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Familie Cohen aus Gelsenkirchen

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Flucht im letzten Moment

Der Kaufmann Wilhelm Friedrich Cohen kam 1919 nach Gelsenkirchen aus seinem Geburtsort Wittmund, wo er am 8. Januar 1888 das Licht der Welt erblickt hatte. Für sich und seine Frau Therese, geboren am 27. Januar 1899 in Gelsenkirchen, die fast genau zehn Jahre jünger als er war, wollte er nach dem Ersten Weltkrieg, den er als deutscher Soldat hatte erleiden müssen, in Gelsenkirchen eine neue Existenz aufbauen.

Die Familie führte das Textilwarengeschäft Falk & Co an der Kreuzstraße, dann eine Großhandlung an der Bahnhofstraße, der Gelsenkirchener Haupteinkaufsstraße. Das Geschäft florierte und die Familie konnte ein Haus an der Schwindstraße in der Nähe des Stadtgartens beziehen. Therese Cohen brachte drei Kinder zur Welt: am 6. Dezember 1920 Viktor, am 19. Juni 1922 Heinz und am 5. Oktober 1924 Rudolf. Die Mutter starb früh am 28. Juni 1927, 28jährig an einer Blutvergiftung nach einem Krankenhausaufenthalt und wurde auf dem jüdischen Friedhof an der Wanner Straße beigesetzt. Wilhelm Cohen heiratete ein Jahr nach dem Tod seiner ersten Frau Gertrud Ida Grünebaum, die am 14. Juni 1896 in Wesel geboren war und bald nach ihrer Geburt mit ihren Eltern nach Witten ins Industriegebiet gekommen war.

Am 18. März 1930 wurde der vierte Sohn der Familie geboren - Klaus Walter. Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, waren die Kinder dreizehn, elf, neun und drei Jahre alt. Die Familie hatte ein gut gehendes Bekleidungsgeschäft auf der Haupteinkaufsstraße, wohnte in einer "besseren Wohngegend" in einem dreistöckigen Haus und beschäftigte drei Dienstmädchen und einen Fahrer. Schon bald nach Beginn des "Dritten Reiches" war das Geschäft ruiniert und Dienstpersonal durfte und konnte nicht mehr beschäftigt werden.

Gauleiter Meyer schützt die jüdische Familie Cohen

Offensichtlich konnte sich die Familie lange nicht entschließen, trotz sich steigernder Diskriminierung, Drangsalierung und Verfolgung Deutschland zu verlassen. Einer der Gründe, warum die Familie Cohen so lange in Gelsenkirchen ausharrte, war wohl, dass man sich relativ sicher fühlte, weil Wilhelm Cohen im Ersten Weltkrieg als Soldat einem hohen Nationalsozialisten das Leben gerettet hatte. Der NSDAP-Gauleiter Dr. Alfred Meyer, der seine politische Karriere in Gelsenkirchen begonnen hatte und der schließlich auch als ständiger Vertreter des Reichsministers für die besetzten Ostgebiete an der "Wannsee-Konferenz" zur Organisierung des Völkermordes an den Juden teilnahm, nahm die Familie offenbar in Schutz.

Die Familie war durchaus religiös und eher konservativ geprägt und in die aber eher liberale jüdische Gemeinde Gelsenkirchens integriert. Die Söhne der Familie wurden religiös erzogen und besuchten die jüdische Schule. So fand 1937 die Bar-Mizwah-Feier für Rudolf Cohen statt, d.h. Rudolf Cohen wurde mit 13 Jahren religionsmündig und war damit verpflichtet, alle Gebote der Thora einzuhalten, er wurde ein "Sohn der Pflicht" (im Hebräischen Bar Miz-wah). Dabei wurde das nun religionsmündige Mitglied der jüdischen Gemeinde am Schabbat nach seinem 13. Geburtstag im Synagogengottesdienst zum ersten Mal zur Thoralesung aufgerufen. Aus diesem Anlass, der auch üblicherweise mit einer Familienfeier verbunden war, erhielt die Familie Cohen vom Vorsitzenden der Ortsgruppe Gelsenkirchen des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten einen Brief und ein Buchgeschenk - eine Veröffentlichung von Frontbriefen jüdischer Soldaten, die selbst für das Jahr 1937 ein stark ausgeprägtes nationales Denken zeigen.

Die Entscheidung zur Flucht

Erst nach dem Pogrom der "Reichskristallnacht" und nach der Erinnerung der Söhne auch Warnungen von Nationalsozialisten fiel die Entscheidung zur Flucht. Wenige Wochen vor dem deutschen Überfall auf Polen im September 1939 und damit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, der es Juden in Deutschland nahezu unmöglich machte, das "Dritte Reich" zu verlassen, überschritt die Familie die deutsche Grenze und nutzte eine der wenigen Fluchtmöglichkeiten — nach Panama.

Wilhelm Cohen hatte bei verschiedenen Botschaften versucht, Visa für die Familie zu bekommen. Nach dem Quotensystem der USA für Einwanderungen hätte die Familie ein bis zwei Jahre auf ein Visum für die USA warten müssen. Schließlich, war nur die Chance geblieben, nach Panama zu entkommen. Um Visa für Panama zu bekommen, musste nachgewiesen werden, dass die Einwanderer sich dort als Farmer niederlassen wollten. Deswegen hatten die beiden ältesten Söhne der Familie, Victor und Heinz, in einem der jüdischen Trainingslager für die Auswanderung in sechs Monaten eine landwirtschaftliche Ausbildung zu machen. Mit den Bescheinigungen über den landwirtschaftlichen Lehrgang konnte die Familie Visa für Panama erhalten.

Bis dahin hatte Wilhelm Cohen, dem nach der "Reichskristallnacht" sein Geschäft und damit auch die Lebensgrundlage der Familie weggenommen worden war, den Lebensunterhalt der Familie mit ambulantem bzw. Hausier-Handel am Gelsenkirchener Stadthafen gesichert, was angesichts der weitgehenden Beschränkungen für Juden nach der familiären Überlieferung wiederum durch den NSDAP-Gauleiter ermöglicht worden war. Mit Hilfe niederländischer Schiffer konnte die Familie sogar einen Teil ihres Geldes und ihrer Wertgegenstände in die Niederlande schmuggeln und vor der Beschlagnahmung durch die Nationalsozialisten retten, ein weiterer Teil des Besitzes der Familie verschwand aber auch bei dieser Aktion.

Am 13. Juli 1939 verließ die Familie Cohen Gelsenkirchen und das nationalsozialistische Deutschland und über Amsterdam auch Europa. In Panama musste die Familie zunächst unter schwierigsten Bedingungen auf einer Farm leben, untergebracht in einer kleinen Holzhütte und kaum mit Lebensmitteln versorgt. Während der älteste Sohn zunächst eine schlecht bezahlte Arbeit in einer Werkstatt bekam, arbeitete Heinz, nun "Henry" auf einer Kaffeeplantage, bis dann der Vater und seine beiden Söhne eine schwere Arbeit beim Bau eines amerikanischen Flughafens bekamen, die allerdings auch besser bezahlt war. Schließlich kamen die Visa für die Familie, für die ein Onkel in Baltimore gebürgt hatte. Am 1. Juli 1940 erreichte die Familie Cohen New York. Die Familie zog nach Baltimore, und die erwachsenen Mitglieder der Familie fanden dort rasch Arbeit.

In der US Army

Victor, Henry und Rudolf wurden Soldaten der US-Armee und kehrten als Befreier nach Europa zurück. Rudolf Cohen gehörte zu den amerikanischen Truppenteilen, die das KZ Dachau befreiten. Victor Cohen nahm u. a. an den schweren Kämpfen in der Eifel in der Endphase des Weltkrieges teil. Wegen ihrer Deutschkenntnisse wurden die drei Mitglieder der Cohen-Familie als Dolmetscher von der amerikanischen Armee eingesetzt und an den Verhören deutscher Gefangener beteiligt. Henry Cohen war zeitweise amerikanischer Staatsangestellter in Nürnberg, um dort bei den Kriegsverbrecherprozessen Verhöre durchzuführen. Er war nach Europa zurückgekehrt, weil er hier seine spätere Frau, die auch als Dolmetscherin arbeitete, kennen gelernt hatte. Später wechselte er vom Kriegsverbrechertribunal in Nürnberg zum Military Intelligence Service nach Osterreich, wo er heiratete und noch fünf Jahre arbeitete. In den USA machten die vier Söhne in der Wirtschaft Karriere. Die Eltern Wilhelm und Gertrud Cohen starben in den 1960er Jahren in Baltimore.

