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Die Geschichten aus der Familie Banning aus Gelsenkirchen

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Wer kennt sie noch, die Stummelgasse? Zeitgeschichte, gelebt mitten im Ruhrgebiet - in Gelsenkirchen. Heinz Bannigs Schilderungen geben einen Einblick in die Gelsenkirchener Vergangenheit und erlauben uns den Blick in das Alltagsleben seiner Familie. Banning schildert das Leben zwischen den beiden Weltkriegen, den Kriegsalltag in Gelsenkirchen und die Nachkriegszeit bis hin zur Währungsreform.



Familie Banning aus Gelsenkirchen

Im Jahre 1890 wurde Josef Banning in Röhlinghausen, einem Stadtteil von Wanne-Eickel (gehört heute zu Herne) geboren. Im Kreis einer Familie mit fünf Kindern wuchs er auf. Er war gerade drei Jahre alt, als schon sein Vater starb. Die Schulzeit erlebte er in Bocholt, denn die Mutter war mit ihren Kindern an ihren Geburtsort zurückgekehrt. Nach seiner Volksschulzeit erlernte er das Schreinerhandwerk und war bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges als Schreinergeselle im Münsterland beschäftigt. Er erzählte einmal, dass er, noch nicht vierzehn Jahre alt, in die Lehre kommend, nicht an die Hobelbank ran kam. Sie mussten ihm ein paar Balken unterlegen. Er wurde erst später ein großer stattlicher Mann.

Der erste Weltkrieg

Um dem Militärdienst mit der Waffe zu entgehen, meldete er sich bei Kriegsausbruch 1914, zu den Sanitätern. Wegen seinem ruhigen, besonnenen und hilfreichen Dienst an der Front, wurde er schon bald zum Obergefreiten im Sanitätsdienst befördert. "Argonner Wald, um Mitternacht, ein Pionier steht auf der Wacht. Ein Sternlein hoch am Himmel stand, bringt ihm ein Gruß, aus fernem Heimatland." Dieses Lied drang durch die Unterstände, der Schützengräben von Verdun. Es ging unter im unablässigen Donner der Geschütze, dem Pfeifen der Kugeln und dem Zerplatzen der Granaten. Nur der Ruf, der Schrei: "Sanitäter! Hilfe! - Hilfe! - Sanitäter!" drang bis in den letzten Winkel des Schützengrabens durch. Er kam unmittelbar nach einem Granateneinschlag. "Zwei Sanis mit Tragbahre, zum übernächsten Unterstand nach links!" rief jemand.

"Schulze und Banning! Sie müssen heraus!" Das Erteilen des Befehls, war nur noch ein überflüssiger Hinweis. Jeder wusste, was nach einem Granateneinschlag im Graben los war. Josef stand auf. Das ermüdende Warten auf den nächsten Befehl ging einem auf die Nerven und hatte nun ein Ende. Er legte die erloschene Pfeife auf die Kiste, schnallte seinen Koppel um, setzte den Stahlhelm auf, nahm den Sanitätsrucksack und die Tragbahre mit in den Schützengraben hinaus. Schulze folgte ihm. Das Dunkel der Nacht umfing sie. Der Mond war hinter den Wolken verborgen und die Sterne verschleiert durch den Rauch eines Brandes, vom Rest einer eingefallenen Scheune. Der Hilfeschrei kam nicht aus dem Graben. Er kam aus der zurückliegenden, eingefallenen Scheune. "Das kann doch nicht wahr sein!" sagten sie. "Jeder weiß, dass diese Trümmer keinen Schutz bieten und der Franzose immer wieder dort hineinschießt. Ich möchte nur wissen, was unsere Leute dort suchen. Noch gestern haben wir zwei Tote da herausgeholt. "Aber es hilft nichts! Wir müssen dort hin. Wenn es ein Feldwebel ist, kriegen wir später das Eiserne Kreuz. - Gott helfe uns, dass wir durch solch eine Blödheit nicht das Eisen ins Kreuz kriegen. Wir müssen hin. Der schreit zum Gotterbarmen."

