Verfolgung und Entrechtung
Abb.: Ilse und Paul Eichengrün mit Tochter Lore, Norderney um 1930
Paul Eichengrün stammte aus einer reichen Kaufmannsfamilie in Witten, wo er am 5. September 1899 als Sohn von Sally und Bertha Eichengrün geboren wurde. In Witten besuchte Paul Eichengrün die Volksschule und das Realgymnasium. Anschließend musste er zum Militärdienst bei der Marine. Er war mit Ilse Schloßstein verheiratet, die am 27. September 1904 in Krefeld zur Welt gekommen war. Tochter Lore wurde am 16. Februar 1927 in Gelsenkirchen, Sohn Werner am 12. Februar 1929 geboren.
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Nach dem Ersten Weltkrieg konnte er dann 1919 sein Medizinstudium in Heidelberg aufnehmen. Nach dessen Abschluss ließ er sich in Gelsenkirchen nieder. Dr. Paul Eichengrün, der ein großes Haus mit seiner Praxis an der Neustraße 7 (während der NS-Zeit "Stürmerstraße", nach 1945 umbenannt in Gildenstraße) gegenüber der alten Gelsenkirchener Synagoge hatte, war ein angesehener Bürger Gelsenkirchens. Er war nicht nur Mitbegründer des jüdischen Turnvereins "Hakoah" in Gelsenkirchen, sondern auch Spieler in der Altherren-Mannschaft des FC Schalke 04, bis Ende März 1933 bekleidete er das Amt des 2. Vorsitzenden.
Als der DFB (Deutscher Fußball Bund) im April 1933 den Ausschluss von Juden aus führenden Stellungen der Vereine beschloss, "verabschiedete" der FC Schalke 04 seinen 2. Vorsitzenden Dr. Paul Eichengrün ebenso wie den Leiter des Presseauschusses, Nathan. Die beiden frühen jüdischen Förderer des FC Schalke 04 waren ebenfalls der Diskriminierung und Verfolgung durch die Nazis ausgesetzt. So wurde Metzgermeister August Kahn am 27. Juli 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert und dort am 11. Oktober 1944 ermordet, der Metzgermeister Leopold Sauer wurde am 27. Januar 1942 in das Ghetto Riga deportiert und im März 1945 in Rieben, einem Außenlager des KZ Stutthof, ermordet.
Paul Eichengrüns Tochter Lore, die mit ihren Eltern aus Gelsenkirchen in die USA emigrieren konnte und dort Laura Gabriel hieß, berichtete bei ihrem Besuch auf Einladung der Stadt Gelsenkirchen 1998 auch von der Absetzung ihres Vaters als 2. Vorsitzender der "Knappen", wie sich der FC Schalke auch nannte, kurz nach der Übergabe der Machtübergabe an die Nazis. Obwohl sie die fortschreitende Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung erleben mussten, konnte sich die Familie Eichengrün nicht frühzeitig entschließen, Deutschland zu verlassen. Da sie erst nach Kriegsausbruch eine Einreisegenehmigung für die USA erhielten, hatte die Familie die Entscheidung für eine Ausreise wohl erst in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre getroffen. Die Ereignisse der so genannten "Reichskristallnacht" machten der Familie dann klar, wie groß die Gefahren für Leib und Leben nun schon waren.
Als Dr. Eichengrün in der "Kristallnacht" aus einem Fenster seiner Wohnung heraus die gegenüberliegende brennende Synagoge fotografieren wollte, stürmten SA-Männer, die dieses bemerkten, in die Wohnung, entrissen Paul Eichengrün die Kamera und schlugen ihn fürchterlich zusammen. Daher entschlossen sich Paul und Ilse Eichengrün, die inzwischen auch die Eltern von Ilse Eichengrün im Haus aufgenommen hatten, die beiden Kinder, Lore und Werner, mit einem Kindertransport nach Großbritannien zu schicken, um sie dort im sicheren Ausland auf die Weiterreise in die USA warten zu lassen.