Die Familie Cohen überlebte die Verfolgung, weil es Ihnen gerade noch rechtzeitig gelang, Deutschland zu verlassen. Die Erinnerungen dieser Familien wurden aus Beiträgen der nach ihrer Flucht aus Deutschland schließlich in den USA überlebenden Söhne zusammengetragen.

Die Berichte aus der Familie Cohen

Erinnerungen des bei seiner Flucht aus Deutschland neunjährigen Walter K. Cohen

Insgesamt erinnere ich mich nur verschwommen an Hass um uns herum und eine hoffnungslose Isolation überall. Wenn wir zur jüdischen Schule gingen oder einige Straßen weiter zum Sportplatz, wurden wir verspottet. Bis heute erinnere ich mich an einen Vorfall, als ich mit meinen Eltern über einen staubigen Feldweg ging.

Unglücklicherweise musste ich Wasser lassen. Meine Mutter sagte mir, dass ich mich am Rande des Weges erleichtern sollte, sicherlich würde dies niemanden stören. Sie hatte Unrecht. Ein wütend schreiender Landwirt kam auf einmal von irgendwoher, drückte mein Gesicht auf die Erde und zwang mich den "jüdischen Urin" aufzuwischen bevor er in der Erde versickerte. Die ganze Zeit schrie er mich dabei an. Ich bin sicher, dies war nicht der schlimmste antisemitische Ausbruch, den ich in meinen neun Jahren in Deutschland erlebte — aber aus irgendwelchen Gründen ist es der, an den ich mich besonders erinnere.

Überlieferung Viktor Cohens an seine Enkelinnen und Enkel

Dies ist meine Lebensgeschichte, die ich meinen Enkelinnen und Enkeln erzähle. Ich bin ihr Großvater, Viktor Cohen - mein hebräischer Name ist Hvigdor ben shetiel Hacohen. Euer Urgroßvater war Wilhelm Friedrich Cohen in Deutschland. In den USA war sein Name William Frederick Cohen - hebräischer Name shetiel ben Hvigdor Hacohen. Er wurde am 8. Januar 1888 in Wittmund, in einem kleinen Städtchen in Nordwestdeutschland mit etwa 3.000 Einwohnern geboren. Der zentrale Wirtschaftszweig war in Wittmund die Viehwirtschaft, und die Familie Cohen war an entsprechenden Unternehmungen beteiligt. Immer wenn ich als Junge Wittmund besuchte, ging ich auch dort zur Synagoge, aber als ich dann 1990 nach Wittmund kam, existierte dort keine Synagoge mehr; die Nazis hatten sie dem Erdboden gleichgemacht.

Als euer Großvater die Schule beendet hatte, verließ er Wittmund und kam schließlich nach Gelsenkirchen in Westdeutschland, nahe der Stadt Essen. Hier heiratete er eure Großmutter, Therese Fröhlich, im Januar 1920. Er kaufte ein großes Haus an der Schwindstraße 4. Dort lebten später meine Brüder Henri, Rudy und später Walter und ich. Das Haus hatte drei Etagen und einen Dachboden mit drei Räumen. Dort schlief das Dienstmädchen. Wir wohnten in der ersten und zweiten Etage. Die Schlafzimmer waren alle in der zweiten Etage. Ich habe Bilder von diesem Haus, und es steht immer noch. Wir besuchten es 1990 und noch einmal im Jahr 2000, als wir von der Stadt Gelsenkirchen eingeladen worden waren.

Kindheit in Gelsenkirchen

Am 6. Dezember 1920 wurde ich in einem Krankenhaus in Essen geboren. Unglücklicherweise starb meine Mutter, eure Großmutter, im Juni 1927 im Evangelischen Krankenhaus in Gelsenkirchen. Ich war erst sechs Jahre alt. Eure Onkel, mein Bruder Henri war vier, mein Bruder Rudy war zwei Jahre alt. Wir haben nur wenig Erinnerung an eure Großmutter. Sie führte den Haushalt in der Schwindstraße mit drei Dienstmädchen - einer Köchin, einer Putzfrau und einem Kindermädchen, die auf uns Jungs aufpasste. Wir hatten eine Garage und ein großes Auto mit einem Chauffeur. So war es in den Jahren 1920 bis 1927. Ein Jahr nachdem eure Großmutter gestorben war, heiratete euer Großvater, der drei kleine Söhne hatte, Gertrud Grünebaum, die uns ab dann großzog. 1930 wurde unser Bruder Walter geboren. Als ich sechs Jahre alt war, ging ich zur jüdischen Volksschule. Nachdem ich dort vier Jahre absolviert hatte, ging ich zum Real-Gymnasium, das eine Mischung aus Highschool und College ist. Einen Schulabschluss erreichte man mit der 12. Klasse.

Im Jahr 1933 kamen Hitler und die Nazis an die Macht. In meiner Schulklasse waren zwölf jüdische Jungen. Alle Lehrer wurden Nazis. Im Jahr 1934, als ich in der Untertertia war, mussten alle jüdischen Schüler ganz hinten im Klassenraum sitzen und durften sich nicht am Unterricht beteiligen. Im Laufe des Jahres wurden die jüdischen Jungen misshandelt. Ein Junge wurde grundlos sehr schwer in den Magen geschlagen. Nach dem Jahr 1934 wurden alle jüdischen Schüler aus der Schule entlassen. Das Real-Gymnasium war eine reine Jungenschule.

Ich ging nun nicht mehr zur Schule und musste etwas zu tun finden. So nahm mich mein Vater, euer Großvater, mit zu einem Freund, der ein Textilgeschäft an der Bahnhofstraße hatte. Dieser Freund hatte den Vornamen Fritz. Wir gingen in das Geschäft, und euer Großvater sagte zu seinem Freund: "Fritz, hier habe ich für dich einen neuen Lehrling." Er fragte gar nicht danach, ob dort eine Stelle für mich wäre, sondern schob mich gleich hinter den Tresen. Ich begann dort zu arbeiten. Sechs Monate später wurde Fritz gezwungen, sein Geschäft zu verkaufen, und ich verlor meine Arbeit. Meine nächste Arbeitsstelle war ein Geschäft außerhalb Gelsenkirchens, in Hombruch, nahe Dortmund. Ich lebte bei der Familie, der das Geschäft gehörte. Ich arbeitete dort zweieinhalb Jahre. Ich erinnere mich immer noch an die Leute, für die ich arbeitete - eine jüdische Familie. Die dachten gar nicht daran, dass sie nicht in Deutschland bleiben könnten, obwohl um sie herum der Antisemitismus zunahm.

Während ich in Dortmund arbeitete, machte euer Großvater in Gelsenkirchen etwas Unglaubliches: Er hatte in Gelsenkirchen seit vielen Jahren ein Geschäft für Damen- und Herrenbekleidung sowie Unterwäsche. Als die Nazis an die Macht kamen, stellten sie eine Nazi-Wache vor das Geschäft und ließen keine Kunden mehr rein. Weil mein Vater aber den Lebensunterhalt für seine Familie liefern musste, startete er etwas Neues. Dazu muss man wissen, dass die Hauptindustrie Gelsenkirchens der Steinkohlenbergbau war. Ein bedeutender Teil der geförderten Kohle wurde in die umliegenden Länder wie Holland, Belgien, Frankreich usw. exportiert. Für den Abtransport der Kohle gab es in Gelsenkirchen und Umgebung zahlreiche Kanäle. Die Kohle wurde auf Frachtkähne geladen und so ins Ausland geliefert. Jeder der Frachtkähne gehörte einer Familie, die auch auf diesen Kähnen lebte. Viele der Familien stammten aus den Niederlanden. Euer Großvater nahm Kleidung, die er normalerweise in seinem Geschäft verkaufte, und ging dann zu den Leuten auf den Frachtkähnen. Nach einer Weile wurde er sehr bekannt und fand zahlreiche Kunden und Freunde. Er wagte es bald, einen kleinen Lastwagen zu kaufen und stellte einen Helfer ein. Das Geschäft florierte.

