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Eine Hommage an Gelsenkirchen von Ilse Kibgis: Meine Stadt ist kein Knüller

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Gelsenkirchen: Marktplatz Horst-Süd nach Ilse Kibgis benannt

Markplatz Horst-Süd nach Ilse Kibgis benannt

Andreas Jordan | 3. Juni 2019 | Gelsenzentrum

An zwei Laternenmasten auf dem Horster Markt- platz in rund sechs Metern Höhe prangen seit heute Morgen die neuen Straßenschilder: Ilse-Kibgis-Platz, die erklärenden Zusatzschilder mit Angaben zu der Schriftstellerin und Lyrikerin sind vom Boden aus praktisch nicht zu lesen. Die offiziell angekündigte "kleine Feier" zur Namens- gebung fand leider nicht statt, eine aktuelle Gewitterwarnung verhinderte die Teilnahme der Kita-Kinder und die der Gesamtschule Horst, so war zu erfahren.

Kommunikatives Mitteinander auf dem Ilse-Kibgis-Platz in Gelsenkirchen

Die vielen Besucher*innen nahmen dennoch die sich bietende Gelegenheit war, sich bei eigens mitge- brachten Kaffee und Kuchen auf dem "Ilse-Kibgis-Platz" zusammenzusetzen und auszutauschen. Laut wurde darüber nachgedacht, ein solches geselliges Miteinander zukünftig in regelmäßigen Abständen auf dem Marktplatz stattfinden zu lassen. Der "Runde Tisch Horst" wird sich dieser guten Idee organisatorisch und planerisch annehmen.

Brunnenskulptur erinnert an Auguste Kinski

Abb.: Eine Brunnenskulptur erinnert an Auguste Kinski, im Bild die Enkelin von "Oma Kinski"

Die Enkelin der bekannten Horster Fischfrau Auguste Kinski (1882-1956) zeigte sich etwas verschnupft, sie hätte sich gewünscht, das der Marktplatz in Horst-Süd nach ihrer Großmutter benannt worden wäre. Die aus Ostpreußen stammende Fischhändlerin "Oma Kinski" wie das resolute Orginal noch heute liebevoll im Quartier genannt wird, hatte jahrzehntelang auf den Märkten in Horst und Bottrop Fische verkauft, später auch zusätzlich im Ladenlokal in ihrem Haus an der Devensstraße 76. Immerhin ist "Oma Kinski" eine Brunnenskulptur gewidmet, die den Marktplatz in Horst-Süd seit 1956 ziert.

Roland Kirbach bezeichnete Ilse Kibgis einmal als eine Lyrikerin, die gegen das "Grau des Alltags anschreibt". Zu ihrem Themenspektrum gehörten Krieg und Frieden sowie Situationen aus dem alltäglichen Leben, vor allem aber schrieb sie über die Arbeit und das Problem fehlender Arbeitsplätze im Ruhrgebiet. Zu den bekanntesten Gedichten zählen jene über Frauen und Frauenarbeit. Ein Satz aus Ilse Kibgis Gedicht "Pommesfrau": "Manchmal zwischen zwei Handgriffen blickt sie in Gesichter wie in fremde Welten." So wird es auch Fischfrau Auguste Kinski zu ihrer Zeit so manches Mal empfunden haben. Nun sind sie friedlich vereint, Auguste Kinski als Skulptur am Boden und Ilse Kibgis als Namensgeberin in sechs Meter Höhe. Identitätsstiftend für die Bewohner des Stadtteils Horst-Süd sind sie unstreitig beide.

* * *

Ilse Kibgis, Schriftstellerin

In der Industriestraße 14 in Horst nahm die literarische Laufbahn der Schriftstellerin Ilse Kibgis ihren Anfang. Ilse Kibgis, geb. Tomczak, ist am 3. Juni 1928 in Horst-Süd in der Rüttgergasse 17 geboren worden. Bis zum Alter von 25 Jahren lebte sie hier in der elterlichen Wohnung in der Horster Bergarbeitersiedlung, bevor sie Anfang der fünfziger Jahre mit ihrem Mann in den Horster Norden umzog. Und obwohl sie in dem neuen Wohnumfeld Jahre später zu schreiben begann, haben die Kinder- und Jugendjahre im Horster Süden die Schriftstellerin stärker geprägt als die kommenden Jahre.

"Der Süden, das war Leben pur: Nachbarschaftshilfe, Tante-Emma-Läden. Aber auch bedrängte Wohnverhältnisse. Visionen, Träume, die Gemeinsamkeit kollektiver Armut. Im Norden von Horst wohnten die Alteingesessenen, die Pohlbürger, im Süden zumeist die "Zugereisten". Der Norden war auch für viele Jahre das eigentliche Zentrum von Horst. Hier standen das Amtsgebäude, die Post, das neue Krankenhaus, die katholische Hauptkirche und die Apotheke.

