Die Verfolgung der Familie Sondermann aus Gelsenkirchen
Die Familie Sondermann lebte schon lange in Gelsenkirchen. Jakob Sondermann, geboren am 22. August 1855 in Horn im Land Lippe, war mit seiner aus Wattenscheid stammenden Frau Lisette Spiero, dort geboren am 26. März 1859, schon in der Industrialisierung nach Gelsenkirchen gekommen, um in der noch jungen Stadt ein Geschäft aufzubauen. Noch vor dem Ersten Weltkrieg erwarb Jakob Sondermann das zwischen 1873 und 1875 errichtete Haus an der Bochumer Straße 66, damals eine der Straßen Ückendorfs mit zahlreichen Geschäften. Jakob Sondermann starb am 17. September 1931 in Gelsenkirchen und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Gelsenkirchen-Ückendorf am 20. September 1931 bestattet. Seine Frau war schon viele Jahre früher, am 30. Juni 1919, verstorben und noch auf dem alten jüdischen Friedhof an der Wanner Straße beerdigt worden. Jakob und Lisette Sondermann hatten vier Kinder. Der Sohn Ernst übernahm das elterliche Geschäft. Der am 9. Dezember 1891 noch in Hagen-Haspe geborene Kaufmann Ernst Sondermann betrieb so in Gelsenkirchen-Ückendorf ein größeres Stoff- und Garngeschäft und belieferte auch als Großhändler andere Händler.
Martha Sondermann ist im November 1943 bei der Auflösung des Ghettos Riga ermordet worden
Nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg, an dem er als Soldat teilnahm, heiratete Ernst Sondermann 1919 Martha Wolf, die aus Sobernheim an der Nahe stammte. Dort war sie am 11. März 1892 zur Welt gekommen. Das Ehepaar Sondermann hatte vier Kinder. Das älteste war die Tochter Liese, geboren am 8. Mai 1920 in Gelsenkirchen, der älteste Sohn der Familie war Kurt, geboren am 22. Dezember 1923 in Gelsenkirchen. Drei Jahre später, am 27. November 1926, war der zweite Sohn Hans geboren worden, und schließlich folgte am 29. Juni 1931 noch die Tochter Frieda. Ein weiteres Kind war im Februar 1922 wenige Tage nach der Geburt verstorben. Die Familie beachtete die religiösen Ge- und Verbote, war aber nicht orthodox orientiert. Die Kinder besuchten die jüdische Volksschule.
An der Bochumer Straße war das Zusammenleben zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Kinder bis 1933 nach der Erinnerung weitgehend problemlos und unbelastet. Allerdings wurden die jüdischen Kinder durchaus als Juden wahrgenommen, und in der nichtjüdischen Schule wurden "deutsche" Kinder auch vorgezogen. Auch in der Gesellschaft war Antisemitismus durchaus spürbar.
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Offenbar geriet das Geschäft der Familien in der Zeit der Weltwirtschaftskrise in Schwierigkeiten. Das Haus an der Bochumer Straße wurde 1932 versteigert und über die Stadtsparkasse an eine Metzgerei verkauft. Unter dem Druck der antisemitischen Maßnahmen der an die Macht gekommenen Nationalsozialisten erlebte die Familie einen raschen wirtschaftlichen Niedergang, Ernst Sondermann verdiente schließlich unter Verheimlichung seiner jüdischen Herkunft als Reisender ein wenig Geld für den Lebensunterhalt der Familie.
Marta Sondermann war zum "Stichtag" 17. Mai 1939 vorrübergehend Patientin im Sanatorium für jüdische weibliche Lungenkranke (M.A. von Rothschild’sche Lungenheilstätte) in in Nordrach/Baden. [1]
Die Familie verzog in die Gelsenkirchener Innenstadt zur Litzmannstraße 7, die vor 1926 Bankstraße, dann bis 1933 den Namen Ebertstraße trug und nach 1945 wieder Ebertstraße hieß. Schon 1933 verzog die Familie zur Bismarckstraße 50, dann 1939 zwangsweise zur Bahnhofstraße 76 (so genanntes "Judenhaus") und kam offenbar im Mai 1941 in ein weiteres "Judenhaus" an der Hindenburgstraße 41.
Ernst Sondermann wurde im KZ Kaiserwald ermordet.