Als dann die Nazis eine neue Regelung erließen, die Juden verpflichtete, alle ihre Wertsachen, Schmuck und Silber abzuliefern, war euer Großvater nicht bereit, auch nur irgendetwas abzuliefern. So packten euer Onkel Henri und sein Vater alle Wertgegenstände in Koffer und brachten sie zu einer befreundeten holländischen Familie. Die Holländer legten die Koffer in ihre Kähne unter die Kohle, so dass niemand sie entdecken konnte. Ein weiterer Mann von einem Kahn kam nachts zu unserem Haus, und dort wurde aufgerolltes Geld in den Fahrradreifen versteckt. Das Vermögen der Familie sollte so nach Holland gerettet und dort aufbewahrt werden, und man wollte auf den Tag warten, an dem man wieder darangehen konnte. Wenn die Nazis herausgefunden hätten, was da passierte, hätten sie alle Beteiligten umgebracht.

Nun versuchte euer Großvater, auch die Familie aus Deutschland herauszubekommen. In dieser Zeit war es nicht so schwer, aus Deutschland herauszukommen, aber es war äußerst schwierig, ein Land zu finden, dass zu einer Aufnahme bereit war. Wir erhielten eine Quoten-Nummer, um in die USA zu reisen, aber diese Nummer war zu hoch. Wir hätten schließlich etwa zwei Jahre warten müssen, bis wir unsere Einreisegenehmigung erhalten hätten. Euer Großvater ging von Botschaft zu Botschaft und versuchte, ein Land zu finden, in das wir einreisen konnten. Schließlich kam er zu der Botschaft von Panama. Dort wurde ihm gesagt, dass nur solche Menschen eine Erlaubnis zur Einreise nach Panama erhielten, die Landwirte seien. Aus diesem Grunde brachte euer Großvater mich und meinen Bruder Henri in ein jüdisches Trainingscamp in Groß-Bresen, das nahe an der polnischen Grenze, einer sehr kalten Gegend im Herbst und Winter, lag. Die Arbeit dort war sehr hart, wir pflanzten Kartoffeln, molken Kühe mit der Hand, reinigten Ställe, stapelten Heu und machten alles, was getan werden musste. Wir ritten auch auf Pferden. Ich kann immer noch Kühe melken und brauche dazu keine Maschine.

Der 9. November 1938

Wir waren am 9. November 1938 während der "Kristallnacht" in Groß-Bresen. Die Nazis kamen und nahmen alle Männer über 18 Jahre mit in ein Konzentrationslager. Mein 18. Geburtstag war einen Monat später, im Dezember, so dass ich als ältester Mann auf dem Bauernhof zurückgelassen wurde, während alle älteren Kameraden mitgenommen wurden. In dieser Nacht wurden die männlichen Bewohner des Bauernhofes in den Kuhstall eingesperrt, die weiblichen in den Pferdestall. In der extrem kalten Nacht mussten wir uns an den Tieren wärmen. Am nächsten Tag ließ man uns wieder frei, und die Nazis verließen den Bauernhof. Die "Kristallnacht" fand überall in Deutschland statt. Alle Synagogen wurden niedergebrannt. Die auf dem Bauernhof Zurückgelassenen machten weiter ihre Arbeit. Wir mussten um 3.00 Uhr in der Nacht aufstehen, um die Kühe zu melken. Danach hatten wir die Ställe zu reinigen, was eine sehr dreckige Arbeit war. Danach konnten wir duschen und mussten dann über den Hof in ein anderes Gebäude zum Frühstück gehen. Es war nur zwei Minuten Fußweg. Von einem Gebäude zum anderen froren unsere nassen Haare - so kalt war es. Nachdem wir sechs Monate in Groß-Bresen gewesen waren, war unser Landwirtschaftskurs beendet, und wir erhielten ein Zeugnis, das uns nun als Landwirte legitimierte. Euer Großvater nahm die beiden Zeugnisse, ging zur Botschaft Panamas, und dort wurden ihm Visa gegeben, so dass wir nach Panama einreisen durften.

Zunächst möchte ich aber noch etwas schildern, was zuvor passiert war. Um in die Kanalhäfen zu den Frachtkähnen und den niederländischen Schiffsleuten zu kommen, benötigte euer Großvater für jeden Hafen Passierscheine. Normalerweise erlaubten die Nazis niemandem, in die Kanalhäfen zu gehen. Aber euer Großvater war während des Ersten Weltkrieges in der deutschen Armee gewesen und hatte als Gefreiter in Frankreich gekämpft. In seiner Kompanie war ein Offizier, dessen Leben er während der Kämpfe rettete. Dieser Mann wurde später Gauleiter der Nationalsozialisten in der Region, in der wir lebten. Ein Gauleiter ist der oberste Nazi in einer Region. Dieser Mann und euer Großvater waren gute Freunde. Er war dankbar für seine Rettung. So hatte euer Großvater keine Schwierigkeiten, Genehmigungen zu bekommen, die Häfen und seine Kunden zu besuchen. Aber da war noch mehr. In der "Reichskristallnacht", als die jüdischen Männer überall in Deutschland in Konzentrationslager gebracht wurden, wurden die Männer in Gelsenkirchen nur in das örtliche Gefängnis gebracht und nicht in ein Konzentrationslager. Sie waren nur für eine Woche im Gefängnis, dann wurden sie freigelassen. Der einzige Grund dafür, den ich mir denken kann, war, dass der Gauleiter und euer Großvater Freunde waren, und so kam keiner der Männer aus Gelsenkirchen im Zusammenhang mit der "Kristallnacht" in ein Konzentrationslager.

Tag der Abreise

Ich erinnere mich nicht genau, wann das Geschäft eures Großvaters endgültig geschlossen worden ist. Dies musste ein paar Jahre früher geschehen sein, und auch das Haus, in dem sich das Geschäft befand, wurde verkauft. Wir hatten aber schließlich unsere Visa für Panama bekommen. Es war Zeit, Deutschland zu verlassen. So wurde eine Firma beauftragt, wichtige Teile unseres Hausrats in große Holzkisten zu verpacken und für die Emigration vorzubereiten.

An dem Tag, an dem unsere Sachen zusammengepackt werden sollten, kam eine Gruppe von SS-Leuten in unser Haus und durchsuchte es und beobachtete alles, was passierte. Alles, was in die Kisten verpackt wurde, wurde überprüft. Ich war bei dieser Aktion dabei, und sie machte mir sehr viel Angst. Andere SS-Leute gingen mit meinem Vater durch das ganze Haus und suchten Wertgegenstände. Die SS-Leute gingen durch das ganze Haus, klopften an die Wände, um Hohlräume zu finden, wo etwas versteckt sein könnte. Natürlich konnten sie nichts finden, weil alles schon vor einiger Zeit nach Holland gebracht worden war. Dieser Tag, an dem wir zusammenpackten, war bis zu diesem Zeitpunkt der schlimmste Tag in meinem Leben. Ich war noch nie so in Angst versetzt worden. Ich überwachte das Packen der Kisten, die groß genug waren, um unsere Betten, Bettfedern, Matratzen für sechs Personen, Geschirr, Besteck, unsere Kleidung, Schuhe und was wir sonst noch brauchten, aufzunehmen. Wir waren mittlerweile sechs, euer Onkel Walter war geboren worden, nachdem euer Großvater erneut geheiratet hatte, nachdem eure Großmutter 1927 gestorben war.

Ihr könnte euch nicht vorstellen, wie rücksichtslos die Nazis waren. Alle trugen Pistolen. Sie nahmen Rücksicht auf gar nichts und konnten jemanden verletzen ohne Grund. Aber letztlich überstanden wir auch diesen Tag und waren bereit, Deutschland zu verlassen. Als der Tag der Abreise kam, im Juli 1939, nahmen wir einen Zug nach Holland. Euer Großvater hatte für uns eine Passage auf einem Passagierschiff, 1. Klasse, gebucht. Uns war nur erlaubt, zehn Reichsmark mitzunehmen, nicht mehr. Während der Bahnfahrt stellte euer Großvater fest, dass er zuviel Geld in seiner Tasche hatte. Weil es gegen das Gesetz war, gab er das Geld jemand anderem, um es loszuwerden.

