Ein Bild vom neuen Deutschland
Mit "Jewish Heritage Tours" kommen Juden aller Generationen nach Nürnberg: Sie machen eine Reise auf den Spuren der eigenen Geschichte. "Ich fühle mich so ohnmächtig", sagt Sandra Schuster. Ihr Blick geht von der Tribüne, von der aus Adolf Hitler seine Reichsparteitage dirigierte, hinüber zu Arno Hamburger. Der SPD-Stadtrat, der seit 35 Jahren der Nürnberger Israelitischen Kultusgemeinde vorsteht, legt Sandra Schuster die Hand auf die Schulter: "Warum wütend", sagt er: "Hitler ist tot. Und wir sind hier . . ." Wenn es nur so einfach wäre! Sandra Schuster, Jüdin aus Hollywood in Florida, gehört zur Synagoge vom Tempel Solel. 26 Mitglieder dieser Gemeinde sind die ersten, die Deutschland "auf den Spuren der eigenen Geschichte" bereisen, wie der US-Veranstalter "Jewish Heritage Tours" seine Package-Tour nennt. Ein Deutschland-Urlaub, der mit Sightseeing nur unzureichend umschrieben ist. Erst recht in Nürnberg.
Bild: Herman und Bella Neudorf, geborene Silbermann.
"Die Stadt war ja braun", sagt Herman Neudorf, aber: "Hier hat man mehr getan als anderswo, um die alten Wunden zu überwinden!" Herman Neudorf hat sich nie um die verächtlichen Kommentare seiner Landsleute geschert: "Deren Deutschland-Bild ist immer noch das alte." Er kam nach Nürnberg, immer wieder, in das Land der Täter, dessen Sprache er nach der Befreiung aus Buchenwald nicht mehr hören wollte. Und er brachte seine Frau Bella Silbermann mit, die in Nürnberg geboren und von hier nach Riga deportiert wurde. Niemand könnte es den beiden 79- und 78-Jährigen verdenken, wenn sie der Stadt der Reichsparteitage den Rücken kehren würden.Aber nichts davon bei diesem Besuch, der auch für Herman und Bella Neudorf eine Premiere ist. Sie suchen "New Germany", sagen sie beim Empfang durch OB Ludwig Scholz im Rathaus. Scholz weiß um die Brisanz des Besuchs, aber er will, dass der neue jüdische Deutschland-Tourismus an Nürnberg nicht vorübergeht.
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Dabei sah der ursprüngliche Reiseplan die Visite in Hitlers einstiger Musterstadt, die sich heute einen Namen als Stadt der Menschenrechte gemacht hat, gar nicht vor. Herman Neudorf hat darauf gedrungen, sonst wäre er nicht mitgefahren. Die Reise soll eben nicht nur den "jüdischen Mitbrüdern Solidarität" bekunden, auch die Grundlagen des Dritten Reichs sollen fassbar werden. Das sei wichtig für jene Generation amerikanischer Juden, die den Holocaust nicht mehr erleben mussten, die vielleicht noch nie in Deutschland waren.
Und dennoch bewegt sich auch Neudorf alles andere als arglos. Gegenüber Deutschen seiner Generation ist er vorsichtig: "Ich weiß ja nicht, was sie im Krieg gemacht haben!" Und die 63-Jährige Sandra Schuster hat Bilder des Holocaust vor Augen, beim Gang über das ehemalige Reichsparteitagsgelände in Nürnbergs Süden. Nackte Ziegelsteine, unvollendeter Gigantismus - das Kongresszentrum ist zweimal so groß wie das Kolosseum in Rom. "Wir haben alle viel Glück gehabt, dass Hitler das nicht verwirklichen konnte", sagt Herman Neudorf. Vor 400 000 Zuhörern sollte hier der Endsieg über Russland gefeiert werden. Nun schlagen Bauarbeiter Schneisen durch den Klotz: Sichtachsen sollen der menschenverachtenden Architektur von Nazi-Baumeister Albert Speers den Schrecken nehmen. Profanisiert ist der Riesenbau ohnehin seit Jahren: Zwar setzten sich Stimmen, die hier ein neues Fußballstadion oder später ein Einkaufszentrum verwirklichen wollten, nie durch - aber der Hof dient heute der Einlagerung von Christkindlesmarktbuden, der Quelle-Versand bunkert auf dem weitläufigen Gelände Waren, und bis vor wenigen Jahren mussten Parksünder hier antreten, um ihren abgeschleppten Wagen wieder aus städtischem Gewahrsam auszulösen. Ein Arrangement mit der Geschichte?
"Warum hat es so lange gedauert, bis ein Dokumentationszentrum an die Aufmärsche der Nazis in Nürnberg erinnert?", fragt Rabbiner Robert Frazzen arglos Arno Hamburger. "Wir hatten nach dem Krieg anderes zu tun", antwortet der 78-Jährige, doch hinter vorgehaltener Hand ist von anderen Gründen die Rede. So wurden noch vor einigen Jahrzehnten die Kolonnaden, die einstmals Hitlers Rednertribüne zierten, abgerissen - offiziell wegen Einsturzgefahr. "Oder doch, weil man seine Geschichte am liebsten wegreißen wollte?", fragt ein Reiseteilnehmer.
