"Reichskristallnacht"
Lore Buchheim 1997 in Gelsenkirchen
Nach der "Reichskristallnacht" änderte sich alles. Man kann es sich nicht vorstellen. Wir hatten schon das Geschäft aufgegeben und hatten auch unseren Besitz weitgehend verkauft. Mein Vater wurde am 9. November festgenommen und ihm wurde gesagt, dass er, damit er freikommen würde, all sein Eigentum verkaufen sollte. Wenn er alles verkaufen würde, müsse er nicht nach Buchenwald. Die meisten Leute, die noch Besitz hatten, mussten ihn nun abgeben. Und sie wurden nun in der Stadt eingesperrt. Es hieß damals "Schutzhaft", weil die Leute so feindlich gegenüber den Juden gesonnen waren.
Unser Geschäft war verkauft, unser Haus war verkauft. Die Leute, die unser Geschäft übernommen hatten, hatten auch unser Haus gekauft - aber zu einem minimalen Preis. Und wir erhielten noch nicht einmal die Kaufsumme. Sie kam auf ein Sperrkonto, von dem wir monatlich nur einen bestimmten Betrag erhielten. Mein Vater musste nun auf der Zeche arbeiten. Die meisten jüdischen Männer meiner Heimatstadt mussten auf den Zechen arbeiten. Zunächst lebten wir noch in demselben Haus, in einem Teil unserer früheren großen Wohnung. Doch bald wurde uns mitgeteilt, dass die Deutschen nicht mit uns zusammen leben wollten. Als der Krieg begonnen hatte, wollten die Deutschen nicht mit uns zusammen in den Luftschutzkeller gehen. Die jüdischen Menschen wurden nun in einzelnen Häusern zusammengefasst. Wir mussten also in ein Haus an der Schalker Straße umziehen. Wir hatten dort nur einen Schlafraum, und eine Tante meiner Mutter war noch bei uns. Meine Schwester und ich und meine Eltern kamen nun in ein Schlafzimmer. Und dann hatten wir noch einen anderen Raum und da war ein allgemein zugänglicher Raum, wo wir unser Geschirr und andere Dinge aufbewahrten. Wir hatten also nur zwei Räume, in denen wir lebten. Von dort deportierten sie uns später nach Riga.
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Riga
Als es in Riga dann nach dem Winter wärmer wurde, fanden wir die Reste und Hinterlassenschaften der lettischen Juden, die vorher im Ghetto gewesen waren. Da wussten wir, dass dies das Ende sein würde. Auf dem Weg aus dem Lager heraus sah ich zum letzten Mal meine Mutter und meinen Vater. Nein, meine Mutter sah ich später noch einmal in Stutthof. Meine Schwester sah ich nicht. Wir sprachen einige Minuten, dann musste ich weggehen. Und meine Mutter gab mir etwas Wolle, rosa und weiße Wolle. Später fand ich in der Wolle noch etwas Schmuck, so dass ich mir noch etwas zu Essen beschaffen konnte, oder anderes. Wir sprachen darüber, was wir tun würden, wenn wir aus dem Ghetto herauskommen würden, dass wir nach Hause zurückgehen würden. Aber wir hatten nicht viel Hoffnung, keiner von uns. Wir hatten nichts zu erwarten, nur einen Rest Hoffnung. Meine Mutter gab mir gute Ratschläge, dass ich ein gutes Mädchen bleiben sollte, dass ich nichts Falsches tun sollte, wie ich eine gute Jüdin sein könnte. Sie sagte, dass ich nichts tun sollte, wofür ich mich schämen müsste. Das waren ihre letzten Worte. Mein Vater sagte nichts.
Stutthof
Dann wurden wir in ein Schiff gesteckt, um nach Stutthof (Konzentrationslager) gebracht zu werden. Es war unbeschreiblich. Am nächsten Morgen war dann Appell und es wurden Marschkolonnen zusammengestellt. Wir gingen ungefähr zehn Meilen und wurden dann für die Nacht in einer Scheune eingesperrt. Am Morgen ging der Marsch weiter. Auf der Straße lagen schon Tote, erschossen, weil sie nicht mehr weiter konnten. Wir waren also auf einem Todesmarsch. Für Wochen zogen wir hin und her. Eines Morgens steckten sie uns dann in eine Scheune und ließen uns zum Sterben zurück. Vielleicht zwei Tage später kamen die Russen und befreiten uns.