Euer Großvater hatte viele Brüder und Schwestern. Eine der Schwestern war verheiratet mit Jakob Mannfeld. Sie hatten einen Sohn mit Namen Kurt. Sie lebten in Hilversum in Holland. Sie waren informiert worden, wann wir zu der holländischen Grenze kommen würden. So waren Kurt und sein Vater auch an der Grenze als wir dort ankamen. Aus irgendwelchen Gründen waren dann die Papiere, die uns die Einreise nach Holland erlauben sollten, nicht in Ordnung, und so konnten wir zunächst nicht in das Land einreisen. Andererseits konnten wir aber auch nicht zurück nach Deutschland, wo wir alle getötet worden wären.

Kurt nahm unsere Papiere und ging damit in verschiedene Büros, während wir an der Grenze warteten. Er kehrte bald zurück, und was immer falsch gewesen war, war nun bereinigt, und wir konnten nach Holland einreisen. Wir fühlten uns alle sehr erleichtert. Dies geschah alles im Juli 1939, lange bevor Hitler Holland, das zu dieser Zeit ein unabhängiger Staat war, überfiel. Wir blieben eine Woche in Holland bis zum Abfahrtstermin unseres Schiffes. In dieser Woche ging euer Großvater zu seinen holländischen Freunden, die unsere Wertsachen und unser Geld hatten. Wir erhielten alles, was aus Deutschland herausgebracht worden war. Diese Leute waren sehr ehrenwert und freundlich, und mit ihrer Hilfe hatten wir nun etwas Geld und Wertsachen. Als die Zeit kam, auf unser Schiff zu gehen, verabschiedeten wir uns von unseren Verwandten, und dies war das letzte Mal, dass wir sie sahen. Sie wurden von den Nazis ermordet, nachdem sie Holland besetzt hatten. Cousin Kurt war aber kurz nach unserem Aufenthalt in Holland nach Spanien gegangen und arbeitete und heiratete dort. Er hat eine große Familie.

Ankunft in Panama

Die Schiffspassage dauerte drei Wochen, und auf dem Weg besichtigten wir Kolumbien und Venezuela. Während wir auf dem Atlantik waren, hörten wir, dass das Schwesternschiff unseres Schiffes von einem deutschen U-Boot auf dem Atlantik versenkt worden war. Unser Schiff erreichte aber unbehelligt Panama. In Panama war es uns nicht erlaubt, in der Stadt zu leben, weil wir ja als Landwirte galten, und so mussten wir einer Farm leben. So erhielt euer Großvater irgendwie ein Haus — wenn man es denn Haus nennen kann. Es war ein Holzhaus, sehr groß mit Unterteilung für einige Räume. Es war auf Holzpfählen errichtet worden und Stufen gingen nach oben ins Haus. Es hatte einige Öffnungen für Fenster, aber keine Fenster oder Glas, einfach nur Löcher in einer hölzernen Wand. Auch gab es keine Elektrizität. Der Grund dafür, dass das Haus auf Pfählen errichtet worden war, dass so verhindert werden sollte, dass Tiere ins Haus kamen. Wir stellten unsere Betten dort auf und mussten unter Moskitonetzen schlafen.

Wir hatten keinen Herd zum Kochen, und so sammelten wir einige Steine und legten ein Gitter darüber. So hatten wir ein Feuer, auf dem wir unsere Mahlzeiten kochen konnten - auf dem Boden außerhalb des Hauses. Hinter dem Haus war ein großer Mangobaum, und so kletterten wir auf den Baum und pflückten einige Mangos. Weil wir vorher noch nie Mangos gegessen hatten, muss man sich daran gewöhnen, weil sie zunächst einen seltsamen Geschmack haben. Der Baum war voller Ameisen, die nun auch zu uns kamen. Nicht weit von unserer Holzhütte entfernt gab es einen Lebensmittelladen. Dort kauften wir Reis und Zucker, weil wir meist nur Reis aßen. Ein Pfund Zucker bestand hier aus einem 3/4 Pfund Zucker und 1/4 Pfund Ameisen. Diese Ameisen waren in allem. Eure Urgroßmutter kochte den Reis auf dem Feuer und schnitt dann Mangos in den Reis. Das war es, was wir aßen. In diesen Tagen war das Einzige, was zählte, dass wir lebten und dass wir aus Deutschland herausgekommen waren. Dies ist der Grund, warum ihr nun hier lebt und eine große Familie habt. Wir kamen in der letzten Minute aus Deutschland heraus, und für mich ist es immer noch erstaunlich, dass wir es geschafft haben — wirklich erstaunlich.

Es dauerte einige Tage bis wir unsere Kisten ausgepackt hatten, die uns von einem Lastwagen gebracht worden waren. Wir bauten die Betten auf und brachten darüber Moskitonetze an. Dort gab es Millionen von fliegenden Tieren in der Luft. Dies war der einzige Weg, schlafen zu können. Damals war ich 19 Jahre alt, und ich musste einen Arbeitsplatz finden, um etwas Geld zu verdienen. Wir hatten nicht mehr sehr viel. Auch hier war euer Urgroßvater ein sehr einfallsreicher Mann. Irgendwie fand er eine Schmiede, die einen Vormann hatte, der aus Österreich stammte und deutsch sprach. Wir konnten natürlich nicht spanisch sprechen, die Umgangssprache in Panama. Ich bekam aber den Job in der Schmiede, weil der Vorarbeiter mir seine Anweisungen in Deutsch geben konnte. Ich bekam einen Wochenlohn von drei Dollar, und davon hatte ich noch 50 Centaros zu bezahlen, um zu der Arbeitsstelle zu kommen. In Panama hatten sie diese kleinen Busse, die Chivas genannt wurden und etwa 15 Personen mitnehmen konnten. Für eine Fahrt musste man fünf Centaros bezahlen. Natürlich war dies alles 1939. In jenen Tagen waren viele Dinge billiger als heute.

In der Schmiede arbeitete ich drei Monate lang. In der Mittagspause saß ich mit den anderen Arbeitern, die alle Panamesen waren, und hörte ihnen zu, so dass ich ein wenig spanisch lernte. Nach diesen drei Monaten bekam ich eine neue Arbeitsstelle in einer Fabrik. Dazu muss ich noch einmal zurückgehen: Als wir aus Groß-Bresen zurückkamen und noch in Deutschland waren, hatte ich schon einmal in Dortmund in einer Fabrik gearbeitet und gelernt, mit Maschinen umzugehen. Ich war dort nur kurze Zeit, bis wir Deutschland verlassen konnten, aber ich hatte ein wenig Erfahrung in der Fabrikarbeit gewonnen.

Die Werkstatt, in der ich nun arbeitete, gehörte einem Mann namens Alvarado. Dies war noch im Jahr 1939. Herr Alvarado besaß einen Ford, Modell T. Im Jahr 1939 war dieses Auto noch nicht sehr alt, und er lehrte mich, dieses Auto zu fahren in den Straßen von Panama City. Eines Tages hatte ich mit dem Auto einen Unfall, ich hatte einem Mädchen nachgeschaut, anstatt darauf zu achten, wohin ich fuhr. Eines Tages nahm mich Herr Alvarado mit zu einem Markt und kaufte mir zwei große grüne Dinger, diese waren etwa achtzehn Inch lang und hatten einen Umfang von zehn Inch, ich dankte ihm und nahm sie mit nach Hause, dort legte ich sie zunächst beiseite. Nach etwa zwei Wochen begannen sie, weich zu werden und zu tropfen. Ich wusste nicht, dass dies Wassermelonen waren und dass wir sie hätten essen können, sie waren matschig geworden und wir mussten sie wegwerfen. Auch hatten wir keine Kühlung in unserem Haus. Für Herrn Alvarado arbeitete ich ungefähr acht Monate.

