GELSENZENTRUM-Startseite

Günther ist 89 Jahre alt - Erinnerungen

← Zeitzeugen


Silvestergespräch

Kranich (67 J.): "Hast Du Erinnerungen an 1933, als Hitler an die Macht kam und an die Zeit davor?"

Günther (89 J.): "Von der Zeit vor 1933 weiß ich nicht viel. Damals war ich erst 14 Jahre. Einmal sagte mein Vater: "Bald wird man nur noch zwischen Kommunisten und Nazis wählen können. Alle anderen werden machtlos sein." Er hat immer Zentrum gewählt. Den Reichstagsbrand selbst habe ich nicht mitbekommen. Es ging dann immer darum, auch in späteren Jahren, wer ihn angezündet hat."

K: "Du warst doch christlich oppositionell eingestellt?"

G: "Ich war in der katholischen Jugendorganisation "Sturmschar" organisiert (Das waren so bündische Traditionen.) Wir wurden gemaßregelt und von der HJ bedrängt, durften unsere Fahne nicht mehr zeigen und unsere Kluft nicht mehr tragen. Wir hatten so neuartige Zelte, Tipis. Wenn wir am Wochenende loszogen, hat uns die HJ an der ?? Brücke in Gelsenkirchen aufgelauert und uns die Sachen weggenommen. Unser Reichssturmscharführer wurde verhaftet. Als er nach sechs Jahren aus dem KZ kam, war er blind. Über unsere Zeitschrift hielten wir Verbindung, mal war sie verboten, mal erschien sie wieder. Es war spannend. Um dem völligen Verbot zu entgehen, hat sich die "Sturmschar" dann aufgelöst, und wir haben uns völlig auf die Pfarrarbeit konzentriert."

K: "Du bist dann freiwillig zur Wehrmacht gegangen?"

G: "Das war 1936 oder 1937. Erstens: Ich bin als einziges von sechs Geschwistern nicht zum Gymnasium zugelassen worden (wegen meiner Legasthenie), wollte aber unbedingt Ingenieur werden, und mir war gesagt worden, daß ich bei der Wehrmacht auf Staatskosten studieren könnte. Und zweitens glaubte ich mich bei der Wehrmacht ziemlich sicher vor den Nachforschungen und Verfolgungen der Gestapo. Damals traf sich ein Kreis aus der katholischen Jugendbewegung auf einem Schloß am Niederrhein bei einer Frau von Loe ( die auch Präses Wolker zeitweilig Unterschlupf gewährte). Wir machten Exerzitien in der dortigen Kapelle nach der neuen Liturgie und besprachen auch unsere Absicht, in die Wehrmacht einzutreten. Frau von Loe sandte regelmäßig alle paar Wochen einen Rundbrief. Später beim Barras wurde ich plötzlich zu unserem Kompaniechef bestellt, einem Freiherrn von Soundso, eigentlich kein Nazi, der mich wegen des Rundbriefs zur Rede stellte. Ich mußte den Rundbrief abbestellen und es blieb nun nur die persönliche Verbindung zu Gleichgesinnten. Über solche Kanäle habe ich auch von den Rundbriefen des Grafen von Gahlen erfahren."

K: "Wie war das mit der oppositionellen Haltung in der Wehrmacht?"

G: "Ich war in Dresden-Klotzsche bei der Luftwaffe stationiert. Ich hatte die Sicherheit der Flugzeugkabinen zu prüfen. Für ein Studium hätte ich mich 12 Jahre verpflichten müssen. Das wollte ich auf keinen Fall, nachdem ich den Barras kennen gelernt hatte. In Dresden nahm ich Kontakt zur katholischen Jugend auf. Dort, in der Diaspora, konnten die sich Dinge erlauben, die bei uns im Ruhrgebiet längst verboten waren. Die Gestapo lancierte auch Spitzel in unsere Gruppen. Man mußte vorsichtig sein. Wir erkannten sie daran, daß sie unsere alten Lieder nicht kannten."

