Inhaltsgleiche Abschrift eines Berichtes von Lewis Schloss, verfasst kurz nach seiner Befreiung:
"Mitte August 1944 kamen mein Vater und ich zusammen mit ungefähr 1300 jüdischen Häftlingen im Konzentrationslager Buchenwald an. Wir, mein Vater [1], Mutter [2] und ich wurden von unserem Hause in Gelsenkirchen-Horst zusammen mit 1000 anderen Menschen jüdischem Glaubens nach Riga deportiert. Bis Juli 1944 waren wir dort im Ghetto und Konzentrationslager Kaiserwald und vielen anderen Arbeitslagern und als die Russen näher kamen, wurden wir, die bis dahin Überlebenden, bei Schiff von Riga zum KL Stutthof [3] gebracht. Und von dort, nach G.s.D. [4] nur kurzer Zeit, zum KL Buchenwald transportiert. Als wir im KL Buchenwald ankamen, wurden wir durch das Tor mit dem nie vergessenen Worten "JEDEM DAS SEINE" marschiert.
Zu der Zeit war das Lager so gepackt mit Häftlingen, dass man uns in eine Zelt brachte. Wenn mein Vater und ich die Zustände im Zelt sahen, entschlossen wir uns, dass wir besser im Freien unter den Sternen schlafen würden. Unsere Gruppe brauchte für einige Tage nicht arbeiten und so wanderte ich im Lager herum und sah plötzlich eine Gruppe von zwischen 100 und 50 Häftlingen in einer Uniform, die ich nicht kannte. Als ich näher kam, hörte ich, dass diese Leute Englisch sprachen. Es waren Amerikanische, Englische und Kanadische Piloten, die aus einem Stalaglager [5] geflüchtet waren, aber wiedergefangen wurden und zur Strafe, trotz der Genfer Konvention, ins KL Buchenwald gebracht wurden.
Ich begann mit diesen mit meinem Schulenglisch zu reden und einige Tage später sah ich ein Einzelflugzeug, welches mehrere Rauchraketen abschoss. Die Piloten sagten mir, dass dieses Flugzeug das Lager markierte und dass wir erwarten könnten, gebombt zu werden. Tatsächlich, kurz danach wurden alle Fabriken angegriffen und viele Menschen verloren ihr Leben. Da fast keine Bomben ins Lager fielen, konnte man auf einmal sehen, dass SS-Männer I N das Lager liefen, jedesmal wenn Bomber näher kamen.
Bald hörte ich, dass ein Transport von Facharbeitern für ein Aussenlager in Bochum zusammen gesucht würde. Obwohl ich sonst nie mich freiwillig für ein Kommando meldete, so tat ich das dieses Mal, da ich immer im Kopf hatte, ein Mal zu flüchten. Und da Bochum nur vielleicht 10 Kilometer von Gelsenkirchen-Horst war, war es mir klar, dass es dort vielleicht Fluchtmöglichkeiten geben wuerde. Ich hatte keine Idee, was es sein konnte, aber ich sowohl als auch mein Vater hofften!
Wir hatten Glück und kamen auf diesen Transport und trafen Anfang September in Bochum im Aussenlager beim "Bochumer Verein" (ein). Mein Vater und ich wurden ausgesucht, um Kranführer im Werk zu werden. Wir wurden für ein paar Tage von einer Russin ausgebildet, die dann das Werk verliess. Das Lager bestand aus ungefähr 10 fast neuen Baracken und nach Stutthof und Buchenwald fühlten wir uns wie Gäste in einem Hotel. Aber kurz nach unserer Ankunft fingen fast tägliche und nächtliche Luftangriffe an. Das Lager, das übrigens ganz an das Werk gebaut war, lag ausserdem auch in der Mitte (auf drei Seiten umringt) von meist dreistöckingen Wohnhäusern. Die Bewohner dieser Häuser konnten in unser Lager schauen und genau sehen, wie man die Häftlinge missbrauchte. Wir sahen diese Menschen wenn sie in den Fenstern lagen und Z.B. unsere Appelle betrachteten.