Nach ungefähr drei Monaten machte er mich zum Vorarbeiter in seiner Werkstatt, ich war ganz gut bei dieser Arbeit. Einer der Kollegen in der Werkstatt war ein Schweißer. Als eines Tages Herr Alvarado nicht in der Werkstatt war, entstand beim Schweißen ein Feuer. Wir versuchten, das Feuer zu löschen, aber ohne Erfolg, so mussten wir die Feuerwehr rufen, die das Feuer dann löschte. Der Chef der Feuerwehr fragte, wer in der Werkstatt verantwortlich sei, und da der Chef nicht da war, musste ich mich melden. Zu dieser Zeit konnte ich noch wenig spanisch. Der Feuerwehrmann fragte mich alle möglichen Dinge, und ich tat mein Bestes, mit meinem wenigen Spanisch die Fragen zu beantworten.

Reise in die USA

Schließlich kam der Tag als unsere Quotennummer zur Einreise in die USA erreicht wurde, und wir waren nun berechtigt, in die Vereinigten Staaten zu kommen. Weil ich meine Arbeitsstelle in Panama mochte und für die damalige Zeit gutes Geld verdiente, wollte ich in Panama bleiben, aber euer Urgroßvater ordnete an, dass wir alle zusammen gehen sollten. Wir packten wieder alle unsere Habe in die großen Kisten, die wir aufbewahrt hatten.

Wir fuhren mit dem Zug von Panama City nach Baiboa und bestiegen dort das Schiff, um in die Vereinigten Staaten zu reisen. Euer Urgroßvater war schon einen Tag früher mit einem anderen Schiff abgereist. Auf unserer Fahrt kamen wir an Cape Hatteras vorbei, wo die See sehr rauh war und wir alle seekrank wurden. Das Schiff war nicht sehr groß und ich saß auf dem höchsten Deck in der Mitte des Schiffes und die Wellen kamen von beiden Seiten. Ich war vollständig durchnässt, und ich musste immer wieder zur Reling laufen, um mich zu übergeben. Wir alle waren sehr seekrank. Ich denke, das war die schlimmste Seereise, die ich jemals erlebt habe.

Wir kamen am 1. Juli 1940 in New York an, und damit begann unser Leben in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Schwester eurer Urgroßmutter, Ella Klein, und ihr Ehemann Max sowie ihre beiden Söhne Kurt und Walter waren schon in New York. Eine Woche lebten wir bei ihnen. Während wir in New York waren, gingen wir zu der Weltausstellung, die in dieser Zeit, 1940, stattfand. Es war ein phantastisches Erlebnis, die meisten Staaten der Welt hatten dort Ausstellungen.

Nach einer Woche gingen wir nach Baltimore, wir gingen dorthin, weil dort eine Schwester eures Urgroßvaters mit ihrem Ehemann, Erice und Jan Morgenroth, und ihr Sohn Hans lebten. Euer Urgroßvater hatte entschieden, dass er dort leben wollte, wo er Familie hatte und das war Baltimore. Er selbst fand eine Arbeitsstelle in einer Hutfabrik, wo Damenhüte hergestellt wurden. Er arbeitete dort für einige Jahre, bis er ein eigenes Geschäft für Damenhüte auf der Baltimore Street eröffnete. Er betrieb diesen Laden bis er um 1960 in den Ruhestand ging.

Ich bekam eine Arbeitsstelle bei der Universal Maschine Co., die Jo Shapiro gehörte. Ich arbeitete drei Monate mit einem Werkzeugmacher zusammen, der auch deutsch sprach. Ich konnte noch kein englisch, aber ich lernte es dort. Ich verdiente 30 Cent in der Stunde, das war in der damaligen Zeit wenig Geld. Nach drei Monaten sah ich eine Anzeige in der Zeitung, mit der ein Maschinist für die Bürstenmaschinenfabrik Fischer gesucht wurde. Ich bewarb mich um die Arbeitsstelle und bekam sie. Sie zahlten 65 Cent für die Stunde. Diese Firma produzierte Maschinen zur Herstellung von Bürsten aller Art, von der Zahnbürste bis zum Kehrbesen. Mit der Arbeit für Herrn Fischer begann ich an einem Montagmorgen. Ich arbeitete gerade an einer Maschine, als er vorbeikam und mich beobachtete. Nach ein paar Minuten fragte er mich, wie viel sie mir bezahlen würden. Ich sagte ihm, dass ich 65 Cent in der Stunde bekäme, er meinte, das sei nicht genug, und sie würden mir 75 Cent in der Stunde geben. So bekam ich eine Gehaltserhöhung, bevor ich eigentlich angefangen hatte zu arbeiten. Das war eine sehr gute Bezahlung im Jahr 1940.

Die USA im Krieg

In der Fabrik für Bürstenmaschinen arbeitete ich ungefähr drei Jahre. Im Jahr 1941, als die Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg eintraten, begann die Firma für die Verteidigung zu arbeiten, statt weiter Bürstenmaschinen herzustellen. Jede Maschinenfabrik musste nun für die Verteidigung arbeiten, weil das Land beim Beginn des Krieges für diesen nicht vorbereitet war. Anfangs arbeiteten wir nur in einer Tagesschicht, bald war dies nicht genug, und es musste auch eine Nachtschicht eingerichtet werden. Ich war der Vorarbeiter der Nachtschicht. Weil wir eine kriegswichtige Industrie waren, erhielt ich eine Zurückstellung von einer Einberufung. Als aber meine Brüder Rudi und Henry eingezogen wurden, entschied ich, dass ich nicht weiter zurückgestellt werden wollte, sondern auch in die Armee gehen wollte, ich sagte meinem Chef, dass ich keine weitere Rückstellung mehr wollte und wurde eingezogen.

Am 6. Dezember 1941, dem Pearl Harbor Day, hatte ich meinen 21. Geburtstag. Am 7. Dezember 1941, wir lebten in der Newington Avenue, hatten wir die Feier für meinen 21. Geburtstag. Ich hatte alle Freunde eingeladen, wir spielten Ping-Pong und andere Spiele. Am Nachmittag hielt Präsident Roosevelt eine Radioansprache und verkündete, dass Pearl Harbor von den Japanern bombardiert worden war und dass wir nun auch im Kriegszustand mit den Japanern waren. Am folgenden Tag, am Montag, gingen Frank Idestone, mein bester Freund, und ich in die Stadt zum Postbüro, wo wir uns in die Listen zur freiwilligen Meldung in die Armee eintrugen. Wir füllten alle notwendigen Papiere aus. Wir warteten nun, dass sich die Regierung melden würde und uns Anweisung geben würde, was wir tun sollten, aber nichts passierte. Sie riefen uns nicht oder nahmen Notiz von uns. Der einzige Grund, den wir uns dafür denken konnten, war, dass wir noch nicht endgültig US-Bürger waren. Während dieser ganzen Zeit hatte euer Urgroßvater sein Hutgeschäft an der US-Baltimore-Street.

Im August 1944 wurde ich zur Armee eingezogen. Ich wurde zum Camp Blanding in Florida zur Grundausbildung geschickt. Euer Onkel Rudi verließ gerade Camp Blanding, als ich dort ankam. Er hatte seine Grundausbildung absolviert und ging in Urlaub nach Hause, bevor er nach Übersee verschifft werden sollte. Auch euer Onkel Henry war in Camp Blanding, er hatte ungefähr die Hälfte der Grundausbildung hinter sich, als ich dort ankam. Ungefähr acht Wochen waren Henry und ich dort zusammen. Nachdem Onkel Henry sein Training beendet hatte, ging auch er auf Urlaub nach Hause und dann nach Übersee.

Die Grundausbildung für die Infanterie war sehr strapaziös, wir mussten rennen und springen, Hindernisläufe machen, exerzieren und unter Maschinengewehrfeuer über den Boden robben, wir lernten, Gewehre, Pistolen und Maschinengewehre sowie Mörser auseinander zunehmen und wieder zusammenzusetzen und wir lernten, mit diesen Waffen zu schießen. Am Schluss hatten wir einen 30 Meilen Marsch mit vollem Gepäck, Stahlhelm, Gewehr und Gasmaske zu absolvieren. In der Nacht mussten wir zwei Stunden Wache stehen. Einmal während einer Wache kam ein wilder Eber zu mir, und da wir keine Munition hatten, verscheuchte ich ihn mit dem Gewehr. Wir mussten alles dies über uns ergehen lassen, weil wir ja in einem Krieg kämpfen sollten. Nach siebzehn Wochen war die Grundausbildung zu Ende. Ich ging zurück zu eurer Großmutter für einen 30 Tage Urlaub, danach wurde ich nach Europa gebracht.