Verdrängen, vergessen: Bella Neudorf kann dies nicht. Ihr Vater, ihre Mutter und der Bruder kamen in Nazi-Vernichtungslagern um. Sie selbst überlebte als eine von 72 Nürnberger Juden die Deportation ins KZ Jungfernhof bei Riga. 1631 Glaubensgenossen waren dorthin transportiert worden. Ihr Vater Moses Silbermann fand seine letzte Ruhe auf dem neuen Jüdischen Friedhof im Nürnberger Norden. Vom Schicksal der Mutter und des Bruder sind nur Jahreszahlen bekannt: 1942 und 1943. Doch auch sie stehen nun auf dem Grabstein, den Bella und Herman Neudorf bei ihrem Deutschland-Besuch einweihen.
Die Bilder zeigen Taube Silbermann, ermordet am 26. März 1942 KZ Jungfernhof/Riga und Moses Silbermann, ermordet am 14. April 1941 im KZ Buchenwald.
Kaddish und Tränen
Es ist ein eigentümlicher Moment, der aus einer Gruppe von Individualisten eine Gemeinschaft macht: Als Rabbiner Robert Frazzen ein Kaddish, das jüdische Totengebet, liest, kann kaum jemand die Tränen zurückhalten. Steine, die man auf den Grabstein legt, drücken anstelle von Blumen die Anteilnahme aus. Doch auch das gibt es, sagt Arno Hamburger seufzend und weist auf frische Gräber russischer Einwanderer: Obwohl es in den jüdischen Gesetzen ausdrücklich nicht vorgesehen ist, schmücken Blumen die Ruhestätten. Hamburger duldet es, schon weil die Immigranten die Lebensader der Jüdischen Gemeinde Nürnberg sind. Auf 970 ist die Zahl der Mitglieder inzwischen wieder angewachsen - was Herman Neudorf Hoffnung macht. Beim koscheren Essen am Abend in der neuen Synagoge beschwört auch er "New Germany": "Die jungen Leute tragen die Verantwortung dafür, dass sich der Holocaust nicht wiederholen kann." Schon im September, wenn wieder eine jüdische Reisegruppe nach Nürnberg kommt, will man die Begegnungen intensivieren.
Bilder: Privatbesitz Herman Neudorf
Text: Welt Online, Autor: Jörg Völkerling, 24. Juli 2001
Emotional Journey
Herman and Bella Neudorf in Germany, 2001 from Andreas Jordan on Vimeo.
Holocaust Survivors, Tour Group Revisit The Past, Take Stock Of The New Germany
For most people, age 15 represents a time of facing adolescent challenges like algebra, a first date, varsity sports and flipping burgers. Not for Herman Neudorf. At 15, he was confronted with the horrors of the Nazi concentration camps. He was in several camps, including Buchenwald, during World War II. Neudorf and his wife, Bella, were born in Germany. After surviving the terrors of Nazism and war, they made a life in the United States. Recently, the Hallandale Beach couple was among 24 people who visited Germany on a special tour organized by Temple Solel in Hollywood. During the two-week trip, the group covered 2,500 miles of the nation, visited synagogues in Nuremberg, Dresden and Berlin and were welcomed by the lord mayor of Nuremberg.
There are now about 100,000 Jews in Germany, many of whom have come from Russia. "It was emotional for us," Neudorf said. "We were the only Holocaust survivors in the group. My wife comes from Nuremberg and her father died in Buchenwald. It was at the beginning of the war and she was able to attend his funeral, but they made her family pay for the postage for his ashes." The Solel group visited his headstone in Nuremberg. There they added the names of Bella's brother and mother to the headstone. "It was like an unveiling," he said. "The rabbi said prayers and the whole group surrounded us. It became very emotional and was a highlight of the trip. We felt like one family."
While the people the Solel group met in Germany were nice to them, Neudorf, who is now 76 can remember when many ordinary people cheered and participated in Nazi brutalities. "When I was asked were there any good Germans, my answer was the few good ones were in Buchenwald, because they were arrested too," he said. "We go to visit cemeteries. The new generation has changed; the people in Germany are trying to become decent citizens. The city of Nuremberg has gone from a city of the brown shirts to a city of human rights."
Dr. Bernard Shair of Hollywood was surprised by the reception the group received in Germany. "It was an eye opener of a trip," he said. "Everyone was skeptical when we left and we had a preconceived notion of what we would see. We were pleasantly surprised to see the scope of monuments and Holocaust museums that are being built. We felt very welcome there and saw no overt anti-Semitism. Most of the people we saw were young. We were impressed with the efforts to rebuild Judaism in Germany."
Rabbi Robert Frazin, who leads Temple Solel, a Reform synagogue, also liked what he saw. "This was a pioneer trip for a synagogue to visit the new Germany," he said. "At a lox and bagel reception we were welcomed by the Jewish community in Nuremberg and met a Jewish councilman who has been on the Nuremberg council since 1972. He is also president of the Jewish community there." The Solel group attended synagogue services in Dresden and saw the new synagogues being built in Germany. One synagogue went from 200 members at the beginning of 2001 to 700 members currently. Anti-Semitism and racism have been outlawed in Germany and there are many Holocaust memorials around the nation.
October 26, 2001 by David Volz Special correspondent, Sun-sentinel South Florida
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