In unserem Werk fabrizierten die Häftlinge 88mm-Granaten für die Panzer der Armee. Unsere Häftlinge wurden trainiert von deutschen Vorarbeitern. Die meisten Gefangenen kamen aus verschiedenen Ländern und die meisten sprachen wenig oder ein schlechtes Deutsch. Während eines Luftangriffes traf mein Vater einen dieser Vorarbeiter. Irgendwie sprach dieser Mann meinen Vater an, und wenn mein Vater ihm antwortete, sagte er, wo haben sie denn gelernt, so ein perfektes Deutsch zu reden. Wenn mein Vater ihm erklärte, dass er Deutscher war und ganz nahbei gewohnt hatte, frage dieser Mann, was mein Vater's Name war. Mein Vater sagte ihm, mein Name ist MAX SCHLOSS und dann fragte er, und wie heissen Sie? Wenn mein Vater hörte, dass sein Name HEINRICH HOPPE war, sagte er ihm: Ich kannte einen FRITZ HOPPE, ist der verwandt mit ihnen? Heinrich Hoppe sagte ihm dann, dass Fritz sein verstorbener Bruder war und er gab meinem Vater sein Butterbrot.
Bevor ich nun jetzt weitergehe, möchte ich noch schreiben, dass die Kräne auf welche wir arbeiteten, sehr groß waren und auf Schienen die ganze Laenge der Werkhalle liefen. Um in die Kabinen, von wo wir diese Kraene steuerten, zu kommen, mussten wir auf steilen Leitern an der Werkhallenmauer ungefaehr 15 Meter heraufklettern. Diese Kabinen hängten unter den Kränen und am Ende der Halle sass noch ein Extra Kran, der im Falle eines Problems gebraucht wurde. Da mein Vater und ich auf verschiedenen Schichten arbeiten mussten, sahen wir uns meistens nur in unserer Baracke. Wenn mein Vater mir ganz aufgeregt über das Treffen mit Heinrich HOPPE erzählte,dachten wir erst, wie wir dieses Glück am besten für uns benützen könnten. Denn in der Zwischenzeit hatten wir die meisten Baracken durch Bombenangriffe verloren und unsere Rationen waren immer kleiner und kleiner geworden und so hatten dauernd Hunger.
Wir entschlossen uns, es zu wagen, Heinrich Hoppe zu fragen, ob er für uns einen alten Freund meines Vaters, HEINRICH WILMES in Gelsenkirchen-Heßler zu sehen und ihn zu beten, uns extra Brot, Butter und andere Lebensmittel durch Heinrich Hoppe ins Lager zu bringen. Er, Heinrich Hoppe, stimmte damit zu und am nächsten Sonntag, ungefähr Mitte Oktober 1944, nahm er sein Fahrrad und fuhr von Wattenscheid, wo er wohnte, nach Gelsenkirchen-Heßler. Unser Freund, Heinrich Wilmes, war sehr vorsichtig als er hoerte, dass wir in einem KL Lager in Bochum waren.
Aber wie wir nach dem Krieg von ihm hörten, entschloss er sich, ZWEI Pakete zu machen, eines für uns und eins für Heinrich Hoppe, um sicher zu sein, dass er mit kompliziert war und nicht irgendwie betrogen wurde. Na, alles klappte, wir waren sehr froh, extra Rationen zu haben und auch Heinrich Hoppe und seine Frau waren ür die extra Lebensmittel dankbar. Dann, ungefähr Weihnachten 1944, kam Heinrich Hoppe mit einem schönen Päkchen von Heinrich Wilmes für uns und er sagte, ich habe schöne Grüsse für euch vom Heinrich, und falls ihr ihn besuchen wollt, seit ihr willkommen.
Keiner kann sich vorstellen, was dieses für uns bedeutete. Nun endlich hatten wir einen Platz zu dem wir gehen konnten, falls es uns gelingen wuerde, aus dem Lager zu fliehen. Sofort begannen wir, herauszufinden, was wir für unsere Flucht brauchen. Da wir natürlich nur Zebra-Uniformen [6] trugen, wäre das Erste, Zivilkleidung ins Lager zu schmuggeln. So ganz langsam brachte Heinrich Hoppe alte Arbeitskleidung für uns in die Werkhalle und während Alarmen, die wir jetzt dauernd hatten, versteckten wir diese Bekleidung in der Kabine des EXTRA Kranes. Da das K.L. Bochumer Verein in mitten von Häusern lag, hatte unser Lager extra Zäune, um Häftlinge vom fliehen abzuhalten. So hatten wir nicht nur SS Wachen, aber auch Werks- und Ortspolizei. Aber die deutschen Vorarbeiter und Instrukteure hatten besondere Pässe, mit welchen diese Leute durch einen Aus-und Eingang gehen konnten. Ich dachte, wir müssen uns so einen Pass besorgen und unser Freund besorgte mir eine Feldpostkarte, (die Größe des Passes), Schreibmaterial, einen roten Farbstift um die roten Linie des Passes zu kopieren und Tinte usw.. Ich war immer ein bischen zeichnerisch begabt und ich selbst kann sagen, dass ich eine passable Kopie des Passes hervorstellte.