Die Familie Sondermann floh nicht aus Deutschland. Ernst Sondermann - als ehemaliger deutscher Soldat aus einer alten deutsch-jüdischen Familie - meinte, dass man auch Hitler und seinen Antisemitismus überstehen würde. Als die Familie endlich die Gefahr erkannte, gab es keine Möglichkeit zur Flucht mehr. Nur die 1920 geborene Liese Sondermann, die 1927 bis 1932 die jüdische Volksschule und anschließend das Lyzeum besucht hatte, um dann das Schneider-Handwerk zu erlernen, entkam ins Ausland: Ein Verwandter der Familie, Dr. Walter Block, hatte eine Möglichkeit erhalten, in die USA zu übersiedeln, weil er, der vor Verfolgung wegen vermeintlicher "Rassenschande" aus Deutschland in die Niederlande geflohen war, einem Amerikaner medizinische Hilfe geleistet hatte. Dieser Verwandte lebte in der Nähe von New York und es gelang ihm, Liese Sondermann als Dienstmädchen in die USA zu holen und ihr damit die Flucht aus Deutschland zu ermöglichen. Liese Sondermann wurde vom Einwohnermeldeamt am 4. Juli 1938 als in die USA verzogen registriert. Die später verheiratete Liese Spiegl lebt in Kalifornien.
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Grabsteininschrift auf dem jüdischen Friedhof in Ückendorf
Auch Hans Sondermann wurde nicht mehr aus Gelsenkirchen deportiert. Er hatte wie die meisten männlichen Juden zu Beginn der 1940er Jahre schwere Arbeit zu verrichten gehabt. Nach einem schweren Arbeitsunfall kam er in das Gelsenkirchener Evangelische Krankenhaus, wo er am 8. Juli 1941 verstarb. Nach der Erinnerung des Bruders wurde Hans Sondermann nach seinem Unfall nicht ausreichend medizinisch versorgt. Hans Sondermann wurde am 10. Juli 1941 auf dem jüdischen Friedhof in Ückendorf bestattet.
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Für die übrigen Mitglieder der Familie Sondermann ist auf der Karte des Gelsenkirchener Einwohnermeldeamtes vermerkt "am 27.1.42 evakuiert". Ernst, Martha, Kurt und Friedel Sondermann wurden am 27. Januar 1942 aus Gelsenkirchen in das Ghetto Riga deportiert. Frida Sondermann gilt als verschollen im KZ Riga - das Kind verhungerte im Ghetto. Auch die Eltern wurden in Riga ermordet. Ernst Sondermann kam nach Informationen der jüdischen Kultusgemeinde Gelsenkirchen im KZ Kaiserwald bei einer der so genannten Aktionen des Lagerarztes Krebsbach um. Martha Sondermann wurde gleichfalls nach Informationen der jüdischen Kultusgemeinde Gelsenkirchen im November 1943 ermordet. Der 1942 19-jährige Kurt Sondermann wurde für verschiedene Arbeitskommandos eingeteilt und überlebte einen Leidensweg durch verschiedene Lager, dann auch im untergehenden "Dritten Reich". Die Rote Armee befreite ihn schließlich in Theresienstadt. Kurt Sondermann kehrte nach der Befreiung vom Nationalsozialismus nach Gelsenkirchen zurück, von wo er dann über verschiedene Zwischenstationen in die USA auswanderte.
Die beiden Überlebenden der Familie Sondermann stellten als Grundlage zur Erstellung von Erinnerungsberichten Videos zur Verfügung, die im Kontext der Überlieferung von mündlichen Erinnerungen der "Survivors of the Shoah Visual History Foundation" am 14. März 1996 (Liese Spiegl) und am 19. September 1995 (Kurt Sondermann) erstellt wurden. Auszugsweise werden hier in übersetzter Form diese Erinnerungen wiedergegeben.