"Also auf - Schulze, Banning, im gebückten Lauf, die Bahre in der Mitte." Sie schoben die Bahre aus dem Graben heraus, kletterten nach und stolperten dann durch die dunkle Nacht, die nur vom aufblitzendem Granatfeuer und den schwelenden Bränden erhellt wurde, um die Granattrichter herum, dem Schrei entgegen. Es ging nicht so schnell. Bei jedem Aufheulen einer Granate, mussten sie sich hinwerfen, und um dem Splitterregen zu entgehen, das Gesicht an den Boden pressen. In der Scheune fanden sie zwei. Der eine, ein Schütze, war schon tot. Vornüber, auf seinem aufgepflanzten Gewehr lag er. Der Stahlhelm war verrutscht und hing herab. Aus seinem Mund quoll das Blut. Das Bajonett, das hervorragte, ließ ihn in der Dunkelheit wie ein Gespenst erscheinen. Der andere, ein Unteroffizier, reckte blutüberströmt seine Arme empor und schrie: "Mein Bein! – Mein Bein!"

"Dürfen wir fragen, was ihr hier gesucht habt? Wir müssen dein Bein abbinden, damit du nicht unnötig viel Blut verlierst." "Wir wollten nur irgend etwas Essbares besorgen. Wir sind seit drei Tagen vom Nachschub abgeschnitten. Unsere Notration ist aufgebraucht und unser ganzer Zug ist am verhungern. Wir bringen dich zurück zum Notlazarett. Deinen toten Kameraden können eure Leute aus der zweiten Reihe holen. Wir müssen gleich wieder in den vordersten Graben."

Steckrübenwinter

Der Einsatz vor Verdun ging bis zum bitteren Ende. Der Krieg ging verloren. Nach den Kriegswirren war in der Heimat kein herzliches Willkommen. Auch dort hatte man den Steckrübenwinter noch nicht vergessen und man hungerte immer noch. Aus dem Krieg heimgekehrt, war auch seine Mutter verstorben. Er suchte zuerst seine Schwester Anna und seinen Bruder Wilhelm in Bocholt auf. Die beiden hatten dort ihr Auskommen und waren verheiratet. Besonders zu seinem Bruder Wilhelm fanden seine Wege später immer wieder zurück. Josef trieb es nach Gelsenkirchen. In der Stadt der Kohle und des Stahls fand er Arbeit. Mit gleichgesinnten Schreinergesellen, wie Johannes Zellermann, schulten sie sich und bereiteten sich im Kolpinghaus auf die Meisterprüfung vor. Hier im Kolpinghaus, im Gesellenverein trafen sich die Handwerksgesellen aus allen Berufen, wie Schreiner, Schneider, Zimmerleute, Maler und Schuhmacher, die alle das gleiche Ziel hatten. Wo junge Menschen zusammen waren, da gab es natürlich viel Unterhaltung, Gesang und zu Lachen. Hier lernte er die junge Frau Petronella Gratzfeld kennen. Petronella wurde meistens nur Nella gerufen. Sie kam aus Oberdollendorf am Rhein und war in einer Familie mit vierzehn Kindern groß geworden. Ihre Eltern besaßen eine Gaststätte und einen kleinen Weinberg. Diese muntere Familie ließ sie auch später immer wieder sich froh an ihre Kindheit erinnern.

Nach ihrer Volksschulzeit schickte man sie zur weiteren Ausbildung für Küche und Haushalt zu den Ursulinenschwestern nach Dorsten im Münsterland. Hier lernte sie auch etwas französisch. Es war die Zeit, als das Rheinland von französischen Truppen besetzt war. Ihr Bruder Fritz war Beamter bei der deutschen Reichsbahn in Gelsenkirchen. Er holte seine liebe Schwester nach Gelsenkirchen. Im Kolpinghaus, in der Küche und zur Bedienung in der Gaststätte, fand sie einen Arbeitsplatz. Im Kolpinghaus lernte sie den Josef Banning kennen. Josef machte die Meisterprüfung im Tischlerhandwerk und übernahm die Schreinerwerkstatt Golz in der Roonstrasse.