Aber dann gab es ein grosses Problem, wir brauchten ein Passfoto für unsere "Ausweise". Natürlich hatte die SS keinen Fotoservice für uns. Aber hier kommt eine Sache, für welche ich noch niemals eine rationale Erklärung geben konnte oder gehabt habe. Schon ganz im Anfang, kurz nach unserer Ankunft in Riga, fand ich eine kleine Metalldose, ungefähr 5 x 5 Zentimeter und 3 Zentimeter hoch, die ich als mein Portmonnaie gebrauchte. Die Dose enthielt mal Bonbons der Firma Kuze in Riga und in dieser hatte ich ein paar Rasierklingen, Nadel und Zwirn, einige Knöpfe, ein paar Geld- münzen und zwei Fotos, gemacht in einem Automat. Diese Fotos waren nicht Bilder meiner Mutter, oder meiner Schwestern, oder meiner Grosseltern oder anderer Verwandter, nein, diese ZWEI Fotos, waren ein Foto von meinem Vater und von mir selbst. Ich habe keine Idee, warum ich diese Fotos behielt, denn schliesslich brauchte ich nur in einen Spiegel zu schauen um mich zu sehen.
Auf jeden Fall waren diese Bilder, die ich für Jahre in dieser Dose durch alle Lager schleppte die, die ich benötigte, um unsere falschen Pässe echt aussehen lassen zu können. Nun hatten wir Alles vorbereitet zur Flucht, aber immer noch eine Ahnung, wie und wann wir flüchten. Es war mir aber klar, dass der einzige Weg aus dem Lager war durch den Ausgang für das deutsche Personal des Bochumer Vereins. Und so fing ich an, bei jedem Flugalarm, anstatt in den Luftschutzkeller zu gehen, auf der Kranleiter weiter herauf zum Dach zu gehen, um zu sehen, ob es möglich wäre, während eines Angriffes zu flüchten. Was ich aber sah, war dass die SS und die Polizei ihre Wachmanschaft verdoppelten, da - ich nehme an - sie auch dachten, dass Häftlinge während einem Luftangriff fliehen würden.
Die Tage gingen vorüber und ich war ganz verzweifelt, wie wir aus dem Lager kommen. Und dann, am 14. März 1945, am Morgen kletterte ich noch einmal auf das Dach, um zu sehen, wie die Sache aussah. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass, wenn kein Angriff oder Alarm war, nur einzelne SS und Polizei die Tore bewachte. Um 12 Uhr mittags sah ich dann, dass unser dümmster SS Mann Wache stand und ich wusste auf einmal, wie wir flüchten konnten und dies der Tag und die Zeit war zu flüchten. In der Mittagspause ging ich anstatt die Suppe zu essen, in das Lager und sagte meinem Vater, der schon einige Tage sehr krank war, dass er mit mir kommen musste und dass wir heute, nein jetzt, fliehen würden.
So gingen wir beide zurück in die Werkhalle, kletterten die Kranleiter herauf, gingen in die Kabine, wo wir unsere versteckten Zivilkleider hatten. Wir zogen uns um, nahmen die Arbeitsmützen, die unsere kurzen Haare versteckten, und ich nahm die Brille meines Vaters auf meine Nase. Das Resultat war, dass weder er ohne, sowie ich mit der Brille kaum sehen konnten. Aber dieser Wechsel half uns, ganz anders auszusehen. Wir kletterten in voller Sicht aller Mitgefangenen die Kranleiter herunter, marschierten durch die ganze Werkhalle nach aussen zum Tor, hielten unsere "Pässe" in der Hand und spazierten einfach durch alle Kontrollen und wir waren draussen. Der dumme SS Mann sagte nur zu uns, warum sprecht ihr so laut, was wir garnicht fühlten, aber wir taten das, um als ECHTE Deutsche zu erscheinen. Die Sonne schien, es war ungefähr 1 Uhr 30 mittags und wir waren in der Freiheit. Wir gingen dann erst mit der Strassenbahn, die ich mit meinen wenigen Münzen bezahlte und dann zu Fuss nach Gelsenkirchen-Heßler, wo unser Freund Heinrich, nachdem er uns erkannte, für ungefähr zwei Wochen versteckte und ernährte.
Abb.: Heinrich Wilmes hatte eine Drogerie an der Heßler- straße in Gelsenkirchen-Heßler. Vorübergehend lebten Max und Lutz Schloss nach der Flucht aus dem KZ-Außenlager auch dort.