Als Soldat zurück nach Europa

Wir fuhren mit der Queen Marie nach Schottland - ohne eine Eskorte zum Schutz, weil die U-Boote mit diesem sehr schnellen Schiff nicht mithalten konnten. Wir brauchten nur fünf Tage von New York nach Schottland, obwohl das Schiff in einem Zickzackkurs über den Atlantik fuhr. Auf dem Schiff waren 20.000 Soldaten, so dass wir in Schichten essen und schlafen mussten. In der einen Nacht schliefen wir in einer Koje, in der nächsten Nacht auf dem Deck, das Schiff war sehr überfüllt. Im Unterschied zu anderen Leuten wurde ich nicht seekrank.

In Schottland verließen wir das Schiff und fuhren mit dem Zug weiter. Dieser Zug brachte uns durch Schottland und England in den Süden der britischen Insel nach Southampton. Wir verließen den Zug und wurden in ein Truppentransportschiff verladen, das uns über den Kanal bringen sollte. Das Schiff verließ Southampton und bewegte sich in Richtung Frankreich. Als wir aber in der Mitte des Kanals waren, stoppte das Schiff. Wir blieben drei Tage und drei Nächte in der Mitte des Kanals, schnell fehlte es an allem, und das Schiff war sehr überfüllt, alle fühlten sich grässlich. Nach drei Tagen brachten sie uns schließlich nach Le Havre in Frankreich. Wir stiegen vom Schiff um in Lastwagen, und es regnete immer noch sehr stark. Man versprach uns, dass wir an diesem Tag eine warme Mahlzeit bekommen sollten, wir hatten schließlich schon seit einer langen Zeit keine ordentliche Mahlzeit mehr bekommen. Aber wir waren ja auch in der Armee.

Die Lastwagen brachten uns in das französische Inland zu einem großen Feld, das nichts anderes war als ein großer See aus Schlamm. Es regnete immer noch sehr stark. Hier hatten wir nun unsere Zelte aufzubauen, auf diesem Feld blieben wir für einige Tage und erhielten immer noch keine heiße Mahlzeit. Was wir in der Zwischenzeit aßen, war das Standardessen der Armee, entweder "C"-Rationen, die aus Fleisch und Gemüse in der Dose bestanden, oder "K"-Rationen, die aus einer Packung verschiedener Fleischsorten und Gemüse, Kräckern, Süßigkeiten, Riegeln und Nachtisch bestanden. Die "K"- Rationen waren ganz gut. Schließlich brachte man uns zu einer alten französischen Militärbaracke. Wir schliefen auf dem Steinboden, weil dort keinerlei Einrichtungen waren. Hier blieben wir ungefähr drei Wochen, schließlich brachte man uns zur Frontlinie. Wir ersetzten dort Tote und Verwundete. Die meisten meiner Kameraden in unserer Gruppe waren mit mir bei der Grundausbildung in Camp Blanding in Florida gewesen. Wir bildeten nun die "D"-Kompanie des 13. Regiments der 8. Infanteriedivision. In der Nacht kamen wir an die Front. Ich werde diese Nacht nie vergessen. Ich war derjenige, der die Maschinengewehrmunition zu tragen hatte. Ich trug einen Rucksack auf dem Rücken und einen Stahlhelm auf dem Kopf und dazu ein Gewehr, ein Bajonett, eine Gasmaske, vier Bänder mit Gewehrmunition und drei Stahlkisten mit Maschinengewehrmunition. Das war sehr schwer, es müssen wohl 200 Pfund Ausrüstung gewesen sein.

Von der Eifel bis zur Elbe

Die Frontlinie verlief in dem Wald bei Hürtgen. Unser Zug ging Hand in Hand durch den Wald, so dass wir zusammenblieben. Es war so dunkel, dass wir nichts sehen konnten, nicht einmal den Mann vor uns. Als wir auf einen Berg kamen, stolperte ich über einen Baumstumpf und fiel, die ganze Ausrüstung lag auf dem Boden, und ich verlor den Kontakt zu dem Rest der Gruppe. Ich versuchte aufzustehen, aber es war zunächst unmöglich. Als ich endlich hochkam, schaute ich nach den übrigen Kameraden, aber sie waren alle weg.

Ich war allein, mitten im Wald, es war Krieg und kaltes Wetter. Dies war meine erste Nacht an der Front. Ich entschied mich, dass es das Beste sei zu bleiben, wo ich war, und nicht wegzugehen. Ich hatte Angst und ich fror, konnte nicht schlafen und so wartete ich, dass es am Morgen hell wurde, dann hob ich die ganze Ausrüstung wieder auf, außer einer Kiste Maschinengewehrmunition, die ich nicht finden konnte. Als es heller wurde, horchte ich. Ich hörte einige Stimmen vom Fuße des Hügels. Ich ging in Richtung der Stimmen ein wenig den Berg herunter, ich sah herunter und stellte fest, dass dort Deutsche waren. Dies war nicht der Weg, den ich gehen wollte. Ich ging zurück zu dem Punkt, wo ich die Maschinengewehrmunition und den Rest meiner Ausrüstung zurückgelassen hatte. Ich ging dann weiter und fand dann schließlich eine Stellung von GI's. Es war zwar nicht unsere Kompanie aber unsere Armee. Es waren amerikanische Jungens. Ich war so müde, dass ich mich einfach irgendwo hinsetzte. Ich fragte einen der Jungens, ob sie nicht Decken hätten, ich fror, und ich musste unbedingt warm werden. So war es also, wie ich in den Krieg startete.

Ich war dann in den folgenden sechs Monaten an den Kämpfen beteiligt. Ich habe sehr, sehr viele gefährliche Situationen, einige äußerst gefährliche erlebt, aber aus irgendwelchen Gründen wurde ich nicht einmal verletzt. Unsere Division rückte durch ganz Deutschland vor, über den Rhein, dann bis zur Elbe. Wir nahmen viele Deutsche als Gefangene. Ich musste viele von ihnen befragen, weil ich deutsch konnte, aber diese Nazis waren sehr arrogante Leute. Ich war an den Kämpfen beteiligt bis der Krieg in Europa beendet war. Die 8. Infanteriedivision war eine der ersten Divisionen, die wieder aus Europa zurückgezogen wurde.

Es war geplant, uns bei der Besetzung Japans einzusetzen, wo der Krieg noch nicht vorbei war. Wir gingen an Bord eines Truppentransportschiffs und wurden zurück in die USA gebracht. Wir bekamen alle 30 Tage Urlaub. Gerade als ich mich dann wieder bei der Armee zurückmelden musste, hörte ich im Radio, dass der Krieg in Japan vorbei war, die Japaner hatten kapituliert, ich war sehr glücklich, dass wir nun nicht auch noch nach Japan mussten, und ich hatte keine Sorge mehr, mich zurückzumelden in Fort Meade.

Der Krieg ist aus

Wir wurden schließlich aus der Armee entlassen. Ich ging zurück zu Fischers Bürstenmaschinenfabrik, um meinen alten Arbeitsplatz als Vorarbeitet, den ich vor meiner Einberufung zur Armee hatte, wiederzubekommen. Aber ich bekam ihn nicht zurück. So ging ich zu einem Mann namens John Lee, der eine Fabrik an der Prattstreet hatte. Ich arbeitete einige Zeit für John Lee und wechselte dann zu einer anderen Fabrik. Elektroingenieure hatten diese Fabrik nahe der Reisterstownroad eröffnet und stellten mich an. Ich arbeitete nun in dieser Fabrik, und nach einer kurzen Zeit wurde ich schon Aufseher in dem Maschinenraum. Praktisch organisierte ich die ganze Arbeit. Wir waren dort sehr beschäftigt und hatten so viel Arbeit, dass wir sie kaum bewältigen konnten. Ich rief daher das Büro des Arbeitsamtes in der Stadt an und bat sie, jeden zu schicken, den sie hatten. Wir brauchten einfach jeden. Ich stellte viele Leute an und brachte ihnen bei, was sie zu tun hatten. Nach etwa sechs Monaten kamen die Besitzer zu mir und sagten: "Wir können nicht im Geschäft bleiben, obwohl wir sehr beschäftigt sind und viel Geld verdienen, aber wir haben nicht genug, um die Hypotheken zu bezahlen." Sie hatten sehr hohe Hypothekenkosten für die Gebäude, die aber nicht groß genug waren, um so viel Geld zu verdienen, dass die Hypotheken bezahlt werden konnten. So musste der Betrieb geschlossen werden, es war eine wahre Schande.

