An manchen geht die Tatsache, dass Rolf Abrahamsohn mehrere Konzentrationslager erlebt und fast die ganze Familie durch den Nazi-Terror verloren hat, offensichtlich so vorbei, dass sie von Lehrern ermahnt werden müssen. Vielleicht liegt es an der leidenschaftslosen Art, wie der gebürtige Marler "nur drei bis fünf Prozent von dem, was ich erlebt habe," schildert, dass sich in den wenigen Fragen, die anschließend gestallt werden, nur wenig Betroffenheit äußert. Man habe in der Klasse darüber diskutiert, sagt einer der Schüler, "ob den alles schlecht war, was Adolf Hitler gemacht hat". Ein anderer fragt den ehemaligen KZ-Häftling, und man hört die Antwort heraus: "Finden Sie, dass sich die heutige Jugend noch damit beschäftigen sollte?" Später schiebt er nach: Warum denn immer gleich alle Deutsche mit den Untaten der Nazis identifiziert werden? Rolf Abrahamsohn bleibt in solchen Situation erstaunlich gelassen. Er differenziert, erzählt von Deutschen, die ihr Leben riskierten, weil sie Juden halfen, plädiert für die Demokratie, gegen die Diktatur. Nur noch selten spricht er zu Jugendlichen. Das hatte er sich eigentlich zur wichtigsten Aufgabe gemacht: "Wenn ich nur einen jungen Menschen überzeugt habe, dann war das schon gut." Am Schluss bedanken sich die Schüler mit einem Kalender über Bäume und etwas Flüssigem, und Abrahamsohn revanchiert sich mit einer CD des Sängers Estromo Nach-ama bei Lehrer Berthold Hesselmann, der vorher von einem "historischen Ereignis" gesprochen hat. So oft könne man Zeugen dieser Zeit nicht hören. Mit der Feststellung "Ein schlechter Friede ist besser als ein guter Krieg" eröffnet Abrahamsohn seine Ausführungen. Er beantwortet die selbst gestellte Frage "Was sind Juden?" mit einem kleinen Geschichtsexkurs: „Die Juden kamen 200 Jahre nach Christus mit den Römern nach Germania. Die Römer gingen wieder, die Juden blieben." Viel Wissen hätten die Juden mitgebracht, Wissenschaftler, Juristen, Künstler, viele Nobelpreisträger seien aus ihren Reihen hervorgegangen." Aber es habe auch "viele kleine Leute gegeben unter den Juden". Abrahamsohn: „Die aber kannte man nicht, dafür aber die Berühmten. Deswegen glaubte man immer, die Juden seien reich." Er sagt: „Es gibt kein jüdisches Volk, es gibt nur eine jüdische Religionsgemeinschaft." Von Juden, die im ersten Weltkrieg für das Deutsche Reich kämpften und gefallen seien, erzählt Abrahamsohn. Erzählt vom Vater ("ein Schlitzohr"), der von Stettin nach Marl zog, der nicht so religiös war wie die Mutter und deshalb auch Schweinefleisch aß. Er erzählt von den drei Brüdern, von denen zwei durch den Nazi-Terror starben, wie auch die Mutter und der Vater. Rolf Abrahamsohn ging in Marl zur evangelischen Schule, die höhere Schule musste er nach fünf Monaten, 1935, verlassen, weil die Schule "judenrein" gemacht werden sollte. Da waren auch schon alle Juden aus dem Staatsdienst entlassen worden. "Dann kam der 9. November 1938. Ich war 13." Der Vater wurde "halb tot geschlagen und in sein brennendes Geschäft geworfen". Die Stadt Marl zwang ihn später, das Wohn- und Geschäftshaus praktisch zu verschenken. "Wir mussten noch 9000 Mark draufzahlen, wegen der Brandschäden." Der Bürgermeister damals, erinnert sich Abrahamsohn, war auch nach dem Krieg Bürgermeister "und hat sich da als besten Freund meines Vaters bezeichnet". Hier, eine der wenigen Augenblicke dieser Art, wirkt Abrahamsohn bitter, fast sarkastisch. "Wir mussten nach Recklinghausen umziehen. Marl war judenfrei." Der 14-Jährige arbeitete in einer Schwefelfabrik, um sich und die Mutter zu ernähren. Der Vater war mit einem anderen Bruder nach Belgien geflüchtet. Beide wurden später nach Auschwitz transportiert. Am 12., 13. Januar 1942 wurden die Recklinghäuser Juden gesammelt und zum Wildenbruchplatz nach Gelsenkirchen gebracht, dann in Personenzüge verladen, die zuerst nach Dortmund fuhren. "Acht Tage dauert die Fahrt bis Riga. Da war Gott sei dank ein bisschen Eis auf dem Fenster, das wir auflecken konnten." In Riga habe man zuvor etwa 12 000 lettische Juden erschossen, um Platz für die Juden aus Deutschland zu machen. Ältere wurden zu Tausenden im Wald umgebracht. 