Auf den Spuren des Grauens: Die Todesfabrik
Dr. Miklos Nyiszli war ein Gerichtsmediziner aus Großwardein in Ungarn. Er war als Häftling im Konzentrationslager Auschwitz - der Todesfabrik.
"Ich empfinde es als Aufgabe, vor meinem Volk und der ganzen Welt zu berichten, was ich gesehen habe."
Miklos Nyiszli
"Von der Rampe her ertönt der langgezogene Pfiff einer Lokomotive. Es ist noch früh am Morgen; ich trete ans Fenster, von dort hat man direkte Sicht. Ich bemerke einen sehr langen Zug. Einige Minuten später werden die Türen aufgeschoben, und aus den Waggons quillt zu Tausenden das auserwählte Volk Israels.
Das Aufstellen und die Selektion dauern eine knappe halbe Stunde; dann entfernt sich langsam die linke Kolonne. Laute Befehle und das Geräusch schneller Schritte dringen bis in mein Zimmer. Dieser Lärm kommt aus dem Heizungsraum des Krematoriums. Die Vorbereitungen für den Empfang des Transport werden getroffen. Man hört das Summen der Motoren: soeben sind die großen Ventilatoren in Betrieb gesetzt worden, die das Feuer schüren, um den erforderlichen Hitzegrad in den Öfen zu erreichen. Fünfzehn Ventilatoren drehen sich gleichzeitig - neben jedem Ofen einer. Der Verbrennungssaal ist ungefähr hundertfünfzig Meter lang; es ist ein heller Raum mit weißgetünchten Wänden, Betonfußboden und vergitterten Fenstern. Die fünfzehn Öfen selbst sind in eine Wand aus roten Ziegeln eingelassen. Riesige schwarze Eisentüren, glänzend vor Sauberkeit, reihen sich unheilverkündend entlang der ganzen Saalwand."
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Krematorium
Nach fünf bis sechs Minuten kommt die Kolonne vor dem Tor an, dessen Flügel sich nun öffnen. In Fünferreihen betreten die Menschen den Hof. - Keiner von ihnen kennt die Bedeutung des Augenblicks. Jene, die etwas darüber sagen könnten, sind den Schicksalsweg von dreihundert Metern, die diese Stelle von der Rampe trennen, niemals wieder zurückgegangen. - Das ist eines der Krematorien, das diejenigen erwartet, die bei der Selektion nach links geschickt wurden; und kein Lager für Kranke und Kinder, wo sich die Schwächeren um die Kleinen kümmern, wie die deutsche Lüge es glauben machen wollte, um die Angst ihrer nach rechts aussortierten Familienangehörigen zu zerstreuen. Mit langsamen, müden Schritten gehen sie vorwärts. Kinder, denen die Augen vor Müdigkeit zufallen, klammern sich an die Kleider ihrer Mütter. Säuglinge werden meistens von den Vätern getragen oder im Kinderwagen geschoben.
Die SS-Wachen bleiben vor dem Krematorium, da ein Anschlag an der Tür allen Fremden einschließlich der SS den Eintritt strengstens untersagt. Die Deportierten entdecken sofort die im Hof angelegten Wasserhähne, die zur Pflege des Rasens dienen, und holen Kochgeschirr und Töpfe hervor. Die Reihen brechen auf. Sich gegenseitig fortstoßend, versuchen die Menschen, sich an die Hähne heranzudrängen und ihre Behälter zu füllen. Es ist kein Wunder, daß sie ungeduldig sind: sie haben seit fünf Tagen nichts getrunken. Das bißchen Wasser, über das sie verfügten, war faulig und konnte den Durst nicht löschen. Die SS-Posten, die die Transporte empfangen, sind an diese Szene gewöhnt. Geduldig warten sie, bis jeder seinen Durst gestillt und seine Gefäße gefüllt hat. Solange die Menschen sich nicht satt getrunken haben, kann man sie sowieso nicht wieder in Reihen bringen.