K: "Wie hast Du die sog. "Kristallnacht" erlebt? Hattest Du Juden in Deinem Bekanntenkreis?"

G: "Während der "Kristallnacht" war ich in der Kaserne. Habe nichts mitbekommen. Kurze Zeit danach war ich auf Urlaub in Gelsenkirchen und sah die Trümmer der Synagoge dort, die noch rauchten. Ich war entsetzt. Juden hatte ich keinen in der Verwandtschaft oder Bekanntschaft. Was man später sah, das Tragen des Judensterns usw. fand ich deprimierend."

K: "Wie ging es in der Wehrmacht weiter?"

G: "Als das Attentat auf Hitler war (gemeint ist das Attentat von Georg Elser 1939), mußte man äußerst vorsichtig sein. Mit meinem Vertrauten Walter Heinrich haben wir offen darüber gesprochen. Dazu sind wir nicht nur nach draußen gegangen, sondern extra raus aufs Rollfeld, wo wir sehen konnten, daß weit und breit kein Mensch war. Die Siege in den ersten Kriegsjahren haben eine begeisternde Wirkung gehabt. Nachdem wir solange für den Krieg geübt hatten, wollten die meisten das auch anwenden. Ich weiß nicht mehr, was ich damals gedacht habe. Aber irgendwie kiebig darauf, mich zu bewähren, war ich auch. Als der Polenfeldzug war, wurde eine unserer Ju 52 nach Kamenz in Bereitschaft verlegt. Der Krieg war aber so kurz, daß wir nicht mehr zum Einsatz kamen. Die Kameraden waren enttäuscht, daß sie keinen Ruhm erwerben konnten. Was ich gedacht habe, weiß ich nicht mehr. Irgendwie wollte jeder zeigen, was er kann."

K: "Beim Rußlandfeldzug änderte sich das wohl bald?"

G:"Ich erinnere mich an die Briefe meines kleinen Bruders, der im Winter 41/42 vor Moskau im Schützengraben lag. Die Vorstellung, was der durchmacht, hat mich nächtelang umgetrieben. Ich habe meine Skier fürs Winterhilfswerk gespendet."

G. war zum Ende des Krieges im Böhmischen eingesetzt. Sein Feldwebel eröffnete ihm, daß er (der Feldwebel) ab morgen einen Zug blutjunger, völlig unerfahrener Hj-ler übernehmen müsse. Er sei nicht bereit, diese Jungen zu verheizen und werde abhauen. Dann sei er - G. - der Dienstälteste und müsse den Zug führen. Ob er dazu bereit sei oder mit ihm gehen würde? In dieser Situation entschloß sich G. zu desertieren. Im Verlauf der nächsten (Flucht)-Tage verloren beide einander aus den Augen. Sie kamen beide durch, machten nach dem Krieg ihre gegenseitigen Adressen ausfindig, besuchten sich aber nicht.

K: "Habt Ihr nach dem Krieg Eure katholische Jugendorganisation irgendwie wieder belebt?"

G: "Es gab danach noch ein Treffen zu der Frage, ob wir uns wieder gründen sollten. Die meisten – ich auch – waren dagegen. Wir waren ja ohnehin mehr zur Pfarrarbeit übergegangen. Die Zeiten waren anders geworden. Wir waren keine Jugendlichen mehr, hatten jetzt Familie. Wir gründeten einen Familienkreis."

K: "Gab es keine Versuche, etwas grundsätzlicher nach den Ursachen zu fragen und Schlußfolgerungen zu ziehen? Immerhin waren manche Eurer eigenen Leute, wie Du erzählt hast, im KZ gewesen."

G:"Wir wollten alles hinter uns lassen. Wir wollten ein ganz neues Leben aufbauen. Bald war ja zu spüren, daß es aufwärts ging. Wir wollten Erfolg haben und uns etwas leisten können. Eine Portion Verdrängung war wohl auch dabei."

kranich05 - 2008/01/02 opablog.twoday.net

Andreas Jordan, August 2007