1943 wurde das Ghetto in Riga aufgelöst. Zuvor brachte die SS die Kinder "zum Impfen". "Sie wurden alle umgebracht." Dann ging's mit dem Schiff nach Danzig und schließlich zurück in die Heimat: "Beim Bochumer Verein mussten wir Granathülsen drehen. Das war das schlimmste KZ." Weitere Station war das KZ Buchenwald, dann sollte es weitergehen nach Dachau. Mehrfach erwähnt Rolf Abrahamsohn den Namen Hans Frankental. Der habe ihn zu einem anderen Waggon umgelotst, der nach Theresienstadt fuhr. "In Dachau haben sie die Waggons einfach auf dem Gleis vergessen. Alle Menschen drin sind gestorben." Am 8. Mai 1945 wurde das KZ Theresienstadt von den Russen befreit. Noch einmal wird Abrahamsohn sarkastisch, als er von der Rückkehr nach Recklinghausen erzählt. Eine Nachbarin habe ihm erzählt "Wir haben auch viel durchgemacht". Damit habe sie die Wäsche gemeint, die ihr über Nacht von der Leine gestohlen wurde. Voll Dankbarkeit und mit Heiterkeit erzählt er von seinem 80. Geburtstag, der in Marl gefeiert wurde. 300 Gäste kamen. "Ich dachte, es ging um den Grimme-Preis." WAZ Gelsenkirchen-Buer vom 27. November
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Das Kaufhaus Abrahamsohn an der Loestraße in MarlAber 1937 bemerkte auch Rolf die Einschränkungen gegenüber jüdischen Geschäftsleuten. Vor dem Textilgeschäft der Familie Abrahamsohn wurden Schilder aufgestellt mit der Aufschrift: "Kauft nicht bei Juden". Wer dennoch einkaufte wurde fotografiert. In der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde die Brutalität der Nationalsozialisten gegenüber jüdischen Familien auch in Marl deutlich. Das Geschäft der Familie Abrahamsohn wurde angezündet, der Vater niedergeschlagen und im brennenden Geschäft hilflos liegen gelassen. Mutter und Söhne retteten ihn aus dem in Flammen stehenden Laden. Sie suchten Herrn Dr. Manz auf, der den Vater pflegte. Nach der Pogromnacht wurde sein Vater ins Parteibüro in Marl gerufen , weil die jüdische Bevölkerung die Sachschäden der Pogromnacht bezahlen musste. Er sollte das Haus, dass der Partei so gut gefiel, verkaufen oder er würde im KZ landen. Zwei Tage später flüchtete sein Vater mit demältesten Sohn nach Belgien, für diese Flucht mussten sie 2000 Reichsmark bezahlen. Für die Flucht der gesamten Familie fehlte das Geld, so dass Frau Abrahamsohn mit den anderen Kindern in Deutschland bleiben musste. Aus Belgien schickte sein Vater sein Einverständnis zum Verkauf des Hauses, weil die Nationalsozialisten die Mutter unter Druck setzten. Nachdem die Nazis das Haus für sich hatten, musste die Familie Abrahamsohn Marl innerhalb von 2 Tagen verlassen. So zogen sie auf dem Pferdewagen der Familie Keller nach Recklinghausen. Auch alle anderen jüdischen Familien mussten Marl 1938 verlassen und Marl war "judenrein". |
Rolf Abrahamsohn lebte mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder bis 1941 in Recklinghausen, wo er bei der Ruhrgas AG Zwangsarbeit leisten musste. Herr Abrahamsohn fuhr nachts oder abends nach Marl, um für seine und andere jüdische Familien Lebensmittel zu holen. Wäre er oder die Deutschen, die ihm geholfen hatten, erwischt worden, wäre er von den Nazis hingerichtet worden.