Im Februar 1939 verließen die beiden Kinder Deutschland und gelangten mit einem der Kindertransporte nach Großbritannien, wo sie in Pflegefamilien aufgenommen wurden. Während Lore Eichengrün den Kindertransport und den Aufenthalt in der Pflegefamilie als großes Abenteuer wahrnahm, machte der zwei Jahre jüngere Werner Eichengrün nach den Berichten seiner Schwester nicht so positive Erfahrungen. Auch das Ehepaar Eichengrün konnte mit Hilfe von Bürgschaften im August 1939, drei Wochen vor Beginn des Zweiten Weltkrieges, nach Großbritannien ausreisen.
Den Eltern von Ilse Eichengrün, Josef Schloßstein, geboren am 2. November 1870 in Nürnberg, und Ida Schloßstein, geborene Schnock, geboren am 6. Juli 1875 in Rheydt, gelang es nicht mehr, aus Deutschland herauszukommen. Sie wurden beide schließlich in ein so genanntes "Judenhaus" an der Klosterstraße 21 eingewiesen und von dort am 27. Juli 1942 gemeinsam mit anderen Menschen jüdischer Herkunft in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Josef Schloßstein wurde 16. September 1942 im KZ Theresienstadt, Ida Schloßstein am 23. September 1942 im KZ Treblinka ermordet.
Die in Großbritannien gerettete Familie Eichengrün konnte erst im Oktober 1940, nachdem ihre Quotennummern zur Einreise in die USA aufgerufen worden waren, dorthin Weiterreisen. In den USA konnte Dr. Paul Eichengrün nicht mehr als Zahnarzt arbeiten, die Nazis hatten ihm den Doktortitel aberkannt. Die "Mitteilung über die Aberkennung des akademischen Grades" der Medizinischen Fakultät Heidelberg wurde im "Deutschen Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger" am 11. Februar 1942 veröffentlicht. So fand er als Zahntechniker Arbeit und Einkommen. Paul Eichengrün starb 1985, seine Frau Ilse starb bereits 1960.
Erinnerungen von Laura Gabriel
Wir wuchsen sehr privilegiert auf. (...) Wir hatten ein sehr großes Haus, wir hatten Haustiere, alles. (...) Auch wir wurden Opfer der Reichskristallnacht. Es war erstaunlich, aber als Kinder wussten wir ziemlich genau, was damals vor sich ging. Obwohl unsere Eltern sich oft nur flüsternd unterhielten, sorgten sie doch dafür, dass wir Bescheid wussten. Und ich wusste, dass dieser deutsche Attache in Paris getötet worden war - wahrscheinlich von einem Juden.
So wurde ich in dieser Nacht aufgeweckt und dachte, unser Haus stände in Flammen. Ich fing an zu schreien, ich war im Kinderzimmer zusammen mit meinem Bruder. Und dann rannten wir zu meinen Eltern, und meine Eltern sagten uns, dass wir leise sein sollten. (...) Wir hatten ja ein sehr großes Haus. Mittlerweile waren meine Großeltern zu uns gezogen. Die wohnten nun in der ersten Etage - es war wirklich ein sehr großes Haus. (...) Und dann kamen sie in unser Haus, bestimmt 20, 25 Leute. Vater kannte einige Leute, weil sie Patienten meines Vaters gewesen waren. Sie waren wie wilde Tiere. Sie stürmten in die Küche, sie zerstörten alles. Hier ist der Hinweis auf das zerstörte Kristall ganz richtig. Sie zerstörten alles, was sie erreichen konnten. Dann gingen sie in die Wohnung meiner Großeltern und zerstörten auch dort alles. (...) Dann holten sie meinen Vater, um ihn einzusperren, und dann gingen sie auch und holten meinen Großvater. (...) Ich erinnere mich, dass mein Varer sagte, dass sie den alten Mann wieder gehen lassen sollten. Und aus welchem Grund auch immer, sie ließen ihn wieder frei.