Die Hochzeit wurde am vierten April 1923 in Oberdollendorf am Rhein mit vielen Bekannten und Verwandten gefeiert. Ihre Brüder hatten eine Festzeitschrift gemacht und gedruckt. Der Wein zum Hochzeitsfest ermunterte die Gäste aus dem Ruhrpott und dem Münsterland. Es wurde gesungen, geschunkelt, gelacht und der Rheinländer getanzt. Es war Mutters Lieblingstanz. Nella war nicht ganz einundzwanzig Jahre alt, als sie den Haushalt als Frau "Meisterin" übernahm. Es kamen Tage, da dachte sie: Ich komme in dieser schweren Zeit mit dem Betrieb und dem Haushalt zusammen nicht zurecht. Auch ihr rheinischer Frohsinn half nicht. Ihr lieber Bruder Fritz, der fröhliche Beamte, konnte sie schon mal nicht mehr ermuntern. Josefs Schwester Maria gab ihr gute Ratschläge und Ermahnungen, die nichts halfen. Da fuhr Nella, die junge Mutter, mit ihrem erstgeborenen Sohn Josef, das zweite Kind war unterwegs, in ihre Heimat nach Oberdollendorf. Josef holte sie nach ein paar Tagen mit der Bahn von dort wieder ab. 1924 wurde Josef, 1925 Maria, 1926 Fritz und 1927 Heinz geboren. Im Jahr 1928 verunglückte Josef, der Erstgeborene. Die Nachbarin schellte an: "Ach Nella lass doch den Josef ein bisschen bei uns Spielen. Du kriegst gleich Besuch von eurer Kundschaft und rackerst dich mit den anderen Kindern noch genug ab. Wir könnten ein bisschen Leben gebrauchen. Gleich kommt noch unsere Putzhilfe, und die mag den kleinen Josef so gern." Josef, vier Jahre alt, lief mit zur Nachbarin und spielte dort, kletterte auf Couch und Tisch und machte voller Lust einen Purzelbaum. "Ach Josef! Doch nicht so wild. Ich helfe dir: So musst du es machen, sonst fällst du mir da herunter und brichst dir noch ein Beinchen." Das Hausmädchen hatte mit ihm gesprochen und geholfen.

Sie kam aus der Küche mit heißem Wasser, das sie gerade vom Küchenherd genommen hatte. Sie stellte es ab und holte den Schrubber, Aufnehmer und kaltes Wasser. In dem Moment rutschte Josef von der Couch. Er kam mit einem Beinchen in den Eimer, erschreckte sich und fiel damit um. Es war nur ein Schrei. Seine zarte Kinderhaut war so verbrüht, dass er am vierten Tag nach dem Unfall starb. Sein Grab auf dem Ostfriedhof, für das in der Werkstatt ein schönes Kreuz gearbeitet wurde, besuchten wir Jahrzehnte lang.

Inflation und Rezession

Der Winter 1928 - 29 war grimmig kalt. Die Arbeitslosigkeit, die Inflation des Geldes und die Rezession prägten das Bild von Arbeit und Familie. Am 9. Februar 1929 wurde ein Mädchen geboren. Es wurde auf den Namen Petronella getauft und Nella gerufen. Josef musste noch etwas mehr für Brot, Kartoffeln und Milch sorgen. Die Gesellen mussten zum Wochenende ihren Arbeitslohn erhalten. Für Holz und anderes Werkstattmaterial wurden die Wechsel unterschrieben, die später unumgänglich eingelöst werden mussten. In dieser Notlage hatten sich die Schreiner zusammengeschlossen und einen Schutzverband gegründet: Die Vereinigten Werkstätten. Geschäftsführer war der Architekt Josef Jäger. Jetzt konnten größere Aufträge kalkuliert und angenommen werden. Diese wurden auf die einzelnen Werkstätten verteilt. Auch das Material konnte in größeren Mengen günstig eingekauft und gelagert werden. Diese Vereinigten Werkstätten hielten über den zweiten Weltkrieg hinaus, bis in die siebziger Jahre zusammen. Auch ich habe die schwerbeladene Schreinerkarre vom Holzplatz zur Werkstatt geschoben.