Lauenburg
Auch gerade nach dem Krieg mussten wir aufpassen. Nun waren unsere Feinde nicht nur die Deutschen - wir konnten Niemandem trauen. Wir waren ganz allein. Wir konnten mit Niemandem sprechen. Wir hatten nichts zu essen, wir hatten keine Unterkunft, wir wussten nicht, wo wir unsere nächste Mahlzeit bekommen sollten. Wir wussten überhaupt nicht, was wir machen sollten. Es war eine ganz verheerende Zeit. Man kann es sich gar nicht vorstellen. Als wir im Lager waren, waren wir mit all den anderen Leuten zusammen. Es konnte sein, dass wir mit den anderen zur Schlachtbank geführt werden würden. Wir würden auf jeden Fall mit den anderen das Schicksal teilen. Als wir nun aber alleine waren, war es sehr verwirrend. Wir waren alleine. Es war unbeschreiblich. Wir waren in der Nähe von Lauenburg, was heute zu Polen gehört. Wir bemühten uns zuerst, aus Polen herauszukommen und weg von den Russen.
Lore Buchheim besuchte 1997 Gelsenkirchen. Zudem wurde sie im Jahr 2000 für eine Hausarbeit am Schalker Gymnasium interviewt. Dafür stellte sie auch ihren Video-Lebensbericht vom 6. August 1997 zur Verfügung. Die Ergebnisse des Schülerprojektes von Matthias Heitbrink und das hierfür verwendete Video sind hier verwertet worden. Die lebensgeschichtlichen Erinnerungen von Lore Buchheim wurden erstmalig 2004 in dem Buch von Stefan Goch "Jüdisches Leben" (ISBN:3-89861-249-X) der Öffentlichkeit vorgestellt. Lore Buchheim stimmte im April 2008 einer Veröffentlichung ihrer lebensgeschichtlichen Erinnerungen auf der
Internetpräsenz von GELSENZENTRUM zu. Veröffentlichung auf www.gelsenzentrum.de: Andreas Jordan, April 2008
Foto links, Bildunterschrift: Lore Buchheim, geborene Grüneberg, geht mit "Verstärkung" zum Elternhaus.
Großes Foto, Bildunterschrift: Herman Neudorf, früher auf der Markenstraße in Horst zuhause, erzählt OB Dieter Rauer (I.) von seinen Erinnerungen an die Heimatstadt, aus der er vertrieben wurde.
Quelle: WAZ W126/03 Nr. 220, Donnerstag, 18. September 1997. waz-Bilder: Martin Möller. Der Zeitungsartikel aus der WAZ stammt aus der privaten Sammlung von Herman Neudorf.
Abschrift des WAZ-Artikels:
Die Rückkehr in die Heimatstadt ist nicht einfach - Jüdische Besucher zu Gast
Als Lore Grüneberg im Jahre 1942 nach Riga deportiert wurde, wußte die 17jährige nicht, ob sie ihre Heimatstadt jemals wiedersehen sollte. Die Jüdin hatte Glück: Sie überlebte den Holocaust - und kehrte nun an den Ort zurück, an dem sie ihre Jugend verbrachte.
Gemeinsam mit sechs anderen Besuchern, mittlerweile allesamt Bürger der USA und Israels, hält sich Lore, heute 72 Jahre alt und auf den Nachnamen Buchheim hörend, eine Woche lang in ihrer Heimatstadt auf. Die gebürtigen Gelsenkirchener und ihre Begleiter sind Gäste der Stadt. Einfach ist die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht. "Monatelang", sagt Lore Buchheim, "ist alles in Ordnung, aber dann fällt ein Wort, und alles ist vorbei."
Anwohnerin wurde mißtrauisch
Das war auch vor zwei Jahren so, als die 72jährige auf eigene Faust nach Gelsenkirchen kam. Auf der Hauptstraße, der früheren Hochstraße, ging die Seniorin vor ihrem Geburtshaus - in dem die Eltern bis in die Kriegsjahre eine Fleischerei betrieben - auf und ab. Als eine Anwohnerin mißtrauisch wurde und fragte, warum sich Lore Buchheim dort aufhalte, erwiderte die Seniorin, daß sie bis in die 40er Jahre in diesem Haus gewohnt habe. "Ach ja", sgte da die unbekannte Frau, "ich habe davon gehört, daß es hier mal einen Juden-Metzger gab." Das Wort "Juden-Metzger" war für Lore Buchheim ein Schlag ins Gesicht. Sie fuhr ins Hotel, packte die Koffer, und reiste am nächsten Tag ab. Das war ihr Gelsenkirchen-Besuch im Jahre 1995.
Jetzt versucht die 72jährige erneut, ihrer Jugend auf die Spur zu kommen. Gemeinsam mit den anderen Gästen - drei von ihnen kennt sie noch aus der Jüdischen Schule an der Ring-, später an der Josefstraße - nimmt sie an zwei Stadtrundfahrten teil, besichtigt die Dokumentationsstätte für NS-Verbrechen, besucht einen Gottesdienst und macht Abstecher zu "Joseph" in Essen und zum CentrO in Oberhausen. In den Stadtgarten wird die 72jährige ebenfalls gehen, weil sie als Kind oft mit dem Großvater im Rosengarten gesessen hat. Vier ehemalige Freundinnen kann sie dagegen nicht wiedersehen: Sie sind mittlerweile verstorben, wie sie jetzt erfahren mußte. Auch ihr Elternhaus an der Hauptstraße möchte Lore Buchheim noch einmal besuchen. Damit nicht wieder, wie vor zwei Jahren, durch ein falsches Wort schlimme Erinnerungen wach werden, nimmt die Seniorin Verstärkung mit. "Dann habe ich einen Rückhalt." M.M.