Erinnerungen von Liese Spiegl
Mein Vater hatte uns mitgenommen, brachte mich und meinen kleinen Bruder Kurt mit dem Auto zu einem kleinen Park Es war ein schöner Tag und er sagte: "Ihr könnt hier umher wandern. Wenn ihr hungrig und müde werdet, könnt ihr in das in der Nähe liegende Hotel gehen und sie werden Euch zu essen geben." Als es dunkel wurde, gingen wir zu dem Hotel und dort sagten sie, das unser Vater angerufen hätte, dass er Probleme mit dem Auto habe, er würde später kommen, und sie schlugen uns vor, schon einmal zu Abend zu essen. Wir waren einverstanden. Nach dem Essen sagte mein Bruder, dass er müde wäre und schlafen gehen wolle. Er war acht Jahre alt. So legten sie ihn auf eine Bank und er betete. Er sagte, das er immer vor dem Schlafengehen beten müsste, er sprach ein deutsches Gebet und anschließend ein jüdisches. Das beendete alles. Ich
werde es nie vergessen, dass sie von dieser Minute an sich nicht mehr um uns kümmerten - als sie die hebräische Sprache hörten. Das war das Ende der Freundlichkeit - sie waren freundlich, bis sie herausfanden, dass wir Juden waren, das war 1931. [...]
Die Zeiten waren sehr schlecht, und unsere Familie verlor ihr Geschäft. Kurz bevor Hitler an die Macht kam, eröffneten sie ein neues kleines Geschäft. Eine kleine Drogerie. Als sie gerade dabei waren, dieses Geschäft etwas auszubauen, kam Hitler an die Macht. Ich denke 1934, als sie etwa ein Jahr das neue Geschäft hatten, standen die Nazis vor dem Geschäft, niemand kam mehr hinein, sie boykottierten alle jüdischen Geschäfte. So konnte niemand hereinkommen, und wir konnten unsere Rechnungen nicht mehr bezahlen, und wir gingen dem Bankrott entgegen.
Man konnte nur wenig retten. In der Zwischenzeit mussten wir unser großes Haus verlassen, in dem wir geboren waren, und zogen in eine Wohnung um. Als wir uns diese gute Wohnung nicht mehr leisten konnten, zogen wir in eine weniger teure Wohnung um. [...]
Die Zeiten waren hart. [...] Ich hatte sehr viel Glück: [...] Der Bruder meiner Mutter und seine Frau hatten ein Geschäft - das Stoff-Haus Wolf auch in Gelsenkirchen. Und sie hatte ihre Tochter und deren Mann und deren Kind in Amerika. Meine Tante fuhr zu ihnen in ein kleines Dorf außerhalb von New York, und sie sagte, dass sie sich dort so einsam fühlen würde und dass sie jemanden brauchte, der ihr bei der Hausarbeit helfen sollte. Sie meinte, dass Liese kommen sollte. So bekam ich meine Einreisegenehmigung. Sie brauchten mich, aber ich brauchte sie vielmehr als sie mich brauchten. Ich hoffte, dass sie auch meinen Eltern helfen könnten. Aber er gab so viele Bürgschaften für seine nähere Familie, dass er meinen Eltern nicht mehr helfen konnte. [...]
Am 26. September 1941 schrieb mir meine Mutter einen Brief, in dem sie mitteilte, dass sie auf eine lange Reise gehen müssten. Alle Briefe wurden zensiert, so konnte sie nicht schreiben, was dort vor sich ging. Sie schrieb, dass sie wohl bald mit Hans zusammen sein würden. Hans war mein verstorbener Bruder. Dann schrieben auch noch andere Leute, meine Mutter und mein Vater schrieben, Freunde schrieben, dass sie alle bald auf eine große Reise gehen würden. Sie alle wurden deportiert. [...]
Erinnerungen von Kurt Sondermann
Bevor Hitler an die Macht kam, gab es kein Problem zwischen Juden und Nicht-Juden, alle lebten gut zusammen. [...] Als ich älter wurde, änderte sich alles grundlegend - als Hitler an die Macht kam. Mein Vater kam in geschäftliche Schwierigkeiten und verlor sein Geschäft. Er verlor das Haus. Wir mussten unser Haus verlassen und in eine andere Wohnung umziehen. Wir hatten dann auch ein anderes Geschäft. Als 1933 die Nazis an die Macht kamen, standen Nazis und SS-Leute vor unseren Türen und ließen keine Leute in unser Geschäft. Wohl auch deswegen verlor mein Vater sein Geschäft. Nachdem wir vorher recht wohlhabend gewesen waren, waren wir nun arm. Meine Mutter, die vorher ein schönes Leben hatte, musste nun sagen, dass wir kein Geld für Lebensmittel haben und auch kein Geld, um die Stromrechnung zu bezahlen. Ich machte meine Hausaufgaben beim Licht einer Petroleum-Lampe, weil wir kein Geld hatten, um die Stromrechnung zu bezahlen. Meine Mutter hatte früher immer viele Leute zum Essen eingeladen, und jetzt musste sie ihre Söhne zum Markt schicken — in Gelsenkirchen gab es da einen großen Marktplatz. Da sie kein Geld zum Einkaufen hatte, musste nun nach den nicht mehr verkäuflichen Waren gefragt werden. Und das war es, was wir dann aßen. Mein Vater verlor alles, was er hatte. Mein Vater versuchte, ein neues Geschäft aufzubauen. [...] Aber es gelang ihm nicht. Die Leute wollten von ihm
nichts mehr kaufen.