In dieser Zeit bekam ich einen Vertrag, eine Kamera zu bauen für das Fotofinish bei Pferderennen. Der Mann, der mir diesen Auftrag gegeben hatte, hat mir auch einige Zeichnungen für solche Kameras gegeben. Nach diesen Zeichnungen produzierten wir einige Teile und versuchten, sie zusammenzusetzen. Aber nichts passte zusammen. Viele Teile fehlten. So musste ich noch einmal ganz von vorne anfangen mit der Entwicklung einer Fotofinish-Kamera.

Schließlich war die Entwicklung getan. Ich machte die letzten Zeichnungen, und wir bauten die erste Kamera. Alles dies passierte zu einer Zeit, kurz bevor der Betrieb geschlossen werden sollte. Eines Tages, als ich in die Stadt musste, um noch einige Eisenteile in einem Zubehörgeschäft zu kaufen, kam ich an einem Einstellungsbüro der Firma Westinghouse vorbei. Da ich ja bald meinen Arbeitsplatz verlieren würde, entschloss ich mich, in das Büro zu gehen, vielleicht konnte ich ja für die Firma Westinghouse arbeiten. Als ich dem Mann in dem Büro von meinen Erfahrungen erzählte, wollte er mich nicht gehen lassen. Das war im September und so sagte ich ihm, dass ich wahrscheinlich bei ihrer Firma im Dezember anfangen könnte zu arbeiten. Ich beendete die Arbeit an meiner Fotofinish-Kamera, bevor die andere Werkstatt geschlossen wurde.

Ich richtete mir in unserem Haus an der Crest Heights Road eine kleine Werkstatt ein. Ich bekam auch den Auftrag, drei weitere Kameras zu bauen, was ich in meiner Werkstatt zu Hause machte. Nachdem ich sie fertig gestellt hatte, bekam ich zwanzig Jahre lang immer wieder Aufträge, weitere Kameras zu bauen, während ich dann aber hauptberuflich bei Westinghouse arbeitete. Für die Kameras stellte ich die Teile, für die ich selbst die Maschinen hatte, selbst her, Teile, die ich nicht selbst herstellen konnte, ließ ich in anderen Werkstätten anfertigen. Ich baute die Kameras alle zu Hause zusammen. Im Laufe der Jahre baute ich 24 Kameras. Ich entwarf auch einen Apparat, der die Zeit des Rennens mit auf dem Film festhalten konnte. Dieses Gerät wurde bei Trabrennen benutzt. Von diesen größeren Kameras, die auch die Rennzeiten festhielten, baute ich eine ganze Reihe.

Der Hauptgrund, warum ich so viel Arbeit zu Hause machte, während ich bei Westinghouse arbeitete, war der, viel Geld zu verdienen, dass eure Väter, meine beiden Söhne, auf ein College gehen konnten und eine Ausbildung erhielten. Solche Ausbildungswege sind eine teure Angelegenheit. Als meine beiden Söhne das College absolviert hatten, ließ ich das Geschäft mit den Kameras schließlich sein. Bei Westinghouse arbeitete ich, bis ich mit 65 Jahren im März 1986 in Ruhestand ging. In den ersten beiden Jahren dort arbeitete ich in der Produktion als Ingenieur. Dann wechselte ich in die Entwicklungsabteilung. Dort machten sie mich zu einem richtigen Ingenieur, obwohl ich keine Ausbildung hatte, abgesehen von dem Besuch des Real-Gymnasiums in Gelsenkirchen für weniger als vier Jahre. Nach zwei oder drei Jahren beförderten sie mich zu einem "Senior-Ingenieur". Ich machte dann noch einen Abschluss, der dem Abschluss an einer Highschool entsprach, und ging sieben Jahren lang abends zur John-Hopkins-Universität. So erhielt ich dann nach allem doch noch ein wenig Ausbildung.

Erinnerungen von Henry Cohen

Im Jahr 1933, als Hitler an die Macht kam, saß mein Vater beim Frisör und neben ihm saß dieser Meyer und las eine Zeitung. Meyer sagte zu meinem Vater: "Willi", er nannte meinen Vater "Willi", "ist es nicht eine wundervolle Sache - die Nazis sind an die Macht gekommen, was können sie nun mit diesem Land machen, damit es wieder auf die Beine kommt?" Doch dann korrigierte er sich selbst: "Entschuldigung, ich vergaß, dass Sie Jude sind". Das war eine Kleine Begebenheit, die uns unser Vater erzählte, ich habe sie nie vergessen.

Ich ging ab 1927 in die Volksschule. Ich war dort vier Jahre bis 1932. Und dann schickte mich mein Vater zu einer weiterführenden Schule in Gelsenkirchen. Ich war der älteste Jude, der diese Schule besuchte. Der Name der Schule war Knaben-Mittelschule. Sie war nur für Jungen. Ich war zehn Jahre alt. Ich besuchte diese Schule drei Jahre lang. Nach zwei Jahren kam mein jüngerer Bruder auch auf diese Schule. Wir waren etwa vier oder fünf jüdische Jungen, die diese Schule besuchten.

Eines Tages, im Jahr 1934, wurden wir verprügelt und physisch aus der Schule hinaus geworfen. Das war nicht lange, nachdem Hitler an die Macht gekommen war. So musste ich auf eine andere Schule gehen, ich musste meine acht Pflichtschuljahre ja beenden. Es fehlten noch einige Monate, und so musste ich wieder auf die jüdische Schule. Meine Schulzeit war dann beendet im Alter von dreizehn Jahren.

Arisierung jüdischer Firmen

Mein Vater hatte viele Freunde in Gelsenkirchen, und so bekam er eine Lehrstelle für mich, bei der Firma Gustav Carsch, dem größten Bekleidungsgeschäft in Gelsenkirchen. Ich arbeitete dort drei Jahre lang. Zu dieser Zeit mussten sie dann einen Ausverkauf machen. Sie wurden zu einem Ausverkauf gezwungen, wegen der "Arisierung". "Arisierung" bedeutet die Geschäftsübernahme durch "Arier". Wir hatten ungefähr dreißig bis vierzig jüdische Angestellte, die nun alle auf der Straße standen. Ich versuchte, einen neuen Job zu bekommen und hatte Glück. In der Nähe, ein wenig außerhalb von Essen. Ich nahm jeden Morgen den Zug, um dort hinzukommen. Es war ein viel kleineres Geschäft. Ich konnte dort meine Lehre fortsetzen. Bald, nachdem ich dort angefangen hatte, mussten auch sie einen Ausverkauf machen, und ich stand wieder auf der Straße.

Das Land wurde mobilisiert, wir merkten, dass etwas vor sich ging, und viele Leute versuchten verzweifelt, aus dem Land herauszukommen, und es gab nicht so viele Schiffe wie heutzutage. Schiffspassagen waren also schwer zu bekommen. Eine große Schwierigkeit war, die Visa zu bekommen, aber aus Deutschland herauszukommen, war ein weiteres Problem. Mein Vater ging zu verschiedenen Schiffslinien. Er wollte über Holland nach Panama, weil er noch seine Wertsachen in Holland abholen musste. Weiterhin hatte er eine Schwester in Holland, in Hilversum. Auf der Reise wollte er seine Schwester besuchen. So ging er zu niederländischen Reedereien, und als er bei einer war, hörte er ein Telefongespräch mit, in dem eine Buchung annulliert wurde — für zwei Kabinen: eine mit zwei Betten und eine mit vier Betten, erster Klasse. So hatte er Glück und konnte für uns buchen. Das ist auch der Grund, warum wir in die erste Klasse kamen. Dann bezahlte er die Reise. Und wir begannen langsam aber sicher zu packen. Wir hatten nun ein Datum für unsere Abreise.