Josef Banning war dieser Schutzverband der Schreinerwerkstätten recht und lieb. Er brauchte nun nicht mehr jedes Wochenende und nach Feierabend am Schreibtisch zu sitzen. Auch Nella, die junge Frau Meisterin konnte jetzt wieder lachen. Es blieb wieder etwas mehr Zeit für die Familie und die Freunde über. Die Sorgen, die man mit anderen teilte, belasteten sie weniger schwer. Die finanzielle Belastung durch die Werkstattmiete und die Wohnungsmiete vergrößerten sich weiter. Alles Sparen im Haus half nichts. In der Neustrasse (Gildenstrasse) suchten sie eine vorübergehende Bleibe. Es war eine Notunterkunft und die Werkstatt zu eng. So konnte die Familie nicht leben.

Im Hinterhaus der Kirchstrasse Nummer achtzehn, zur Neumarktgasse (Stummelgasse) hin, war eine Schreinerwerkstatt mit einigen alten Maschinen zu mieten. Sie wurde die Zukunft der Familie Banning. Zu ebener Erde war der Maschinenraum und ein Holzschuppen. Über dem Maschinenraum befand sich die Bankwerkstatt und weiter darüber kam man über eine steile Holztreppe zum Holz- und Trockenboden. Vom Dachboden abgeteilt, waren zwei ausgekleidete, mit Luken versehenen Dachkammern, wo der Wind nicht durch die Ritzen der Dachpfannen pfiff. Die Bankwerkstatt wurde halbiert. Mittels einiger Kanthölzer und Dämmplatten teilte Josef eine Wohnung mit Küche, Wohn- und Schlafzimmer ab. Die Dämmplatten reichten aber nur zur einseitigen Verkleidung. Nella konnte, wenn wir Kinder nicht zu laut waren, alles aus der Werkstatt mitbekommen und umgekehrt. Wenn wir Kinder uns einmal zankten, da genügte ein Klopfen des Vaters an der Wand, und es wurde ruhiger. Der Lärm der Kreissäge und der Abrichte drang durch die Decke. Für die Mutter war es wie Musik. Sie wusste: Die Arbeit geht weiter. Manches Mal sang Josef auch beim Lärm der Maschinen und fühlte sich in die Gesangsabteilung des Gesellenvereins zurückversetzt.

Am Samstagnachmittag in der Bankwerkstatt

Samstags in der Bankwerkstatt

Abb.: Samstags in der Bankwerkstatt, Heinz Banning

In der Bankwerkstatt stand ein großer Tischlerofen, auf dem die Zinkplatten für die Furnierarbeiten und der Topf für den Tischlerleim erhitzt wurden. Auf ihm wurde auch das Badewasser erwärmt, wenn der Küchenherd mit Kochtöpfen, Spülwasser und Kinderwindeln ausgelastet war. Gebadet wurden die Kleinen der Reihe nach in einer Zinkbadewanne, die auf zwei Stühlen stand. Wer von den Kindern schon zur Schule ging, konnte schon zur Badeanstalt gehen. Des Morgens und am Abend, oft vom Spielen auf dem Hof dreckig, wuschen wir uns in der Werkstatt. Nur dort hatten wir einen Wasserkran und ein großes Spülbecken. Es passierte schon mal, dass wir Kinder uns im Gesicht einen Rand wuschen, zumal wir Kinder auf einem Fußbänkchen stehen mussten, um den Wasserkran mit der Hand zu erreichen. Die Mutter spülte die Kochtöpfe und Schüsseln auch lieber in der Werkstatt, als in der Küche in der Spülschüssel. Sie sah dabei, was in der Werkstatt los war.