Anmerkung Andreas Jordan: "Bald nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten bekam Paul Grüneberg den Antisemitismus in seinen übelsten Auswüchsen zu spüren. So erschien nach einer Auseinandersetzung mit einem Mitarbeiter seines Betriebes, der Ihn bestehlen wollte, im Oktober 1934 auf der Titelseite des berüchtigten antisemitschen Hetzblattes "Der Stürmer" ein Artikel: "Paul Grüneberg - Der Judenmetzger von Gelsenkirchen", damit begann eine üble Hetzkampagne: Paul Grüneberg wurde in dem Artikel u.a. beschuldigt, seinen deutschen Kunden schlechtes und verdorbenes Fleisch zu verkaufen und seine Angestellten auszubeuten. Der leichtferige Gebrauch des Wortes "Juden-Metzger" durch die unbekannte Frau auf der Hauptstrasse im Jahr 1995 weckte in Lore Grüneberg schreckliche Erinnerungen an die Hetzkampagne des "Stürmer" gegen ihren Vater.
Leserbrief an den "Stürmer"
Dieser "Leserbrief" einer Gelsenkirchenerin an das antisemitische Hetzblatt des Julius Streicher zeigt in seiner menschenverachtenden Schreibweise sehr deutlich, welche Wirkung die Propaganda und die Haßparolen der Nationalsozialisten auf den - auch schon vor der Machtübergabe vorhandenen - Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung hatte.
"Lieber Stürmer!
Gauleiter Streicher hat uns so viel von den Juden erzählt, daß wir sie ganz gehörig hassen. Wir haben in der Schule einen Aufsatz geschrieben unter dem Titel: "Die Juden sind unser Unglück". Ich möchte bitten, meinen Aufsatz in Abdruck zu bringen.
Die Juden sind unser Unglück. Leider sagen heute noch viele: "Die Juden sind auch Geschöpfe Gottes. Darum müßt Ihr sie auch achten." Wir aber sagen: "Ungeziefer sind auch Tiere, und trotzdem vernichten wir es." Der Jude ist ein Mischling. Er hat Erbanlagen von Ariern, Asiaten, Negern und Mongolen. Bei einem Mischling herrscht das Böse vor. Das einzige Gute, das er hat, ist die weiße Farbe. Ein Sprichwort der Bewohner der Südseeinseln lautet: "Der Weiße ist von Gott, und der Schwarze ist von Gott. Der Mischling aber ist vom Teufel." Jesus sagte einmal zu ihnen: "Ihr habt zum Vater nicht Gott, sondern den Teufel."
Die Juden haben ein böses Gesetzbuch. Das ist der Talmud. Auch sehen die Juden in uns das Tier und behandeln uns danach. Geld und Gut nehmen sie uns mit aller List weg. Auch schon am Hofe Karls des Franken regierten Juden. Deshalb wurde das römische Recht eingeführt. Dieses paßte aber nicht für den deutschen Bauern: es war aber auch kein Gesetz für den römischen Ackerbürger, sondern es war ein jüdisches Händlergesetz. Sicherlich sind die Juden auch Schuld an dem Mord Karls des Franken.
In Gelsenkirchen hat der Jude Grüneberg Aas an uns verkauft. Das darf er nach seinem Gesetzbuch. Aufstände haben die Juden angezettelt und zum Krieg haben sie gehetzt. Rußland haben sie ins Elend geführt. In Deutschland gaben sie der KPD Geld und bezahlten die Mordbuben. Wir standen am Rande des Grabes. Da kam Adolf Hitler. Jetzt sind die Juden im Auslande und hetzen gegen uns. Aber wir lassen uns nicht beirren und folgen dem Führer. Wir kaufen nichts beim Juden. Jeder Pfennig, den wir Ihnen geben, tötet einen unserer Angehörigen. Heil Hitler!" Leserbrief von Erna Listing, Gelsenkirchen, Oswaldstraße 8 im NS-Propagandablatt "Der Stürmer" Januar 1935
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Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist
An der Hauptstrasse 16, vor dem Haus, dass bis zur Enteignung - im Nationalsozialismus "Arisierung" genannt - den Grünebergs gehörte, wurden im Februar 2010 von Gunter Demnig drei Stolpersteine zum ehrenden Andenken an Paul Grüneberg, Helene Grüneberg geb. Levy und Hella Grüneberg verlegt.
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