Das letzte Mal, dass unsere Familie vollständig zusammen war, war als ich meine Bar Mitzwah hatte, das war im Dezember 1936. Wir wohnten da schon an der Bismarckstraße. Das war das letzte Mal, dass die ganze Familie zusammen war - alle Onkel und alle Tanten und alle Cousins und Cousinen usw. Ich erinnere mich, dass wir eine große Familienfeier zusammen hatten. [...]
Hans Sondermann, Gelsenkirchen.
Mein Bruder Hans wurde sehr religiös. [...] Wenn ich heute darüber nachdenke: Er half damals aus, als mein Vater und ich auf der Zeche arbeiten mussten und zusätzliche Arbeitskräfte gebraucht wurden. [...] Da hatte er am ersten Tag einen Unfall. Er wurde schwer verletzt und kam in ein Krankenhaus. Er hätte gerettet werden können. Es waren keine tödlichen Verletzungen.
Aber sie wollten sich nicht richtig um einen Juden kümmern und gaben ihm keine Chance zu überleben. [...] Er hätte gerettet werden können. Als ich ihn im Krankenhaus besuchen wollte, hörte ich wie ein Arzt zu einer Schwester sagte: "Es ist doch nur ein Jude. Den brauchen wir nicht." So dachten sie. Wenn ich dann sehe, wie religiös er war, dann denke ich, dass Gott ihm das Konzentrationslager ersparen wollte. Möglicherweise war es der Wille Gottes, dass er sterben sollte, bevor er in einem Konzentrationslager leiden würde.
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Als Hitler an die Macht kam, war mein Vater zuerst sehr optimistisch. Er sagte, dass dies wiederum nur eine Eintagsfliege sei. Er würde in vier Wochen schon wieder weg sein. Nach vier Wochen meinte er, dass es nur einige Monate dauern könnte. Meine Mutter sagte aber: „Lass uns alles verkaufen und nach Amerika gehen." Mein Vater sagte: „Er wird mir schon nichts tun. Ich habe im Ersten Weltkrieg gekämpft. Ich war in der Deutschen Armee und unsere Familie geht drei- bis vierhundert Jahre zurück." [...] Mein Vater meinte also, dass Hitler nicht lange bleiben würde. Doch Hitler blieb lange. Er nahm ihm alles weg, was er hatte und schließlich auch sein Leben. Wenn er auf meine Mutter gehört hätte, wäre er nach Amerika gekommen. Wir hatten eine Möglichkeit zu gehen, aber er sagte: „Nein!"
[...] Dann sagte dieser Nazi von der anderen Straßenseite, dass diese Juden hier nicht mehr leben könnten. So mussten wir umziehen. Die ganze Familie in ein Zimmer. [...] Da lebten etwa zehn Familien in einer großen Wohnung. Wir hatten nur einen Raum für Eltern und Kinder. Ich schlief auf einer Couch in der Küche. Da war eine Küche, die von allen benutzt werden musste. [...] In dieser Zeit arbeiteten mein Vater und ich auf einer Zeche. Wir arbeiteten über Tage. Wir arbeiteten bei der Kohlesortierung. Meine Arbeit war das Wegbringen der leeren Loren. In dieser Zeit mussten wir schon den gelben Stern tragen. Darauf stand "Jude". [...] Die Arbeit war weit entfernt von der Wohnung. Wir konnten dorthin mit einem Bus fahren, aber wenn die Fahrer zwei oder drei jüdische Leute an der Haltestelle sahen, fuhren sie oft vorbei, nahmen uns nicht mit. So mussten wir oft zu Fuß die drei bis vier Meilen gehen. Für mich war das nicht so viel, aber mein Vater war schon ein älterer Herr. So war es für ihn sehr anstrengend, die drei bis vier Meilen zu gehen. [...]