Als sie dann fertig waren, alles in der ersten Etage zu zerstören, wollten sie nach oben in die nächste Etage gehen, dort, wo die Schlafzimmer usw. waren. Und da stellte sich ihnen die Mieterin aus der obersten Etage in den Weg. Sie war wie eine Walküre, wie eine von Wagner erfundene Gestalt, groß und blond, und sie sagte: "Ihr geht hier nicht rauf." Und sie gingen nicht hinauf, und so zerstörten sie nur die eine Etage unseres Hauses. Aber sie verhafteten meinen Vater. (...) In dieser Stadt (Gelsenkirchen) verhafteten sie alle jüdischen Männer und mein Vater war nur einer von ihnen. So brachten sie alle zur Polizeistation und hielten sie dort fest. Viele von ihnen wurden in Konzentrationslager geschickt. (...) Mein Vater wurde schließlich mit Hilfe von Geld befreit. Meine Mutter konnte ihn "freikaufen". So konnte er wieder nach Hause kommen. Ich denke, hier war nun der Punkt erreicht, an dem meine Eltern entschieden, dass sie die Kinder aus Deutschland herausbringen mussten.
(...) Meine Eltern hatten ein Affidavit, eine beglaubigte Bürgschaftserklärung, um nach Amerika gehen zu können. Sie hatten eine Quotennummer, um in die USA zu kommen. Die USA hielten sich strikt an diese Quotennummern, sonst hätten sie alle retten können. Meine Großeltern hatten auch eine Quotennummer. Aber sie kamen um, weil zu der Zeit als ihre Quotennummer aufgerufen wurde, der Krieg bereits angefangen hatte, und sie kamen nicht mehr heraus. Meine Eltern warteten also auf die Ausreise. Sie warteten also auf ihre Quotennummer, so dass sie Deutschland verlassen konnten. Mein Vater hatte einen Cousin in Missouri, der uns die Bürgschaft gegeben hatte. Sie konnten nichts tun als warten und das war es wohl, warum meine Eltern entschieden, als die Dinge immer schlimmer wurden, zunächst einmal die Kinder zu retten. (...)
Kindertransport nach England
Es war schrecklich, Jude zu sein. (...) Man fühlte sich schlecht und erniedrigt. (...) Als meine Eltern mir also sagten, dass wir nach England gehen sollten — und sie sagten es mir natürlich so, dass ich glaubte, dass sie mit dem nächsten Schiff nachkämen, (...) war das für mich keine schlimme Vorstellung (...). Sie sagten es uns wohl zwei Tage vor unserer Abreise, und sie sagten uns, dass wir nach England gehen würden, dort hatten wir einen Onkel. Der Bruder meines Vaters lebte schon in London. Sie hatten eine Tochter in meinem Alter. So fühlte ich mich ganz gut, weil ich wusste, dass ich dort Verwandte hatte. Meine Eltern ließen es also alles sehr gut klingen. (...) Ich erinnere mich an zwei Gefühle, die ich hatte, die heute eher lächerlich klingen. Ich war einfach jung. Zuerst war ich froh, dass ich nicht mehr zur Schule gehen musste. Ich hasste die Schule, und ich hasste meine früheren Freunde. Die andere Sache war, dass ich mich darauf freute, in England wieder ins Kino gehen zu können. (...) Das war halt so wie ein Kind fühlte. So wie meine Eltern es mir beibrachten, so zweifelte ich keine Minute. Ich zweifelte nicht, dass sie nachkommen würden. (...)
Ich erinnere mich daran, dass wir vom Bahnhof in Hamburg losfuhren und dass meine Großeltern plötzlich weinten. Meine Eltern versuchten zu lächeln, und meine Großeltern weinten. Ich selbst dachte nur, dass meine Großeltern sentimental wären. (...) Ich erinnere mich nur wenig an die Reise. (...) Wir fuhren zunächst nach Hoek van Holland. Es war sehr kalt, da Februar war. Die Überfahrt nach England erfolgte dann bei sehr rauher See. (...) Ich erlebte es als ein wundervolles Abenteuer. Ich war mir sicher, dass ich meine Eltern und Großeltern sehr bald wieder sehen würde. Im Nachhinein muss ich meine Eltern sehr bewundern, wie gut sie uns das alles vorgespielt hatten. Man muss sich vorstellen, was die Eltern dabei gefühlt haben. Man kann sich das gar nicht vorstellen. (...)
