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Erinnerungen von Lore Price, geborene Sass

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Riga und Stutthof überlebt - Lore Price

Lore Price wurde als Lore Sass am 1. November 1921 in Gelsenkirchen geboren. Sie war die Tochter des am 27. Februar 1888 in Mülheim an der Ruhr geborenen Friseurs Alfred Sass und seiner Frau Selma, geborene Levy, geboren am 23. November 1891 in Thorn. Die Familie Sass wohnte in Gelsenkirchen an der Vohwinkelstrasse 10. Lore Price besuchte zunächst die jüdische Volksschule an der Ringstraße 44. Sie bemühte sich dann angesichts des Ausschlusses der Juden aus dem Bildungs- und Ausbildungssystem um eine Erzieherinnen-Ausbildung, die sie jedoch nur in Berlin bei einer jüdischen Einrichtung beginnen konnte, bis dann auch diese Schule geschlossen wurde. Zeitweise arbeitete sie in der Folgezeit, da es keine Alternative gab, als Hausangestellte.

Selma Sass mit dem kleinen BennoSelma Sass mit dem kleinen Benno

Lores Bruder Benno Sass, geboren am 8. Mai 1920 in Gelsenkirchen, konnte ebenfalls nur eine Gärtnerlehre beginnen. Er konnte Ende Oktober 1936 Deutschland rechtzeitig verlassen und ging nach Palästina. Dort lebte Benno Sass bis zu seinem Tod im Jahr 2000.

Lore Sass wurde nach dem Abbruch ihrer Ausbildung zur Arbeit verpflichtet und schließlich nach Gelsenkirchen zurückgeschickt, um mit den Eltern, die bereits in einem so genannten "Judenhaus" an der damaligen Hindenburgstrasse 38 (heute Husemannstrasse) eingewiesen worden waren, von Gelsenkirchen am 27. Januar 1942 in das Ghetto Riga deportiert zu werden. Alfred Sass wurde im Juli 1944 im KZ Kaiserwald bei einer der so genannten "Aktionen" (Selektionen) des SS-Arztes Krebsbach als "nicht arbeitsfähig" eingestuft und in den Wäldern von Riga ermordet. Selma Sass ist im Dezember 1944 im Konzentrationslager Stutthof ermordet worden. Lore Price selbst überlebte verschiedene Stationen im Ghetto Riga und im KZ Kaiserwald und wurde, als die Roten Armee näherrückte, in das KZ Stutthof verschleppt und weiter in das Stutthof-Aussenlager Thorn-Winkenau (AEG).

Mit dem weiteren Vormarsch der sowjetischen Truppen wurden die Häftlinge über die Weichsel gebracht, von wo dann im Durcheinander des untergehenden "Dritten Reichs" Lore Price und ihrem Freund Eduard Fein die Flucht gelang. Mit Eduard Fein, den Lore Sass bald nach der Befreiung heiratete, lebte sie zunächst in Lodz und kehrte später nach Gelsenkirchen zurück, wo sie zwei Kinder zur Welt brachte. Die Familie wanderte schließlich in die USA aus und nahm dort den Namen Price an.

Erinnerungen von Lore Price, geborene Sass

Als geborene Gelsenkirchenerin versuche ich mein Leben vor und während des Krieges zu beschreiben. Mein Bruder und ich haben als Kinder nie etwas von Religionsunterschieden gehört. Allerdings gingen wir in die jüdischen Schule. 1933 kamen die Nazis ans Ruder, und die Situation änderte sich über Nacht. Jüdischen Schülern und Studenten wurde der Besuch von Gymnasien und Universitäten verboten. Meine Eltern versuchten daher, einen Arbeitsplatz für meinen Bruder zu finden. Auf einem Kommunalfriedhof in Düsseldorf fand er Arbeit als Gärtnerlehrling. Nach zwei Jahren verließ mein Bruder illegal Deutschland und ging nach Israel, wo er 2000 verstarb. Wir durften sonst nur für jüdische Geschäfte oder als Haushaltshilfe arbeiten.