Eines Tages teilten sie uns dann mit, dass es Zeit wäre, Deutschland zu verlassen, und wir sollten nur einen oder zwei Koffer mitnehmen dürfen. [...] Wir wurden alle zu der Ausstellungshalle gebracht. Dort blieben wir vielleicht eine Woche. Dann brachten sie uns im Bus zum Bahnhof. Wir wurden alle in einen Zug gesteckt. Niemand wusste, wo wir hinfahren würden. Das war ein Passagierzug mit hölzernen Sitzbänken, also kein Viehwaggon. Später waren wir in solchen Viehwaggons. Es dauerte vielleicht eine Woche bis wir nach Riga gebracht worden waren. Riga ist die Hauptstadt von Lettland.
Kurt Sondermann in Häftlingskleidung
In Riga war ein großes abgesperrtes Gebiet, genannt: das Ghetto Riga. Als wir dort in die Räume kamen, fanden wir Lebensmittel auf den Tischen, wir fanden Ausweise, Kleidungsstücke - alles von den Leuten, die dort vorher gelebt hatten. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist, ob sie weggebracht oder umgebracht worden waren, ob sie getötet worden waren. Das war nun unser neues Heim - das Ghetto. Mein Vater musste irgendwo im Ghetto arbeiten. Ich wurde jeden Morgen mit einer Gruppe von Leuten aus dem Ghetto herausgebracht. Wir mussten bis zur Stadt Riga etwa fünf oder sechs Meilen laufen — zum Hafen, wo wir jedenTag Schiffe ausluden. Das war wohl für zwei oder drei Monate. Eines Tages wurde ich dann zu einem anderen Treffpunkt beordert. Sie sagten uns nicht, was wir tun sollten. Wir wurden wieder aus dem Ghetto herausgebracht. Wir mussten sechs oder sieben Stunden marschieren zu einem Arbeitslager. [...]
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Es war ein Arbeitslager, und es war Winter - es war sehr, sehr kalt. Ich hörte, es war der kälteste Winter seit 50 Jahren in Lettland. Der Boden war hart gefroren. Unsere erste Arbeit war es, Löcher in den Boden zu graben, um den Boden dann mit Dynamit aufzusprengen. Sie sollten große Massengräber ausschachten. Schließlich hatten sie es geschafft und den Boden auch weggebracht. Das war ein Feld von der Fläche eines Footballfeldes. [...] In das Massengrab kamen die Toten aus dem Ghetto. Meine Arbeit war es, die toten Leute zum Massengrab zu bringen und ihnen vorher die Kleidung auszuziehen. Die Körper waren gefroren. Sie wurden so dann ins Massengrab gelegt. [...] Alle zwei Wochen wurden die Toten durch 500 neue Leute ersetzt. Die Toten wurden durch Lebende ersetzt. Alle zwei Wochen waren etwa 500 Leute gestorben, manchmal auch mehr — wegen schlechter Ernährung, wegen des Wetters, waren getötet worden, waren erschossen worden, waren gefoltert worden.
Ich war für einige Zeit in dem Lager. Dann kamen Züge zu dem Lager. Sie wurden entladen. In den Zügen befanden sich Kleidungsstücke und alle möglichen Dinge, die dort in einem Lagerhaus gestapelt wurden. Es waren Sachen von Juden — ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. [...] Es war auch meine Aufgabe, diese Züge zu entladen und die Sachen in das Lagerhaus zu bringen. [...] Einmal hatten sie einen Mann wieder eingefangen, der aus dem Lager geflohen war. Und sie erwähnten den Namen. Sein Name war "Frank". Es war sein Nachname. Er war ein entfernter Verwandter von mir. Wir mussten uns alle aufstellen, und sie sagten, dass sie ein Exempel statuieren wollten. Wenn jemals wieder jemand aus dem Lager fliehen wollte, würden 500 Häftlinge als Geiseln umgebracht, und sie hängten ihn. Dann fragten sie, ob irgendjemand eine Verbindung zu diesem Mann habe. Niemand meldete sich, und ich natürlich auch nicht. Dann suchten sie sich Geiseln aus. Sie gingen an der Reihe der Häftlinge vorbei. Einer war gleich neben mir. Sie stellten die Geiseln in einer Reihe auf und erschossen sie. Dann sagten sie: "Das ist es, was passieren wird. Wir haben für euch ein Exempel statuiert."