In der Zeit in Recklinghausen bekam sein jüngerer Bruder Norbert Diphtherie und ist an dieser Krankheit gestorben, weil kein Arzt ein jüdisches Kind behandeln wollte. Nach diesem schweren Schock wollte Rolf mit seiner Mutter zu seinem Vater und Bruder nach Belgien flüchten, aber wegen des bevorstehenden Krieges wurde kurzfristig die Grenze zugemacht. Dann wurden er und seine Mutter nach Riga ins Ghetto deportiert, wo die Mutter umkam.
Von Riga aus wurde Rolf Abrahamsohn ins KZ Kaiserwald gebracht, wo er hart arbeiten musste. Dann wurde er nach Buchenwald in die Nähe von Weimar transportiert, wo er zwei Monate verbringen musste, daran anschließend kam er nach Bochum, wo er im Bochumer Verein in 12-Stunden-Schichten Granaten drehen musste. Falls man diese Aufgabe nicht schaffte, bekam man Brotentzug. Im Jahre 1944 kam Herr Abrahamsohn mit wenigen Leute nach Buchenwald zurück. Er musste unter strenger Aufsicht der Wachen im Steinbruch arbeiten. Als 1944 Weimar von den Russen eingenommen wurde, mussten die russischen Kriegsgefangenen, unter die sich Rolf gemischt hatte, vom KZ wegtransportiert werden.
Sie saßen 8 Tage lang ohne Nahrungsmittel im Waggon. Als sie schließlich in Marienbad ankamen, lebte von den Menschen im Waggon kaum noch jemand. In Marienbad wurden noch offene Waggons mit Häftlingen aus Ausschwitz an den Zug angehängt. Plötzlich ging ein Tieffliegeralarm los und die Türen öffneten sich, so dass Herr Abrahamsohn flüchten konnte.
Unter den Häftlingen aus Auschwitz erkannte Herr Abrahamsohn zwei Freunde, daher stieg er auf die offenen Waggons, die nachts in Theresienstadt ankamen. Zwei Monate später wurde Herr Abrahamsohn in Theresienstadt von den Russen befreit. Bei der Befreiung wog er nur noch 68 Pfund. Als er dann von den Russen gesundgepflegt wurde, musste sich Herrn Abrahamsohn entscheiden, ob er nach Russland wollte oder zurück in seine Heimat. Er entschied sich für die Rückkehr nach Deutschland und wurde in Recklinghausen herzlich aufgenommen. Von dort ist er dann nach Marl gekommen und hat hier sein Geschäft aufgebaut.
Nach dem Kriegsende 1945 suchte Herr Abrahamsohn im Ausland alte Freunde auf. Er hat im Sport ein wenig mitgeholfen und Jugendbegegnungen organisiert. Er versuchte Kontakte mit Dänemark und mit anderen Staaten herzustellen. Aber auch nach dem Krieg spürte Herr Abrahamsohn Antisemitismus in Marl. Auf einem Gartenfest, zu dem er auch eingeladen war, waren angeblich alle Tisch besetzt, obwohl viele Stühle leer standen. Verständlicherweise war er sehr enttäuscht und hat sich seitdem von allen Veranstaltungen in Marl zurückgezogen.
Wir sind ihm dankbar, dass er für uns eine seiner seltenen Ausnahmen gemacht und uns aus dieser Zeit berichtet hat.
Andreas Jordan, August 2008 |