Langsam beginnen nun die Posten, sie zusammenzutreiben. Dann geht es noch etwa hundert Meter auf einem mit grünem Rasen umsäumten Schlackenweg weiter, bis zu einer Eisenrampe, von der zehn oder zwölf Betonstufen in einen großen unterirdischen Raum hinunterführen. An der Tür befindet sich in deutscher, französischer, griechischer und ungarischer Sprache die Aufschrift: Bade- und Desinfektionsraum. Die Gutgläubigen, auch jene, die bis dahin Zweifel hatten, beruhigen sich und sind erleichtert. Fast fröhlich steigen sie die Treppen hinab.
Kleiderhakennummer
Der Raum, in den die Ankommenden nun geführt werden, ist ungefähr zweihundert Meter lang, weißgekalkt und grell erleuchtet. In der Mitte des Saales stehen Säulenreihen. Um die Säulen herum und an den Wänden entlang stehen Bänke, über denen sich numerierte Kleiderhaken befinden. Zahlreiche Tafeln weisen jeden in seiner eigenen Sprache an, die zusammengebundenen Schuhe und die Kleider an den Haken zu hängen. Vor allem, sich die Nummer des Hakens zu merken, um bei der Rückkehr aus dem Bad unnötige Verwechslungen zu vermeiden.
"Echt deutsche Ordnung", sagen jene, die seit langem dazu neigen, diesen Ordnungssinn zu bewundern. Und sie haben recht. Diese Maßnahmen dienen tatsächlich der Ordnung; die tausende guter Schuhe, auf die man im Dritten Reich schon lange Wartet, sollen nicht durcheinanderkommen. Für die Kleider gilt das Gleiche - die Bevölkerung der bombardierten Städte wird sie tragen.
Dreitausend Menschen sind nun im Saal, Männer, Frauen, Kinder. SS-Männer erscheinen und befehlen ihnen, sich innerhalb von zehn Minuten splitternackt auszuziehen. Die Alten, Großväter und Großmütter, die Kinder, die verheirateten Frauen und Männer, sie alle sind sprachlos vor Überraschung. Keusche Frauen und junge Mädchen gehen sich fragend an. Vielleicht haben sie die deutschen Worte nicht richtig verstanden? Sie haben keine Zeit, darüber nachzudenken, da dass Kommando wiederholt wird, diesmal in drohend erhobenem Ton. Die Menschen packt eine böse Vorahnung, ihr Schamgefühl empört sich.
Aber mit der Resignation, die ihrem Volke eigen ist, begreifen sie, daß man sich ihnen gegenüber alles erlauben kann. Zögernd beginnen sie, sich auszuziehen. Den Alten, Gelähmten und Geistesgestörten hilft eine Gruppe des Sonderkommandos, die zu diesem Zweck bereitsteht.Innerhalb von zehn Minuten sind alle nackt, die Kleider und die mit Schnürsenkeln aneinandergebundenen Schuhpaare hängen an den Haken. Ihre Kleiderhakennummer haben sie sich gut eingeprägt.
Ein SS-Mann drängt sich durch die Masse und öffnet die beiden Flügel der großen Eichentür am Ende des Saales. Die Menge schiebt sich durch die Tür in den anliegenden Raum, der ebenfalls hell erleuchtet ist. Er hat dieselbe Größe wie der erste, aber keine Bänke und keine Kleiderhaken. In der Mitte des Saales, im Abstand von etwa dreißig Metern, stehen Säulen, die vom Betonboden bis zur Decke führen. Es sind keine Stützsäulen, sondern viereckige Eisenblechrohre, deren Wände wie ein Drahtgitter durchlöchert sind. Es sind jetzt alle eingetreten. Ein scharfer Befehl: SS und Sonderkommando raus! Sie gehen hinaus und zählen ab, ob keiner von ihnen fehlt. Dann wird die große Tür verschlossen und das Licht von draußen ausgeschaltet.