Lores Vater Alfred Sass war 1914 bis 1918 als Frontsoldat im 1. WeltkriegLores Vater Alfred Sass war 1914 bis 1918 als Frontsoldat im 1. Weltkrieg

Hitlerjugend, BdM, SA und SS waren die Tonangeber in Deutschland. 1936 war ich 15 Jahre alt. 1939 begann der Krieg gegen Polen und die Internierungen der ehemaligen polnischen Juden. Uns wurde verboten, am Abend auf der Straße zu sein, und später mussten wir umziehen in ein Haus eines jüdischen Besitzers.

Die ersten Opfer aus unserer Familie waren meine Tante und ein Onkel, die zusammen in ein Lager in Lodz kamen und in Warschau umkamen. Mein Vater war 1914 bis 1918 als Frontsoldat im Krieg und war im Glauben, ihm könnte nichts passieren. Die Nazis waren eifrig dabei, KZ-Lager zu bauen. Die Kristallnacht ist noch gut in meiner Erinnerung - mit zerbrochenen Fensterscheiben und ausgeraubten Geschäften. Mein Vater wurde verhaftet und war für eine Woche im Gefängnis. Bei seiner Entlassung war er ein alter Mann.

Meine Chance war, dass ich 1940 in einem jüdischen Kindergartenseminar in Berlin aufgenommen wurde. Aber der Traum war nur von kurzer Zeit. Ende Dezember 1940 wurde die Schule geschlossen. Ich blieb in Berlin und arbeitete dort. Überall fehlte es an Arbeitskräften. Wir Juden bekamen weniger Lohn als die anderen Arbeitskräfte. Dann kam die Verordnung für uns, den Stern an unserer Kleidung zu tragen. Im Dezember 1941 wurde die Evakuierung meiner Eltern angeordnet. Ich musste nach Hause, da ich noch nicht 21 Jahre alt war. Der Transport wurde verschoben, und ich arbeitete bis zum Transport bei Krupp in der Zahnradabteilung, natürlich von den nichtjüdischen Arbeitern getrennt.

Ende Januar 1942 wurden 500 jüdische Menschen aus Gelsenkirchen von der Ausstellungshalle zum Bahnhof gebracht und in einen Zug geladen. Die Waggons wurden abgeschlossen und kamen am 1. Februar 1942 in Riga an. Die SS empfing uns mit Waffen und Hunden. Unsere Koffer sahen wir nie wieder. Es folgte der Marsch ins Ghetto. Nachdem wir gezählt worden waren, sollten wir uns einen Platz zum Schlafen suchen. Meine Eltern und ich teilten uns ein Zimmer mit noch einem Ehepaar. Die Toilette war im Hof - aber ohne Wasser. Es gab einen Ofen, der mit Holz geheizt wurde, aber kein Holz. Am nächsten Morgen ging es zum Appell nach draußen, die Auslese zur Arbeit fing an. Die SS ging durch alle Reihen. Wer zu alt aussah, musste aus der Reihe nach links und die zur Arbeit Bestimmten mussten nach rechts treten. Die Frauen blieben vorerst im Ghetto. Wasser zu holen, war nicht leicht. Die Straßen waren gefroren, eine Wasserstelle einige Straßen entfernt.

In den drei Jahren, die wir im Lager waren, kamen wir an drei verschiedene Orte in Riga - zuerst in das Konzentrationslager in Kaiserwald, dann in ein Extra-Lager bei Wolf und Döring, wo wir auf dem Flugplatz Zement mixten für Fußwege, und in ein Lager von AEG, wo wir Räder für Lastwagen reparierten.

