschäfte, hingen Verbotsschilder auf und trieben zusammen mit der Polizei zuschauende Menschengruppen auseinander.

Herr R.: Ich war damals Mitglied der Kommunistischen Widerstandsgruppe LL (Liebknecht/Luxemburg). Diese Gruppe wirkte in Erle. Mein damaliger Nachbar war SA-Obersturmführer und sagte uns am Abend des 9. November 1938, daß "Aktionen, große Sachen gegen die Juden unternommen werden, damit ein für allemal Schluß gemacht wird". Die Kommunisten sollten sich das Schauspiel ruhig einmal ansehen. Wir hatten die schlimmsten Befürchtungen und so gingen wir, insgesamt 8 Männer der Gruppe LL, von Erle nach Gelsenkirchen.

Als wir am Alten Markt ankamen, hatten sich dort schon Menschenmassen versammelt, die Gildenstraße war verstopft. Wir sahen, daß das Innere der Synagoge brannte und drängelten uns in Richtung Synagoge durch die herumstehenden Menschen durch. Sehr weit kamen wir aber nicht; SA und SS hatten eine Absperrung errichtet. Ich sah, wie in dem jüdischen Cafe, das neben dem Gemeindehaus lag, die Inneneinrichtung demoliert und aus den Fenstern geworfen wurde.

Die Feuerwehr errichtete auch eine Absperrung und versuchte, das Feuer von den Nachbardächern fernzuhalten, sie löschten aber keineswegs den Brand in der Synagoge. Die SA und SS-Männer zogen dann weiter in Richtung Schalker Straße und Bahnhofstraße. Auf ihrem Weg zerschlugen sie die Scheiben der jüdischen Geschäfte. Die Leute in den Straßen halfen teilweise kräftig mit, indem sie die Fensterauslagen plünderten. Wir sind dann auch zur Bahnhofstraße gegangen und haben gesehen, wie alkoholisierte SS und SA-Männer in Uniform Scheiben und Inventar zerstörten und die Geschäfte plünderten. Einige Passanten haben sich aufgeregt: "Seid ihr verrückt? Was macht ihr denn da?" Sie wurden von den Randalierern tätlich angegriffen. Mehrere mir bekannte SA und SS-Leute haben mir erzählt, daß sie auch jüdische Wohnungen geplündert haben.

Herr K.: Ich war damals 10 Jahre alt und wohnte in Ueckendorf, Flöz Sonnenschein. Am späten Nachmittag des 9. November 1938, etwa um 17 Uhr, kam ich von einem Freund und war auf dem Weg nach Hause. An der Ecke Bochumer Straße/Munscheidtstraße befand sich das Juweliergeschäft eines Juden. An den Namen kann ich mich leider nicht mehr erinnern. Die Scheiben des Geschäftes waren eingeschlagen, auf dem Bürgersteig lagen zerschlagene Uhren und eine Anzahl Ringe. Ca. 8 Männer in SA-Uniform schrien laut umher. Sie waren teilweise im Geschäft und warfen die Uhren heraus, teilweise waren sie draußen.

Es kamen viele Leute aus den umliegenden Häusern heraus. An dem Ausdruck ihrer Gesichter konnte man erkennen, daß einige Leute empört waren, andere grinsten. Ein SA-Mann schrie die Passanten an: "Weitergehen, nichts aufheben". Ich bin dann auch weitergegangen, ob vielleicht doch jemand etwas aufgehoben hat, und wo die Sachen geblieben sind, kann ich nicht sagen.

Herr S.: In unserem Haus, in Gelsenkirchen-Horst, wohnte oben, in einer 3-Zimmer­Wohnung, die Familie Guthold, mit ihren beiden Kindern, Evi und Leo. Mit dieser Familie bestand eine nette Hausgemeinschaft. Einige Wochen vor der "Kristallnacht", fiel mir auf, daß die beiden Kinder nicht mehr zur Schule gingen und den ganzen Tag auf der Straße spielten. Auf meine Frage, warum sie nicht mehr zur Schule gingen, erwiderten sie: "Wir werden weggeschickt, nach Sachsen."

