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Medienempfehlungen von GELSENZENTRUM: Bücher


Kriegskinder - Wie die Wunden unserer Vergangenheit heilen - von Gertrud Ennulat

Das Buch macht Mut zur Auseinandersetzung mit dem "inneren (Kriegs)kind"

In den letzten Jahren, nun über 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, häuft sich die Literatur und die Beschäftigung mit einem Thema, das über Jahrzehnte völlig untergegangen war.

Es kommen nämlich die Menschen in den Blick, die nun, nach einem langen Berufsleben, nach dem Aufziehen ihrer eigenen Kinder, sich zu erinnern beginnen an ihre eigene Kindheit im Zweiten Weltkrieg. Es ist schon oft erwähnt worden, dass es für bestimmte Erinnerungsprozesse manchmal lange braucht, bis ihre Zeit reif ist. Richard von Weizsäckers Rede am 8. Mai 1985, 40 Jahre nach dem Ende des Krieges, so normal sie heute scheint, war damals an Klarheit nicht zu überbieten und wäre aber in jedem Jahr davor noch ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Auch das Thematisieren von Flucht und Vertreibung nach 1945 in Büchern und Filmen wäre bis vor etwa 10 Jahren politisch noch nicht möglich gewesen.

Dass viele der damaligen Betroffenen, darunter auch meine eigene Schwiegermutter, nun ihre Geschichte gewürdigt sehen, erfüllt sie mit Befriedigung, auch wenn der verdrängte Schmerz so groß ist, dass sie nie länger als zehn Minuten sich die echten oder nachgespielten Filmdokumente im Fernsehen anschauen kann, ohne in Tränen das Gerät auszuschalten oder schnell das Programm zu wechseln.

Gertrud Ennulat, ausgewiesene Autorin mit dem Schwerpunkt Vergangenheitsarbeit und Trauer, hat nun ein neues Buch vorgelegt, in dem sie, die selbst ein Kriegskind ist, nicht nur eigene Erfahrungen reflektiert, sondern durch zahlreiche Interviews und authentische Berichte andere Zeitzeugen zu Wort kommen und davon erzählen lässt, welche große Bedeutung es für sie hatte und hat, sich mit den Wurzeln ihres Lebens zu beschäftigen und sich schlussendlich mit ihnen auszusöhnen.

"Warum melden sich die Kriegskinder gerade jetzt? Vielleicht ist ein günstiger Zeitpunkt gekommen, weil die Betroffenen ihre Kraft nicht mehr im täglichen Beruf einsetzen müssen, sie viele Kapazitäten frei haben, um die Auseinandersetzung mit dieser Zeit zu führen." Und sie sind Großeltern und werden im Kontakt mit den Enkeln und deren Leben mit der eigenen Kindheit konfrontiert.

"Wenn die heutigen Großeltern über ihre extremen Widerfahrnisse im Krieg berichten, schützen sie die neugierigen Fragen der Enkel davor, nur die eigenen Wunden zu lecken. Das verlassene Kriegskind verlangt nach Zuwendung, doch der Blick aus Großelternaugen bleibt nicht im Keller, sondern führt in die Weite, spricht auch über das Schicksal der Kinder, die Opfer des Rassenwahns der Deutschen geworden waren, vergisst auch nicht die Kinder der damaligen Feinde." So kann es gehen, wenn die "Annäherung an das innere Kind" gelingt und die Versöhnung stattfindet. "Sich mit dem eigenen Gewordensein aussöhnen, das ist mehr als einen Schlussstrich zu ziehen, weil das Schicksal angenommen wird und dadurch der belastende Zustand partieller Entfremdung durch den Krieg überwunden wird. Der Krieg im Innern ist vorbei. Es ist Friede." Das Buch macht Mut zu dieser Auseinandersetzung und gibt Anregungen und Hilfen, wie das "Kriegskind" ins gegenwärtige Leben integriert werden kann. Hilfreich sind dabei die Hinweise darauf, wie Angehörige und Freunde sich daran beteiligen können.

Rezension: Herr X. aus Ober-Ramstadt, Deutschland am 5. Mai 2008


Bei den einen heilen sie - bei anderen nicht

Las ich früher historische Fachbücher, um einen Lebensabschnitt meiner Eltern besser zu verstehen, sind es seit einigen Jahren Berichte von Zeitzeugen, biografische Aufarbeitungen. Und seit mich die Beschäftigung mit den Neurowissenschaften in der Ahnung bestärkte, dass uns Kindheitserlebnisse ein Leben lang begleiten, interessieren mich die Geschichten aus der Jugendzeit meiner Mutter noch mehr. Denn auch sie saß in jener Zeit in überfüllten Schutzräumen und irrte durch verwüstete Städte. Und auch sie wollte nie darüber sprechen, ohne verhindern zu können, dass sich Gesicht und Körper trotzdem mitteilten. Aber als Kind beurteilen, ob Eltern Heilung erfahren durften?

Die Autorin dieses Buches ist selbst ein Kriegskind. Das erleichterte ihr bestimmt den Zugang zu Menschen ihrer Generation, die sie zu Wort kommen lässt. Allerdings gibt sie deren Erlebnisse nicht als längere Geschichten wieder, sondern webt einzelne Sätze geschickt und sehr stimmig in ihre persönlichen Betrachtungen ein. Mit diesem Konzept unterscheidet sich Gertrud Ennulat von ähnlichen Büchern zu diesem Thema. Das Buch teilt sich in vier große Abschnitte. "Das Dunkel weicht" thematisiert, weshalb und wie emotionale Auseinandersetzungen mit Kriegserlebnissen heute häufiger sind. Im zweiten Abschnitt "Die Last des Krieges" werden wir mit Erlebnissen in dunklen Kellern vertraut gemacht, mit Gewalt gegen Frauen, mit Evakuierungen. Mit der Frage "Wie haben wir das nur geschafft?" beginnt der dritte Abschnitt, in dem wir vom Kampf um knappe Ressourcen, von widerstandsfähigen Kinder und Kriegsvätern erfahren. Als Titel für den vierten Abschnitt wählte die Autorin "Aussöhnung mit der Kindheit im Krieg". Hier erhalten wir Hinweise darauf, wie die Auseinandersetzung zwischen den Generationen erfolgen könnte.

Mein Fazit: Wer dem Bedürfnis nachgibt, mit seinem inneren Kind von damals Kontakt aufzunehmen, hat bessere Chancen auf Heilung seelischer Verletzungen. Der Weg zum persönlichen Frieden muss nicht zwingend durch ein Therapiezimmer führen. Es ist auch gut möglich, dass Erinnerungsarbeit durch Erzählen etwas anstoßen kann, das zu mehr persönlicher Freiheit führt. Schön wäre es, wenn Kinder und Enkel von Kriegskindern durch die Lektüre dieses Buches zum Fragen und Zuhören ermuntert werden.

Rezension: Dr. Werner Fuchs aus Zug, Schweiz am 17. März 2008


Andreas Jordan, Mai 2008