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Zeitzeugen: Erzähl' uns doch mal von damals...

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Karl Taefler: Probealarm oder Paul erinnert sich

Bei unserem letzten Skatabend heulten plötzlich die Sirenen auf. Probealarm. Wir legten die Karten hin und horchten. "Wißt ihr", sagte Paul, "ich habe schon viele Sirenen gehört. Aber an einen Tag, das war im Sommer 1944, erinnere ich mich noch sehr genau. Gegen unsere Stadt hier wurde Großangriff geflogen. Wir, ich meine die Leute aus unserem Haus, wir saßen also im Luftschutzkeller. Auf zwei Bänken. Wir sahen uns an. Ich war gerade zwölf Jahre alt. Aber die Ängste, die ich in den Kriegsjahren durchstehen mußte, hatten meinen Verstand wohl schneller entwickelt, als das sonst üblich ist.

Jedenfalls hatte ich begriffen, daß der Krieg nicht auf einem großen Abenteuerspielplatz stattfand... Das monotone Brummen der Bomber drang bis zu uns in den Schutzraum. Es hatte also eine Menge Stahl am Himmel gehangen. Der alte Schippenkötter reckte auf einmal seinen Oberkörper steif in die Höhe. Eine Hand, halb nach unten gesunken, hielt sich an einem großen, kalten Pfeifenkopf, wie an einem rettenden Anker, während sein Ohr draußen bei den Fliegern zu sein schien. Auf mich wirkte es, als könnte der Alte aus der Art der Geräusche die Gefahren für uns abschätzen. Frau Wiese, die unter Magengeschwüren litt, krallte beide Hände in den Leib, als wollte sie das Geschwür packen und herausreißen. Ihr Kopf bewegte sich rhythmisch nach vorn ins Helle. Dann sah ich über dem stöhnenden Mund Schweiß glitzern. In kurzen Abständen versuchte sie ihn mit dem Handrücken abzuwischen.

Die Fliegerabwehrkanonen vom Mechtenberg zerfetzten plötzlich die brummende Monotonie. Else Trägermann, die ich heimlich liebte, saß mir gegenüber. Ich sehe noch genau, wie sie ihre magere Kinderfaust gegen den Mund preßte. Gleichzeitig blickte sie mich mit starren, dunklen Augen an. Ich brachte keinen Laut heraus. Ein pfeifender Heulton lenkte mich von Else ab. Der Ton wurde länger und stärker und quälender. Unwillkürlich krümmte ich mich und zog den Kopf ein. Trotzdem sah ich Gunda, die in ihrer braunen BDM-jacke schräg gegenüber von mir saß. Sie warf gerade den Kopf nach hinten. Und gleichzeitig riß sie den Mund auf. Dabei fuhren ihre feingliedrigen Finger blitzartig über das Ohr bis tief in die seidigen Haare. Ein Knoten löste sich. Ihre Haare fielen wirr auf den Unterarm hinab. Die Bombe detonierte krachend und brachte die Mauern zum Zittern. Ich erinnere mich noch, daß hinter Gunda der breite Rücken von Brodich sichtbar wurde. Der wohnte bei uns im dritten Stock. Als ich ihn sah, beruhigte ich mich zunächst wieder.

Stellt euch einen Mann vor, der unentwegt aus einem Kellerfenster starrt, das mit Brettern dicht vernagelt ist. Brodich stand da, bewegungslos und abweisend. Die Beine ein wenig gespreizt. Die Arme nach hinten verschränkt. Die schweren fleischigen Hände ineinanderliegend. Sie strahlten eine wohlige Ruhe aus. Er stand da. Einfach so, als ob ihn das alles nichts anginge. Seine klobigen Hände kannte ich gut. Sie konnten durchaus flink sein. Sie hatten mir häufig das alte Fahrrad repariert. Ich hatte Brodich sehr gern.

Die Einschläge der Bomben kamen jetzt bedrohlich näher. Das Licht im Keller flackerte. Auf Stirn und Lippen spürte ich Staub. Frau Zemke betete plötzlich:,Vater unser ...' Natürlich konnte ich damals nicht wissen, daß mich später Dürers ,Betende Hände' an Frau Zemke aus dem Luftschutzkeller erinnern würden. Wenn ich mich nicht täusche, dachte ich nur: Wie komisch die die Hände hält! Ich weiß gar nicht mehr, was plötzlich geschehen war. Ich sprang auf einmal von meinem Sitz hoch, umklammerte den Holzstempel, der die Decke abstützen sollte, und schrie:"Lieber Gott, laß mich nicht sterben!" Ein widerlicher Brandgeruch brachte mich zur Besinnung. Ich lag auf dem Steinboden des Kellers. Die Fingernägel hatte ich in das Holz gedrückt.

Alle waren unverletzt. Else hielt sich an meinem Arm fest und weinte. Die Treppe war eingestürzt. Die Leute drängten sich gegen den Notausgang. Mutter schob mich vor sich her. Sie zerrte auch Brodich mit sich hinaus. Die Häuser in unserer Straße brannten. Paul schwieg. Und wir schwiegen mit ihm.

Zitat aus: "Und das ist unsere Geschichte" Gelsenkirchener Lesebuch S.271, 272. Asso-Verlag 1995


Andreas Jordan, Mai 2009

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