Am Morgen des 10. November - gegen 5.00 Uhr - schellte es an allen Schellen unseres Hauses Sturm. Ich blickte durch das Fenster, und sah eine Horde SA-Männer vor unserem Hause. Kaum war die Haustür geöffnet, stürmte diese Horde in die Wohnung der Familie Gutgold, zerschlug die Möbel und verhaftete das Ehepaar mit ihren Kindern. Ich habe nie wieder etwas von dieser Familie gehört. Am Tage sah ich dann in Horst, daß die Schaufenster aller jüdischen Geschäfte eingeschlagen waren. Die Auslagen waren geplündert. Die mit judenfeindlichen Parolen beschmierten jüdischen Geschäfte wurden auch in Horst mit Brettern vernagelt.

Frau I.: An die Nacht vom 9. zum 10. November 1938 direkt kann ich mich nicht erinnern. Nur an eine Begebenheit etwas später. Ich war damals 10 Jahre alt und wohnte in Horst, Koststraße 16. Dort verkaufte ein Herr Munk an den Haustüren Wäsche, und wenn jemand nicht genug Bargeld hatte, verkaufte er seine Waren auch auf Raten. Herr Munk war Jude, ein netter, freundlicher Mann. Eines Morgens, wenige Tage nach dem 10. November, kam er, um die Ratenbeträge zu kassieren. Aber er wurde von mehreren Mietsparteien in unserem Haus beschimpft und weggejagt. Er hat das ihm zustehende Geld nicht mehr bekommen.

Herr V.: Bis 1933 waren jüdische Bürger voll in das Bueraner Gemeindeleben integriert. Die meisten jüdischen Bürger waren Geschäftsleute: Löwenstein und Katzenstein waren Besitzer von Textilgeschäften, Eckstein und Kochmann waren als geachtete Rechtsanwälte tätig. Vor 1933 gab es keinen "öffentlichen" Judenhaß und keine Benachteiligung der jüdischen Mitbürger. Dies änderte sich schlagartig, als die Nazis an die "Macht" kamen.

Als Frisörlehrling mußte ich erfahren, daß jüdische Bürger nicht mehr in unserem Betrieb bedient werden durften. Mein Meister schickte mich heimlich zu seiner alten jüdischen Kundschaft, um sie in ihrer Wohnung zu frisieren. Ab 1934 erschienen auch immer häufiger antijüdische Artikel in der Lokalpresse. Für einen "deutschen" Betrieb war es unmöglich geworden, jüdische Mitbürger zu bedienen.

Am Abend des 9. November 1938 saß ich während eines Heimaturlaubes vom Arbeitsdienst in der Gaststätte Rottmann, Horster Straße. Plötzlich tauchten SA-Männer auf, sperrten die Maelostraße ab und trieben - in Zusammenarbeit mit der Polizei - die zusammenlaufenden Menschen auseinander. Gleichzeitig sahen wir die Buersche Synagoge in Flammen aufgehen. Die hinzukommende Feuerwehr stand mit ausgerollten Feuerwehrschläuchen in sicherer Entfernung und unternahm keine Anstalten, den Brand zu bekämpfen.

Am 10. November waren auch an anderen Stellen in Buer fürchterliche Verwüstungen zu sehen. Auf der Hochstraße, bei Hosen-Hirsch, lagen Kleidungsstücke und Schaufensterpuppen zerstört auf der Straße. Beim Möbelhaus Rosenbaum, an der Ecke Westerholter Straße/de-la-Chevalleriestraße, waren Möbelstücke, wie Küchenschränke, Tische, Stühle, Sofas auf die Straße geworfen worden. Bei Katzenstein und Löwenstein, an der Ecke Horster Straße/Maelostraße, waren ebenfalls die Schaufenster zertrümmert. Die Fassaden der Häuser waren mit antijüdischen Hetzparolen beschmiert. Von den Besitzern war keine Spur zu sehen - alle wurden in der Nacht abgeholt und zum Polizeigefängnis gebracht, einige wurden später in Konzentrationslager verbracht.