Unser Blick geht von der Waschküche aus. Rechts war Kunzes Garten und weiter ging es zum Vorderhaus. Im Hintergrund sind Lessenichs Backstuben. Auf dem Hof, unter der Holztreppe waren zwei Toiletten. Wir sagten nur: "Klo." Im Winter stand dort immer eine Petroleumlampe. Diese gab Licht in der Dunkelheit und Wärme bei Frost. Die Wasserspülung war nur selten zugefroren. War die Wasserleitung zu, so musste der Stift (der jüngste Lehrling) für das Wasser sorgen, das er in einem Zinkeimer aus dem Keller des Vorderhauses holen musste. Das Klopapier bestand aus Zeitungen, die die größeren Kinder, fein säuberlich in Rechtecke gerissen, auf ein Brettchen mit einem Haken aufsteckten. Jedes Schulkind hatte neben anderem, eine bestimmte Aufgabe, für die es verantwortlich war: Spülen, Abtrocknen, Hof fegen, Schuhe putzen, den Abfalleimer leeren und so weiter. Mir waren die Schuhe anvertraut. Mit einer Schreinerschürze umgebunden, erledigte ich meine Aufgabe. Wir hatten nur schwarze Schuhe und ich, nach dem zehnten Paar, schwarze Hände. Zum Abendessen mit Griesbrei oder dickem Reis mit Zucker und Zimt, konnten wir einen Pfefferminztee trinken. Wer immer noch Durst hatte, der konnte beim Waschen den Kopf unter den Kran halten. Himbeersaft, den gab es nur bei besonderen Gelegenheiten. Der Nachteimer, schön weiß emailliert mit Deckel, sollte nicht unnötig belastet werden. Den Eimer entleeren und reinigen konnten wir Kinder nicht. Das war Sache der Eltern. Der Eimer musste über die Außentreppe hinunter getragen werden.

Hermann (Josef) wurde am 14.06.1930 geboren.
Gertrud wurde am 16.09.1931 geboren.
Ursel (Ursula) wurde am 23.03.1933 geboren.
Johanna wurde am 14.11.1938 geboren.
Elisabeth wurde am 26.07.1942 geboren.

Neun Kinder

Wir waren eine Familie mit neun lebenden Kindern, für die gesorgt werden musste. Der Kindergarten für uns befand sich auf der Kirchstrasse, schräg gegenüber von unserem Vorderhaus. Die Mutter geleitete uns durch das Vorderhaus hindurch und sagte: "Tschüss!" und ging ihrer Arbeit nach. Wir, Nella und ich, (Maria und Fritz gingen schon in die Volksschule) schlichen uns langsam um den Häuserblock herum, durch die Stummelgasse zum Hoftor hin, machten leise das schwere, eiserne Tor auf und huschten auf den Hof. Der Hund von Kunze, dem Hausbesitzer und Gastwirt, lag angekettet in seiner Hundehütte. Er kannte uns und kläffte nur einmal kurz zu unserer Begrüßung. Wir schlichen zur Schaukel, die an einer hölzernen Teppichstange neben der Treppe und den Klos hing. Sachte ging das Schaukeln los. Die alten, ausgedienten Rollladengurte schnitten sich langsam quietschend in die Holzstange ein. Es war eine Frage der Zeit, der Belastung und des wilden Schaukeln bis die Teppichstange zerbrach. Für Nella war es erst ein Schaukeln gewesen, wenn sie über der Turnstange den Hasso in seiner Hundehütte gesehen hatte. An diesem Morgen, als wir zu zweit schaukelten brach die Stange. Wir hatten vor dem Bruch, ein leises Knacken vernommen und waren auf den Stangenbruch gefasst. Nur eine kleine Hautabschürfung hatte Nella abbekommen. Hasso kam laut bellend aus seiner Hundehütte herausgesprungen und zerrte wild an seiner Kette. Rund um den Hof gingen die Fenster auf und die Frage ging um: "Ist was passiert?" Wir beide klopften uns den Staub von den Kleidern und rieben uns die aufgeschlagenen Stellen. Die Mutter kam auf den Balkon, bis an die Treppenstufen, sah sich die Sache an und blieb ruhig: "Es war doch wirklich nichts passiert." Der Vater kam aus der Werkstatt und behob die Sache mit einer Schelte: "Was habt ihr Blagen wieder angestellt," und einer neuen Teppichstange.