Vier grüne Blechdosen
Im selben Augenblick hört man ein Auto vorfahren. Es ist ein Luxuswagen mit dem Zeichen des Internationalen Roten Kreuzes. Ein SS-Offizier und ein Sanitätsgefreiter steigen aus. Der Gefreite hat vier grüne Blechdosen in der Hand. Er geht über den Rasen, wo im Abstand von dreißig Metern kleine Betonschornsteine aus der Erde herausragen. Er setzt sich eine Gasmaske auf und hebt den Betondeckel des ersten Schornsteins ab. Dann öffnet er eine der Dosen und schüttet den Inhalt - eine violette, körnige Masse - in die Öffnung. Es ist Zyklon oder B-Chlor in Pulverform, das sich bei Berühung mit Luft sofort in Gas verwandelt. Dieses Pulver fällt auf den Grund der Blechrohre, ohne sich zu zerstreuen. Das entstandene Gas entströmt durch die Löcher und füllt in wenigen Augenblicken den Raum, in dem die Deportierten zusammengepfercht sind. In wenigen Minuten sind alle getötet.
Auf diese Art spielt sich der Vorgang bei jedem neuen Transport ab. Die Rot-Kreuz-Wagen bringen das Gas von außerhalb. Es wird niemals im Krematorium selbst gelagert, eine niederträchtige Vorsichtsmaßnahme. Aber noch niederträchtiger ist es, daß der Wagen, mit dem das Gas herbeigeschafft wird, das Zeichen des Internationalen Roten Kreuzes trägt. Um ganz sicherzugehen, warten die beiden Gas-Scharfrichter noch weitere fünf Minuten. Dann zünden sie sich eine Zigarette an und fahren in ihrem Wagen davon. Sie haben soeben dreitausend unschuldige Menschen getötet.
Zwanzig Minuten später werden die elektrischen Entlüftungsapparate eingeschaltet, um die Gase herauszulassen. Die Türen öffnen sich, Lastwagen kommen herangefahren. Eine Sonderkommandogruppe lädt die Kleider und Schuhe getrennt auf. Die Sachen werden zur Desinfektion gebracht - diesmal handelt es sich tatsächlich um eine Desinfektion. Anschließend werden sie dann mit der Eisenbahn nach Deutschland transportiert.
Welch schrecklicher Kampf
Die modernen Saugventilatoren entfernen rasch das Gas aus dem Saal, aber in den Ritzen, zwischen den Toten und hinter den Türen bleibt es noch in kleinen Mengen zurück. Das Gas ruft selbst nach mehreren Stunden noch einen erstickenden Husten hervor. Deshalb sind die Männer vom Sonderkommando, die als erste die Gaskammern betreten, mit Gasmasken ausgerüstet. Der Saal ist nun wieder hell erleuchtet. Ein grauenerregendes Bild bietet sich den Augen der Anwesenden.
Die Leichen sind nicht der Länge und Breite des ganzen Raumes entlang auf dem Fußboden verteilt, sondern liegen zu einem hohen Berg bis zur Decke des Saales aufgetürmt. Das kommt daher, daß das Gas zuerst die unteren Luftschichten vergiftet, und dann langsam zur Decke steigt. Deshalb treten die Unglücklichen einander gegenseitig zu Boden, einer klettert auf den andern: wer sich höher befindet, wird vom Gas einige Augenblicke später erreicht. Welch schrecklicher Kampf ums Leben! Dabei handelte es sich nur um einen Aufschub von zwei bis drei Minuten. Wären diese Menschen noch fähig gewesen nachzudenken, so hätten sie verstanden, daß sie ihre eigenen Kinder, ihre Eltern, ihre Frauen niedertrampeln. Aber sie können nicht mehr überlegen. Ihre Bewegungen sind nur noch automatische Reflexe des Selbsterhaltungstriebes. Ich sehe, daß sich zu unterst in der Masse der übereinanderliegenden Säuglinge, Kinder, Frauen und Greise befinden; obenauf liegen die Stärkeren.