Herr St.: Ich war damals 14 Jahre alt, wohnte in Resse und ging zur Handelsschule in Buer. Am 10. November 1938 fuhr ich, wie jeden Morgen, mit der Straßenbahn nach Buer und traf an der Haltestelle am Rathaus einige Klassenkameraden. Die erzählten mir, daß sie aus der Straßenbahn heraus im Vorbeifahren mehrere Menschenansammlungen gesehen hätten. Wir waren neugierig, was da wohl geschehen war, und liefen zur Hochstraße. Dort befand sich unweit von Karstadt das Bekleidungshaus Hirsch. Die Schaufensterscheiben waren zerstört, die Auslagen waren leergeräumt, es sah ziemlich wüst aus. Mehrere Schaufensterpuppen lagen auf der Straße herum, eine hing sogar an einem Laternenpfahl. Einige Polizisten hielten sich in der Nähe auf. Sie haben aber nichts unternommen. Uniformierte SA-Leute standen dabei und forderten die Menschen auf, weiterzugehen. Aus der Menschenmenge sind einige Stimmen gegen Juden laut geworden.

Dann sagte jemand: "Da oben brennt die Synagoge." Wir sind hingerannt und sahen Rauch und Flammen in dem Gebäude. Das Dach war eingestürzt. Es war keine Feuerwehr am Brandort. SA-Männer sperrten die Umgebung ab. Man hat die Synagoge seelenruhig ausbrennen lassen. Meine Klassenkameraden und ich sind dann schnell zur Schule gegangen. Besonders gewundert hat mich, daß wir von unserem Lehrer nicht ins Klassenbuch eingetragen wurden. Normalerweise bekam jeder, der zu spät kam, einen Verweis. Als wir erzählten,was wir gesehen hatten, befürwortete unser Lehrer die Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung.

Frau Me.: Ich war damals 17 Jahre alt und arbeitete als Lehrling in dem jüdischen Geschäft Lieber & Co. in Resse, Ewaldstraße. Herr und Frau Lieber, schon ältere Leute, verkauften Textil- und Kurzwaren. Herr Lieber trug das Eiserne Kreuz 1. Klasse und hatte keinerlei Befürchtungen, daß ihm etwas geschehen könnte. Seine Angestellten beschworen ihn, zu seinem Sohn, der im Ausland lebte, zu gehen, aber Herr Lieber hielt das für Unsinn. Am 8. November 1938 brach Herr Lieber zu einer Geschäftsreise auf und wollte ca. 3 Tage später wiederkommen. Er hat mich gebeten, in dieser Zeit in seiner Wohnung zu übernachten, da seine Frau krank war. Das war für mich nicht ungefährlich, denn wir arischen Lehrlinge durften offiziell nur jüdische Geschäftsräume betreten, aber nicht die Wohnungen. Ich habe mich darüber aber hinweggesetzt, weil ich ein sehr gutes Verhältnis zu dem Ehepaar Lieber hatte.

Am Nachmittag des 9. November, ca. 17 Uhr, rief plötzlich Herr Lieber aus Essen oder Bottrop an und sagte zu seiner Frau: "Schick sofort die W...nach Hause. Ich komme zurück". Dort, wo er sich befand, gab es schon die ersten Ausschreitungen gegen Juden, und er hatte wohl böse Vorahnungen. Ich bin dann auch sofort nach Hause gefahren.

Am nächsten Morgen erfuhr ich die Tragödie. In der Nacht sind mehrere Männer in die Wohnung, die über dem Geschäft lag, eingedrungen und haben alles kurz und klein geschlagen, Gardinen abgerissen, Porzellan und Gläser aus den Schränken geworfen, Möbel mit Äxten zerhackt, Sessel aufgeschlitzt, Bücher zerstört und noch vieles mehr. Ich habe eine solche Zerstörungswut in meinem Leben nicht noch einmal gesehen. Herr und Frau Lieber wurden in der Nacht verhaftet, konnten dann aber nach England auswandern. Ich habe sie nie wieder gesehen.

Interessanterweise wurde nur die Wohnung zerstört; das Geschäft blieb unversehrt. Es ging schon länger das Gerücht, daß Herr Lieber sein Geschäft Herrn S.... verkaufen wollte. Herr S....übernahm dann auch tatsächlich das Geschäft; ob er etwas dafür bezahlt hat, weiß ich allerdings nicht.

Aus: Die Novemberpogrome in Gelsenkirchen - Dokumente zur Reichskristallnacht. Herausgeber: Schul- und Kulturdezernat der Stadt Gelsenkirchen, Evangelischer Kirchenkreis Gelsenkirchen, Schulamt für die Stadt Gelsenkirchen, 1988.


Andreas Jordan, November 2005

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