Des Vaterlands Dank sei Euch gewiss

Heute ist die Welt so klein geworden, nach dem Zweiten Weltkrieg, damals war es erstaunlich, für einen Europäer nach Panama zu gehen. Man hatte noch nie etwas von diesem Land gehört, man wusste gar nichts darüber. Wir sollten als Farmer arbeiten, aber wir hatten nicht einmal eine Ahnung, was dort wachsen würde. Man war also unsicher und auch ängstlich, weil man nicht wusste, wie man zurechtkommen würde, wie man überleben würde, wohin wir kommen würden. Heute ist das anders. Es war das Gefühl, das wir hatten. Mein Vater dachte natürlich wie immer positiv und meinte, wir würden es schon schaffen.

Und als wir die Grenzstation verließen - mein Vater trug immer am Revers ein kleines Abzeichen des Eisernen Kreuzes und war sehr stolz darauf — ging mein Vater hinaus und grub ein kleines Loch in die Erde, nahm das Ordensabzeichen ab, warf es in das Loch und schüttete das Loch wieder zu. Er sagte: "Des Vaterlands Dank sei Euch gewiss." — Das war in Deutschland der Spruch für die Teilnehmer des Ersten Weltkriegs gewesen, der auch eine gute Zukunft versprechen sollte. Mein Vater war emotional sehr aufgewühlt über diese Sache.

Ich war zurückgestellt von der Armee, wegen meiner Arbeit, weil wir kriegswichtige Aufträge hatten. Am 12. April 1944 wurde ich dann eingezogen. Sie konnten mich nicht länger halten, weil ich unabhängig und unverheiratet war. Ich wurde eingezogen und auf eine Art war ich auch froh darüber. Mein jüngerer Bruder Rudi war schon in der Armee. Ich wurde mit dem Schiff nach Camp Blanding gebracht. Zu dieser Zeit war Rudi auch noch in seiner Grundausbildung in Camp Blanding, und so waren wir einige Wochen dort zusammen. Hier machte ich Übungen für die Infanterie und den Kommunikationsbereich. Als meine Grundausbildung vorbei war, wurde ich nach Fort Meade gebracht. Ich kam zur 56. Infanteriedivision. In einem großen Konvoi von 85 Schiffen wurden wir mit einer anderen Division nach Übersee gebracht, unser Ziel war Großbritannien, aber auf dem Weg wurde festgelegt, dass wir nach Frankreich sollten. Das war Ende 1944. Unsere Division wurde im Saarland eingesetzt.

Einen Tag bevor wir uns an den Kämpfen beteiligen sollten und alles schon gepackt war und wir bereit waren, klopfte jemand an die Tür unserer Baracke und verlangte nach Henry Cohen. Ein Mann kam herein in Armeekleidung aber ohne Rangabzeichen. Ich ging mit ihm. Er brachte mich zum CIC-Hauptquartier. Ich sprach mit meinem späteren Vorgesetzten, er sagte mir, dass ich zum CIC kommen sollte, die letzte Entscheidung läge allerdings bei mir, ich sollte mich aber bis zum nächsten Tag entscheiden. Ich sagte ihm, dass ich das tun würde, allerdings wollte ich nicht hinter den feindlichen Linien eingesetzt werden. So kam ich zum CIC. Aus unserer Division kamen drei deutschsprachige Soldaten zum CIC. Ich war einer von ihnen. Die Aufgabe des CIC ist vor allem die Sicherung der Truppen. Als das "Dritte Reich" zusammenbrach, war unsere Hauptaufgabe, die Nazis festzunehmen, sie zu verhören und sie in Lagern gefangen zu setzen. Im Laufe der Zeit habe ich mindestens 1.500 Nazis festgenommen. Ich war auch beteiligt an der Festnahme des Gauleiters von Oberösterreich Eigruber.

Zum ersten Mal wieder in Gelsenkirchen

Bild: Schwindstrasse 4 im Jahr 1925

Bild: Schwindstrasse 4 im Jahr 2009

Abb.: Mutter und Kinder der Familie Cohen 1925 vor ihrem Haus an der Schwindstrasse 4 (Mutter Therese Fröhlich mit Rudolph und im Vordergrund Heinz Leo und Victor sowie drei Dienstmädchen). Rechts das Haus Schwindstrasse 4 im Jahr 2009.

Das erste Mal, das ich nach Gelsenkirchen zurückkam, war am 2. Oktober 1945. Ich kam zurück nach Gelsenkirchen und wusste natürlich nicht, ob unser Haus noch stehen würde. Aber es stand wirklich noch. Es war aber beschädigt. Ich wollte zu dem Mann gehen, der unser Haus an der Schwindstraße 4 an dem Tag übernommen hatte, als wir es verlassen mussten. Ich wollte wissen, wo er war, und er war dort, wo er zuvor gewesen war. Er war Elektriker oder so etwas Ähnliches. Ich klopfte an seine Tür.

Er öffnete, und da war er und saß auf unserem Sofa. Das Mobiliar war unser Mobiliar. Es war eine sehr dramatische Situation. Er war völlig gebrochen und demoralisiert. Er wusste genau, wer ich war. Es war ja nur fünf Jahre her, nachdem wir Deutschland hatten verlassen müssen. Und ich sah meinem Vater natürlich etwas ähnlich. Er war völlig demoralisiert. Das Einzige, was er sagte war: "Herr Cohen, Sie können alles haben, was Sie wollen." Ich sagte ihm, dass ich meinen Vater fragen würde, was er wollte. Es waren alles gestohlene Sachen, alles war gestohlen. Mein Vater hatte gute Möbel. So sagte ich ihm, dass ich meinen Vater fragen würde, was er wollte. Ich wollte nur unbedingt eine Sache: Ich hatte eine Ausgabe der Schiller-Werke, ein Geschenk, das ich zur Bar-Mizwah-Feier bekommen hatte. Ich sagte, dass ich diese mitnehmen würde. Er gab sie mir, und das war es, und ich ging raus. Dann nahm ich Kontakt mit meinem Vater auf und erzählte ihm die Geschichte. Er sagte: "Ich will gar nichts." Und ich habe diesen Mann in unserem Haus nie wieder gesehen seitdem.

Als ich nach Gelsenkirchen zurückkam, standen die Leute hinter den Vorhängen und beobachteten, sie wollten sehen, was los war. Wie fühlte ich dabei? Bis heute habe ich kein Vertrauen zu Deutschen meines Alters. Immer, wenn ich jemanden in meinem Alter sehe, frage ich mich, was er getan hat. Ich würde niemandem trauen - im Unterschied zu dem, was sie versuchen, einem zu erzählen, nachdem man sie festgenommen hat: "Ich habe nichts getan." - "Ich habe das und das getan." - "Ich habe jemanden gerettet." Aber er hatte etwas gemacht. Es war nicht so. Es gab auch in dieser Zeit einige wunderbare Leute, aber die Mehrheit war fanatisch. Ich fand es gut zurückzukommen, um zu sehen, was passiert war. Gelsenkirchen war zu einem großen Teil zerstört. Das Haus, wo das Geschäft meines Vaters war, war vollständig zerstört. Die Kirche, die weithin sichtbar war, war zerstört. Der Turm war zerstört. Das Gebäude, wo die Stadtverwaltung saß, das Hans-Sachs-Haus, war bombardiert worden.

Rudy Cohen stimmte im April 2008 einer Veröffentlichung der lebensgeschichtlichen Erinnerungen seiner Familienangehörigen auf der Internetpräsenz des eingetragenen und gemeinnützigen Vereins GELSENZENTRUM zu.

Die lebensgeschichtlichen Erinnerungen der Familie Cohen wurden erstmalig 2004 in dem Buch von Stefan Goch "Jüdisches Leben" (ISBN:3-89861-249-X) veröffentlicht

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Andreas Jordan, April 2008

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