Friedel Sondermann starb im Ghetto Riga an Unterernährung
Eines Tages wurde ich dann auf einen Lastwagen befohlen. Und wir hatten vorher gehört, dass, wenn sie jemanden auf einen Lastwagen bringen, dann bringen sie ihn weg und erschießen ihn. Bevor ich jedoch auf den Lastwagen musste, war noch jemand aus dem Ghetto gekommen und hatte mir erzählt, dass meine Schwester Friedel an Unterernährung gestorben war. Er war aus meiner Heimatstadt. Er kannte mich, und er erzählte mir das. Mein Vater hatte ihn gebeten, mir das mitzuteilen. Sie war damals etwa elf oder elfeinhalb Jahre alt. Sie starb an
Unterernährung.
Wir wurden nun auf den Lastwagen geladen. Wir waren etwa zwanzig Leute. Sie brachten uns nach Riga. Sie brachten uns zum NS-Hauptquartier. Als wir dort angekommen waren und wir dort standen, sagte jemand, dass wir dreckig wie die Schweine wären und dass wir stinken würden. Das war die Wahrheit. So wurden wir in ein Bad gebracht. Uns wurde befohlen, uns zu waschen, und man gab uns neue Kleidung. Ich dachte: Was geht hier vor? Ich konnte es nicht glauben. Dann wurde uns gesagt, dass wir zum NS-Hauptquartier gebracht worden waren, weil wir für eine Arbeit ausgesucht worden seien. Wir sollten ein neues Konzentrationslager in der Nähe von Leningrad bauen. [...] Das war hinter der deutschen Front. Die Deutschen hatten die ganze Gegend schon erobert. [...]
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Als ich dorthin kam, gab es dort russische Baracken. Meine Arbeit war es, dort zu helfen, dort Ofen in den Baracken einzubauen. Ich musste Ziegelsteine tragen und Zement mischen und dem Maurer helfen. Wir bauten dort ein Lager auf - eine Küche usw. - ich weiß nicht wie viele tausend Leute sie dort hinbringen wollten, aber der Plan, dort ein Lager zu errichten, wurde nie umgesetzt: Manchmal wurde ich mit Lastwagen zur deutschen Front gebracht, um dort Lebensmittel und Material abzuholen aus deutschen Militärdepots. [...] Wir bauten dieses Lager auf, und es war auch fertig, um Menschen aufzunehmen. Aber in der ganzen Zeit hörten wir Maschinengewehrfeuer und Kanonen
und weiteren Kriegslärm. Und wir fanden heraus, dass die Russen vorrückten. Sie drängten die Deutschen zurück. [...] Das gab uns neue Hoffnung.
[...] Dann brachten Sie uns in Wagen weg und wir hatten nichts zu essen und kein Wasser. [...] Und dann kamen wir zurück nach Riga. In Riga war es die Zeit, in der sie das Getto liquidierten. Und dabei sah ich meine Mutter zum letzten Mal. Ich kehrte zu dem alten Ort zurück, und sie war dort in demselben Gebäude und demselben Raum, sie lag im Bett, und es ging ihr schlecht. Ich ging zu ihr, und wir umarmten uns. Und wir sprachen, ich erzählte ihr von mir, wo ich gewesen war, was mit mir passiert war. Und sie sagte mir, dass das Getto liquidiert werden sollte und alle sollten nach Auschwitz geschickt werden. [...] Sie konnte nicht aus dem Bett aufstehen, ich glaube sie kam nie in Auschwitz an. So musste ich Abschied nehmen [...] ich drehte mich noch einmal um, bevor ich aus dem Raum heraus ging, und das war das letzte Mal, dass ich meine Mutter sah.