In London kamen wir zu einem großen Verteilzentrum. (...) Dort waren sehr viele Kinder. Man musste warten, bis man aufgerufen wurde. (...) Und dann wurde mein Name gerufen, und dann kam diese Frau zu mir, in einem warmen Mantel, und sie sah aus wie eine Lehrerin. Und sie kam zu mir, umarmte mich und gab mir einen großen Kuss und sagte: "Ich bin deine Tante. Du kommst jetzt mit mir nach Hause." (...) Sie brachte mich mit einem Auto nach Hause - sie war mit ihrem Mann da. Sie hatten selbst vier Kinder. Eines davon genauso alt wie ich — nur eine Woche Unterschied. (...) Von dem Moment an, als ich dort ankam, fühlte ich mich willkommen und geliebt.
Jahre später, als ich zurück nach England kam, besuchte ich die Familie, die mich aufgenommen hatte, und ich fragte sie, warum sie das getan haben. Sie hatten ja selbst eine große Familie. Er sagte, dass es nicht genug sei, die Zeitung zu lesen und den Kopf zu schütteln und zu sagen: "Wie schrecklich. Man musste etwas tun. Wir wollten etwas tun." (...) Aber das Beste, was sie dann noch taten, war, dass sie meine Eltern retteten. Sie bürgten für meine Eltern, so dass meine Eltern nach England kommen konnten und hier auf ihre Quotennummer für Amerika warten konnten. (...) So kamen meine Eltern rüber nach England drei Wochen bevor der Krieg anfing. Es war im August und ich war seit Februar dort. Ich war also nicht sehr lange von meinen Eltern getrennt.
Laura Gabriel schilderte 1993 in einem Video-Interview ihre Flucht aus Deutschland. Übersetzte Ausschnitte aus diesem Interview werden hier wiedergegeben. Aus Stefan Goch: Verfolgung, Überleben, Mord - "Erinnerungen von Laura Gabriel" S. 174-176 ff. Klartext, 2004. "Verfolgung und Entrechtung" , vgl. ebd. S.172-174
Laura Gabriel spricht in der Hillel Yeshiva Shool
Abb.: Laura Gabriel 2008 in der Hillel Yeshiva Shool in Ocean, NJ
Laura Gabriel, geborene Eichengrün (Oakes) starb am 12. Dezember 2009 im Kreise ihrer Familie und ihrer Freunde in New Jersey, USA. Laura Gabriel war von der Gründung 1990 bis zu Ihrem Tod Mitglied der Kindertransport Association (KTA) in Hicksville, New York. Am 7. Mai 2008 sprach sie vor Schülerinnen und Schülern in der Hillel Yeshiva Shool über ihr Leben und den Kindertransport, der ihr Leben rettete. Lee Matalon fragte Frau Gabriel: "Warum lächeln sie, während sie uns ihre Lebensgeschichte erzählen?"
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Laura Gabriel erwiederte: "Ich lächle, weil ich glücklich bin. Damals in Deutschland, in Gelsenkirchen im Alter von 11 Jahren, da haben mir die Knie gezittert, ich hatte so große Angst, meine Eltern zu verlassen. Ich hoffte und bangte, ich wußte ja nicht, ob ich meine Eltern je wieder sehe. Ich kam zu einer netten Familie nach England und entwickelte eine starke emotionale Bindung zu dieser Familie, die bis heute andauert. Ich habe geheiratet, habe Kinder und Enkel, habe ein erfolgreiches Geschäft aufgebaut und bin aktives Mitglied der "Kindertransport Association" - Das alles wäre ohne den Kindertransport nicht möglich gewesen".
Englische Orginalfassung und Foto: Hillel Yeshiva Shool in Ocean, New Jersey, USA
Bild Norderney 1930 aus dem Privatbesitz von Laura Gabriel
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