Die Körper, verunstaltet durch zahlreiche Kratzwunden vom Kampf, der soeben stattgefunden hat, haben sich oft fest ineinander verkrallt. Die aus Nase und Mund blutenden, blau angeschwollenen Gesichter sind bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Trotzdem entdecken die Männer des Sonderkommandos häufig ihre eigenen Angehörigen. Es ist ein furchtbares Wiedersehen, und ich fürchte, daß ich es auch erleben könnte, ich habe hier nichts zu suchen, und doch bin ich heruntergestiegen zu den Toten. Ich empfinde es als Aufgabe, vor meinem Volk und der ganzen Welt zu berichten, was ich gesehen habe - falls ich durch einen unvorhergesehenen Zufall je hier herauskommen sollte.
Asche im Ofen
Das Sonderkommando in Gummistiefeln stellt sich um den Leichenberg auf und bespritzt ihn aus dicken Wasserschläuchen. Das ist unumgänglich, weil sich beim Tod durch Ertränken oder durch Gas als letzte Reaktion der Darm entleert. Jeder Tote ist beschmutzt. Nachdem das "Baden" der Toten beendet ist — eine Arbeit, die das Sonderkommando in vollkommener Selbstverleugnung der eigenen Person und in höchster Seelennot ausführen muß — beginnt die Lostrennung der verschlungenen Leiber. Das ist eine sehr schwierige Arbeit. Um die im Todeskrampf erstarrten geballten Fäuste werden Riemen geschnallt; an ihnen schleift man die feuchten, glitschigen Leichen zum Fahrstuhl im anliegenden Raum. Vier große Lastenaufzüge sind in Betrieb. Es werden jeweils zwanzig bis fünfundzwanzig Tote verladen. Ein Klingelzeichen meldet, wenn die Ladung fertig ist und der Fahrstuhl abfahren kann. Der Aufzug hält beim Einäscherungssaal des Krematoriums, dessen große Türflügel sich automatisch öffnen. Die Männer vom Schleppkommando warten schon. Sie legen wieder Schlingen um die Handgelenke der Toten und ziehen sie dann auf dafür angefertigte Rutschbahnen, um sie vor den Öfen abzuladen.
Dichtgedrängt liegen die Leichen in Reihen. Alte, Junge und Kinder. Aus ihren Nasen, ihren Mündern und aus den Wunden, die beim Schleifen auf dem Boden entstanden sind, fließt Blut. Es vermischt sich mit dem fließenden Wasser in den Abflußrinnen, die im Betonboden eingelassen sind ...Nachdem die letzte Goldprothese herausgebrochen ist, kommen die Leichen zum Verbrennungskommando. Sie werden zu dritt auf eine Schiebe aus Stahlblech gelegt. Automatisch öffnen sich die schweren Ofentüren, und das Schiebewerk wird in den bis zur Weißglut erhitzten Ofen eingeführt. In zwanzig Minuten sind die Leichen eingeäschert ... Es bleibt von ihnen nichts weiter zurück, als die Asche im Ofen, die von Lastwagen zur zwei Kilometer entfernten Weichsel gefahren wird."
Dr. Miklos Nyiszli. Erstveröffentlichung im Bertelmann-Lesering, Buch Nr. 149, 1961
In das Konzentrationslager Auschwitz wurden insgesamt mehr als 1,3 Millionen Menschen aus ganz Europa deportiert. Davon wurden dort geschätzte 1,1 Millionen Menschen ermordet, eine Million davon Juden. Etwa 900.000 der Deportierten wurden direkt nach ihrer Ankunft in den Gaskammern ermordet oder erschossen. Weitere 200.000 Menschen wurden von der SS durch Krankheit, Unterernährung, schwerste Misshandlungen, medizinische Versuche oder die spätere Vergasung ermordet.
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