Der Krieg kam näher an Riga heran. Dann kam der Befehl, alle Lager aufzulösen. Viele Häftlinge wurden auf dem Weg erschossen. Der Rest der Häftlinge wurde in Frachter verladen und nach Stutthof bei Danzig gebracht. Wir kamen in drei Baracken, die je für 50 Personen bestimmt waren. Vier Personen mussten in einem Bett schlafen. Schlaf war fast unmöglich. Zum Glück waren wir nur kurze Zeit in Stutthof. Die AEG baute ein Lager für die Gruppe, die dort in Riga gearbeitet hatte, und wir wurden nach Thorn transportiert. Das Lager war ganz neu und die 500, mit denen wir zusammen waren, kamen alle in dieses neue Lager. Wir waren dort von November bis Ende Januar 1945. Dann kam der Krieg immer näher.

Am 26. Januar 1945 erschien der Lager-Sturmbannführer am Arbeitsplatz mit Order für uns, zurück ins Lager zu kommen. Inzwischen schossen die Nazis alle Lampen in den Wachtürmen aus, verbrannten alle Unterlagen. Wir hatten überhaupt keine Papiere und konnten nur unsere Namen nennen. Wir bekamen eine kleine Ration aus Brot, Zucker, Marmelade und ein kleines Stückchen Wurst. Das Ziel war, über die Weichsel-Brücke zu kommen, bevor die gesprengt wurde. Die Nazis wollten möglichst schnell von Thorn über die Weichsel-Brücke bis nach Bromberg kommen. Zum Glück machten wir Halt in einer Papierfabrik, und dann war noch nicht mal mehr Zeit, uns zu zählen, ob auch alle da waren, und wir marschierten weiter, denn die Nazis fürchteten, abgeschnitten zu werden, die Brücke mussten wir erreichen.

Von unserer Gruppe schafften es alle. Wir hatten auch kleine junge Kinder bei uns und ebenfalls Hungerthyphus-Kranke. Aber wir brachten alle bis nach Bromberg. Wir waren endlich an einem Bahnhof. Unsere Wachposten waren müde. Der Sturmbannführer ging zum Telefon, und mein Freund und ich nutzten die Gelegenheit zu entkommen. Am 28. Januar 1945 waren wir frei.

Vorläufiger Ausweis für Eduard und Lore FeinDer vorläufiger Ausweis des Jüdischen Hilfskomite für Eduard und Lore Fein bescheinigt 3 1/2 Jahre Haftzeit in verschiedenen Konzentrationslagern

Nachforschungen, ob irgend jemand wusste, was aus meinen Eltern geworden war, ergaben leider nur, dass meine Eltern nicht bei dem Transport gewesen waren. Später hörte ich dann, dass meine Eltern in Riga ums Leben gekommen waren. Mein Vater war 59 Jahre alt und meine Mutter 53 Jahre. Uns war erlaubt gewesen, bei unserer Ausreise und Evakuierung nach Riga einen Koffer mitzunehmen, den wir nie wieder sahen. Alles, was in dem Zug war, wurde von den Nazis beschlagnahmt. Auch verlor ich weitere Mitglieder meiner Familie. Meines Vaters Bruder, seine Frau und zwei Kinder kamen in Riga ums Leben. Und mein Mann verlor 38 Familienmitglieder während des Krieges.

Quellen:
Fotos Alfred und Selma Sass: Yad Vashem
Ausweis Ehepaar Fein: StA Gelsenkirchen
Lebensgeschichtliche Erinnerungen von Lore Price. Veröffentlichung in: Stefan Goch, "Jüdisches Leben, Verfolgung-Mord-Überleben", S.190-191 ff. Essen 2004.
Vergl. auch : Interview-Code: OH843 PRICE (Lore Sass), The Oral History Collection,
University Of North Texas Libraries. Denton, Texas


Email an Andreas Jordan schreiben Andreas Jordan, Juli 2011. Gelsenzentrum - Verein für regionale Kultur- und Zeitgeschichte Gelsenkirchen

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