Die Horster Industrie bot in erster Linie den Männern existenzsichernde Arbeitsplätze. 1867 ging die Zeche Nordstern in Förderung, 1915 nahm die Kokerei den Betrieb auf, 1939 begann das Hydrierwerk der Gelsenberg Benzin AG mit der Benzin-Produktion für den Krieg. Auch Ilse Kibgis' Vater arbeitete als Bergmann auf verschiedenen Zechen im Ruhrgebiet. Seine Eltern waren Bauern in Posen. Die Mutter versorgte den Haushalt und die Familie und sie arbeitete als Putzfrau als der Vater arbeitslos wurde. Nach der Volksschule leistete Ilse Kibgis ein Pflichtjahr in einem Lebensmittelgeschäft, danach verpflichtete man sie zum Kriegsdienst in Schuh- und Matratzenfabriken. Nach dem Krieg verdiente sie ihren Lebensunterhalt als Serviererin, Kassiererin, Manglerin und Verkäuferin.

Mit zehn Jahren hatte sie ihr erstes Buch gelesen und danach gehörten Bücher zu ihrem Leben. Von Goethe, Schiller bis Dostojewski studierte sie alle Klassiker. Später las sie dann immer häufiger Lyrik: Erich Kästner, Heinrich Heine, Ingeborg Bachmann. 1948 lernte sie in der evangelischen Jugend Fred Kibgis kennen. Der junge Mann war Ofenmaurer. 1953 ließ sich das Paar in der eigenen Wohnung in Horst-Süd trauen. Zwei Kinder starben kurz nach der Geburt. 1955 kam Sohn Gerd zur Welt.

Mitte der siebziger Jahre schrieb Ilse Kibgis ihre ersten veröffentlichten Gedichte. Sie entstanden am Küchentisch in der kleinen Küche in der Industriestraße. In den folgenden Jahren ihrer intensivsten Schaffensperiode blieb er ihr Arbeitsplatz. Heute wohnen die Eheleute in einer ruhigen Wohnsiedlung in Gladbeck. Ihre Küche ist hell und geräumig mit Blick in den Garten. Zum Schreiben geht Ilse Kibgis in den engen ausgebauten Keller, wo sie sich einen kleinen Arbeitsraum eingerichtet hat.

1976 stellte Ilse Kibgis ihre Gedichte in der Literarischen Werkstatt der Volkshochschule Gelsenkirchen vor. Bereits ein Jahr später gab Josef Büscher, der damalige Leiter der Werkstatt, von ihr ein Buch heraus. Es heißt "Wo Menschen wohnen" und stellt eine Auswahl ihrer Gedichte vor. Seitdem gehört sie dem Deutschen Schriftstellerverband an. Roland Kirbach bezeichnete sie als eine Lyrikerin, die gegen "das Grau des Alltags anschreibt. Zu ihrem Themenspektrum gehören Krieg und Frieden sowie Situationen aus dem alltäglichen Leben. Vor allem aber schreibt sie über die Arbeit und das Problem fehlender Arbeitsplätze im Ruhrgebiet. Zu den bekanntesten Gedichten zählen jene über Frauen und Frauenarbeit.


Meine Stadt ist kein Knüller

Meine Stadt ist kein
Reisekatalogknüller
kein Touristenparadies mit Sonnengarantie
sie ist
ein kohlenstaubgetränkter Riese
der seine schwarze Vergangenheit
im Rhein-Herne-Kanal blankwäscht
Die Wahrzeichen
meiner Stadt
sind eingemottete Bergwerke
Fabriken mit sauerstoff-fressenden
Schornsteinen
Straßen mit
geschäftemachenden Geschäften
ergraute Wohngettos
wo an Klagemauern
der Aufstieg abprallt
Kulturzentren
die mit
außenarchitektonischer Imposanz
interessantes Innenleben
versprechen
Grünanlagen
die verschämt
am Rande vegetieren

Die Berge meiner Stadt
sind Rolltreppen
die zu käuflichen
Paradiesen führen

Die Sonne meiner Stadt
heißt Neonlicht
sie ist der Fassadenkletterer
der Menschengesichter
in weiße Tinte taucht

Die Blumen meiner Stadt
sind Autos
sie sind die Fließbandsaat
die auf Straßen Blüten treibt

Die Menschen meiner Stadt sind Kumpel
die am schwarzen Roulette
ihre Knochen verspielten
Ihre Sprache ist
der Bergmannsjargon
Worte aus Erde und Stein
grammatische Fehlkonstruktionen
die der Intellektuelle
von hoher Warte
belächelt

Die Erkennungsmelodie
meiner Stadt
ist der Schalke 04-Song
der mit Zauberflöten
und Rattenfängertrick
dem blau-weißen Riesen
mit der Riesenzugkraft
Arenen füllt
Der Schafe zu Wölfen
und Fußballomas
zu blau-weißen Fahnenmädchen macht

Meine Stadt
ist kein Konkurrent
für geographische Massenangebote
aber sie ist der Kreis
der mich einschließt
die Mauer die mich schützt
das Leben dessen Pulsschlag
mich durchpulst
Sie ist
die schwarze Erde
die meine Tränen verschlingt
meinen Gedanken lauscht
und meinen Augen
ihr bescheidenes Panorama
unauslöschlich eingraviert

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Andreas Jordan, Mai 2009. Nachtrag zur Namensgebung Juni 2019

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