Von dort aus wurde ich nach Kaiserwald gebracht, dass das Konzentrationslager in Riga war. [...] Dort traf ich meinen Vater - in Kaiserwald [...] jemand erkannte mich und sagte mir: "Dein Vater ist hier", ich bat, ihn zu benachrichtigen, weil ich in einem abgesperrten Teil des Lagers war. Da war ein Zaun zwischen verschiedenen Teilen des Lagers und ich konnte nicht heraus. Mein Vater kam und wir konnten durch den Zaun miteinander reden. Ich erzählte ihm, was mit Mutter passiert war und er sagte zu mir: "Wenn sie nicht mehr lebt, will ich auch nicht mehr leben, ohne sie gibt es für mich auch kein Leben." Ich sagte nicht viel, ich konnte nicht viel sagen. Auch er wusste, dass das Getto liquidiert werden sollte und alle nach Auschwitz geschickt werden würden. Wir sprachen eine Weile und ich sagte, dass wir uns wieder sehen würden, doch ich sah ihn nie wieder, weil ich am nächsten Tag aus Kaiserwald weggebracht wurde. [...]
Nach Kaiserwald wurde ich zurück zu der SS-Gruppe gebracht und damit wurde ich in eine Stadt gebracht, an deren Namen ich mich nicht erinnere. Es war eine Stadt im Norden Lettlands. Dort gab es kein Konzentrationslager oder ähnliches, ich war in einer Gruppe von Leuten, die in der Mitte der Stadt wohnten, unter der ganz normalen Bevölkerung. Wir konnten uns frei bewegen. Ich erinnere mich gar nicht richtig, ob wir Wachen hatten. Ich denke, wir hatten nur ein oder zwei Wachen, die waren aber nie zu sehen. Sie ernährten uns gut. Wir be- und entluden Lastwagen mit Bauholz. Wir gingen selbständig zur Arbeit und zurück zu unserer Unterkunft. Da war eine Bäckerei, da gingen wir hin und sie gaben uns Brot. Sie wussten, dass wir Häftlinge waren, dort gab es Brot und wir hatten viele Lebensmittel. Es war unglaublich, dass so etwas passieren konnte. Wir konnten aber auch nicht flüchten, weil wir nicht wussten, wohin wir sollten und was wir machen sollten. Nach der schlimmen Zeit im Konzentrationslager waren alle sehr froh, dass so etwas überhaupt passieren konnte. [...]
Dann wurde ich nach Riga zurückgebracht. Von Riga kamen wir dann in ein Konzentrationslager irgendwo auch in Lettland. Ich erinnere mich nicht mehr an den Namen. [...] In der ersten Zeit als ich dort war, kamen auch viele ungarische Frauen dorthin. [...] In diesem Camp passierte uns wieder dasselbe, die Russen kamen und wir wurden zu einem Hafen in Lettland gebracht. Wir waren dort in einem großen Lagerhaus, nachdem wir ungefähr eine Woche marschiert waren. Wir wurden zu dem Hafen gebracht und auf ein Schiff. Es war ein Frachtschiff. Wir wurden nach Stutthof gebracht. Stutthof war ein Konzentrationslager in Ostpreußen, nicht weit entfernt von Danzig.[...]
Wir kamen zu diesem Lager und es war das sauberste Lager, das ich je gesehen habe. Man konnte dort vom Fußboden essen. Wir kamen dort nachts an. Es begann zu regnen. Wir mussten die ganze Nacht im Regen stehen, das werde ich nie vergessen. [...] Sie trennten Männer und Frauen, es gab dort keine Kinder. Die Männer kamen auf die eine Seite, die Frauen auf die andere Seite. Dann wurden wir in das Lager selbst gebracht, nachdem wir für viele Stunden im Regen gestanden hatten. [...] Ich weiß nicht, wie lange ich in Stutthof war, von dort aus brachte man uns dann nach Buchenwald. Buchenwald war eines der größten Konzentrationslager, es war auf einem Hügel bei einem Wald, man konnte meilenweit sehen - ein schönes Land rundherum. Man kam ins Lager und da stand geschrieben "Arbeit macht frei". [...]