Unser Freund Heinrich Wilmes erklärte seinen Nachbarn, dass wir ausgebombte Verwandte waren und dass ich, - da ich ja wehrpflichtig war -, mehrmahls an der Front verwundet war und ich Erlaubnis hatte, nach "Hause" zu gehen. Da Heinrich alles so gut wie möglich normal aussehen lassen wollte, gingen wir auch mit ihm in den Bunker, wenn die Sirenen heulten. Der Bunker war in einer Schlackenhalde mit parallel laufenden Bänken. So, eines Tages sassen wir mit ihm im Bunker, als wir gegenüber von einem Polizisten in Uniform sassen. Wir sahen, dass er uns erkannte, genau wie wir ihn, denn er wohnte nur einen Block von unserer früheren Wohnung. Wir fürchteten um unser Leben, aber wir glauben, dass auch er wusste, dass der Krieg verloren war und er tat nichts gegen uns. Natürlich gingen wir nicht mehr in den Bunker und nach ein paar Tagen gingen wir zu Heinrich's Bruder, THEO WILMES in Essen, wo wir, bis die Amerikanischen Truppen die Stadt besetzten, versteckt wurden.
Wir wurden befreit am 10. April 1945 durch die Truppen von der 17th Airborne Division. Wir erfuhren später, dass das Lager beim Bochumer Verein nur einige Tage nach unserer Flucht aufgelöst wurde und alle Überlebenden nach Buchenwald zurückgebracht wurden. Von allen diesen Menschen, die noch am 17. März lebten, hörte ich, dass weniger als 50 Leute den Tag der Befreiung Buchenwald's erlebten.
Da ich etwas Englisch sprach, offerierte ich mich den Amerikanern als Dolmetscher und wurde auch akzeptiert. In amerikanischer Uniform fuhr ich mit einem Offizier um den 1. Mai 1945 herum in einem Jeep nach Bochum, um einige der deutschen Zivilarbeiter, die uns so oft schlugen, zu verhaften und den früheren KZlern zu übergeben. Keiner, bestimmt auch ich nicht, konnte glauben, was wir nicht mehr sahen. Das KZ beim Bochumer Verein war spurlos verschwunden und wenn ich die Direktion fragte, was mit dem Lager geschah, wurde die Existenz des Lagers verleugnet. So ist es kein Wunder, dass es heute Leute gibt, welche den Holocaust verleugnen, insbesondere wenn schon damals viele Deutsche lügten. Sie warteten nicht mal zum Ende des Krieges am 8. Mai 1945."
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Nachtrag von Lewis R. Schloss aus dem Jahr 1987:
Mein Vater, MAX SCHLOSS, wurde am 29. Dezember 1889 in Ulrichstein in Hessen geboren, er war Kriegsfreiwilliger von 1914 bis 1919 wie auch sein Bruder Hugo. Sein Bruder MORITZ starb auf dem Felde der EHRE für das "dankbare Deutsche Reich". Er kam 1947 nach den USA, wo er ein paar Tage nach seinem 65. Geburtstag starb. Es war ihm nie möglich seine Gesundheit wieder- zugewinnen. Er starb am 2. Januar 1955. Seine KL Buchenwald Nummer war: 82546. Meine Nummer war 83111. Ich wurde am 20. Mai 1921 in Horst-Emscher, später Gelsenkirchen-Horst, geboren und lebe heute mit meiner Frau Trudy, die auch das KZ überlebte, in Teaneck, N.J., USA. Alles, was ich hier beschreibe, ist die Wahrheit und ich hoffe, die neue deutsche Jugend wird alles tun, damit sich diese Vergangenheit nie wieder in Deutschland oder ganz gleich wo, wiederholt."
Abb.: Theo Wilmes und Bella Neudorf vor Theos Gaststätte "Clubhaus Wilmes" in Essen.
Heinrich Hoppe lebte nach dem Krieg in Wattenscheid, dort starb er 1965. Theo Wilmes lebte im Alter vom 87 bei guter geistiger Gesundheit mit seiner Frau in Essen. Unser Freund Heinrich Wilmes ist 89 und körperlich fit. Allerdings ist er ein wenig vergesslich geworden. Wann immer wir in Deutschland sind, versäumen wir nicht, ihn und seine Familie zu besuchen. Ohne seine Hilfe und seine Menschlickeit hätten wir sicherlich nicht überlebt. Heinrich und Theo Wilmes wurden 1973 von Yad Vashem Israel als "Gerechte unter den Völkern" geehrt.
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