Da kamen nun die Russen von der einen Seite und die Alliierten von der anderen Seite. Die Amerikaner bombardierten tagsüber und die Royal Air Force in der Nacht. Eines Tages warfen sie Flugblätter ab und kündigten die Bombardierung von Buchenwald an. Es gab dort eine Fabrik, bei Buchenwald, wo die Häftlinge arbeiten mussten, ich selbst musste in Buchenwald nicht arbeiten. Sie gaben an und sie teilten mit, dass sie die Fabrik bombardieren wollten, wenn wir die Fabrik um 12 Uhr für die Mittagspause verließen. Wir sollten aufpassen, dass wir bei dem Angriff nicht umkamen. Sie bombardierten dann das Krematorium, wo die Toten verbrannt wurden, den Wachturm, wo sie ein Maschinengewehr hatten. Sie bombardierten die SS-Häuser und am nächsten Tag lagen dort 400 tote deutsche Soldaten aufgereiht. Sie waren dort hingelegt, um sie dann zu beerdigen. Aber sie warfen keine Bombe auf das Lager selbst. In dieser Weise bombardierten sie strategisch. Und sie bombardierten die Fabrik, als alle draußen waren. Ich glaube, es wurde niemand von den Gefangenen getötet. [...] Wir fanden das wundervoll, denn jetzt sahen wir noch eine Chance herauszukommen. [...]
Aus dem nächsten Lager in Jena wurden wir weggebracht, als Wiederum die Russen von der einen Seite und die Alliierten von der anderen Seite kamen. Sie versuchten uns nach Theresienstadt zu bringen. [...] Der Zug, mit dem wir transportiert wurden, wurde von amerikanischen Flugzeugen beschossen - sie wussten ja nicht, ob wir Gefangene oder Soldaten waren. Die Wachen und alle von uns rannten in die Wälder. Die Wachen liefen schneller weg als wir. [...] Zwei Freunde und ich rannten auch in den Wald, kamen aber nicht mehr heraus. Wir blieben dort die ganze Nacht, wir schliefen. Wir hatten nichts anzuziehen, es war sehr kalt, wir hatten nur unsere Gefangenenkleidung. So beschlossen wir, dass wir am Morgen zur Hauptstraße zurückgehen sollten, um vielleicht etwas zu essen zu bekommen. Dabei fassten uns die Wachen dann wieder und sammelten uns wie die anderen ein.
Wir wurden dann mit etwa 3.000 Leuten auf den Marsch nach Theresienstadt geschickt. Bei dem Marsch terrorisierten sie die Häftlinge. Wer nicht schnell genug gehen konnte, wurde ermordet. Den ganzen Tag über erschossen sie Leute. [...] Als wir Theresienstadt erreichten, waren wir, denke ich, noch 75 Leute, 75 von 3.000. [...] Dann waren wir in Theresienstadt und wir bekamen neue Kleidung, wir konnten uns waschen. Zu der Zeit wog ich noch etwa 70 bis 80 Pfund, ich war nur noch Haut und Knochen. Wir bekamen etwas zu essen, es war aber nur sehr wenig. Wir kamen in eine Baracke. Am 8. Mai 1945 wurde ich befreit. Es war der Tag des Ende des Krieges.
Noch an diesem Tag - ich werde es nie vergessen - starben noch viele Menschen, nachdem sie alles überstanden hatten und bis zu diesem Tag überlebt hatten. Sie waren nun freie Menschen, aber sie starben noch am selben Tag. Ich hatte glücklicherweise überlebt, ich war sehr schwach, aber ich konnte laufen, langsam. Ich lag die meiste Zeit nur noch im Bett, ich hatte nur ein Bett mit einem Laken und einer Decke - es war unglaublich. Das war etwas, worüber ich glücklich war. [...]
Quellen
Die lebensgeschichtlichen Erinnerungen von Liese Spiegl und Kurt Sondermann wurden erstmalig in dem Buch von Stefan Goch "Jüdisches Leben. Verfolgung - Mord - Überleben, Ehemalige jüdische Bürgerinnen und Bürger Gelsenkirchens erinnern sich" veröffentlicht. "Die Verfolgung der Familie Sondermann (S.121-127 ff., Klartext 2004, ISBN:3-89861-249-X
[1] ID-Nr. aus der 1939 Volkszählung VZ379393, VZ328644
Fotos: Familie Sondermann, Familie Spiegl
Foto Kurt Sondermann: Yad Vashem Photo Archive. Credit: Yad Vashem
Name of submitter: Vohlyn House (Gelsenkirchen, Germany, Survivor Kurt Zandermann in prison clothes. - Bei der Schreibweise des Nachnamens handelt es sich um einen Übermittlungsfehler)
Archival Signature: 1400/25
Foto Grabsteininschrift Hans Sondermann: Gelsenzentrum e.V.
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