Es kamen Zeiten, da war das Murmelspiel, wir sagten Knickern, die große Mode. Dann wurde das Pinnchenklopfen, wir sagten: Pinnhauen, beliebt. Dieses Spiel ging besser zu viert. Hasso durfte nicht draußen sein und der Hof wurde dabei zu eng. Das Spiel setzte sich in der Stummelgasse fort. Es zerbrach auch einmal eine Fensterscheibe, da war es erst aus mit dem Pinnchenklopfen. An den Winterabenden war das Versteckensspiel beliebt. In der Dämmerung gaben der Holzschuppen mit der Kohlenecke, der Hof und die Stummelgasse mit den Garagen gute Verstecke her. Bei Schnee und Frost, legten wir Schlinderbahnen quer über den Hof an, die, wenn es dunkel wurde und wir nach oben mussten, mit Asche zu gestreut wurden. Der Vater machte an einem Samstagnachmittag beim Schlindern mit. Er hatte, wie es im Münsterland beim Feierabend Brauch war, die Klompen an. Sie waren besonders glatt. Er schlinderte mit großem Schwung und kam am weitesten, sah aber in der Dämmerung nicht den Kanaldeckel am Ende der Bahn und fiel hin. Es ist alles gut ausgegangen. Wir lachten dazu und ahmten alle den Sturz nach.

Am Sonntagnachmittag war bei einigermaßen gutem Wetter ein Spaziergang der ganzen Familie fällig. Gewöhnlich ging er zum Stadtgarten und der dahinterliegenden Köllmanns-Wiese oder wir gingen zum Ostfriedhof. Wir gingen lieber zum Ostfriedhof. Der Weg war zwar weiter, aber wir machten dafür eine Pause am Spielplatz des Bulmker Parks. Wir turnten auf den Kletterbäumen herum, übten im Sandkasten den Weitsprung und auf der Wiese das Seilchenspringen. - Nach dem Friedhofsbesuch kehrten wir schon mal in die Gastwirtschaft "Zur Hüller Mühle" ein. Hier gab es ein Glas Limo, oder für zwei Pfennig ein Tütchen Brausepulver an der Seltersbude.

Ein anderer Ausflug ist mir noch im Gedächtnis: Zum Hertener Wald! Der Vater löste beim Schaffner die Fahrkarten für die ganze Familie bis zum Forsthaus. An der vorletzten Haltestelle stieg ein Kontrolleur zu. Es geschah: Der Vater fand trotz aller Suche, die gewünschten Fahrkarten nicht. Der Schaffner beteuerte: Er hätte doch die Fahrkarten gelöst und er müsse sie doch haben. Er solle noch einmal alles nachsehen und an der nächsten Haltestelle wäre ja sowieso die Endstelle, und da hätte er zum Suchen Zeit. Der Kontrolleur ließ uns warten, bis alle ausgestiegen waren. Da der Schaffner weiter beteuerte: "Der Mann hat die Fahrkarten gelöst", brauchten wir keine Strafe zahlen und keine neue Karten kaufen. Wir stiegen aus und der Kontrolleur auch. Der Vater griff in seine Westentasche, um auf die Taschenuhr zu sehen, und zog statt der Uhr die Fahrkarten heraus. Dem Kontrolleur winkte er mit den Fahrkarten zu. Der zuckte mit den Achseln: "Glück gehabt."

Unsere Familie zog den Sportwagen (Kinderwagen) schiebend zum Hertener Bruch. Die Mutter und Maria, unsere Grosse, wechselten sich beim Schieben ab. Der Vater zeigte mit seinem Spazierstock auf die am Wegesrand stehenden Bäume und benannte sie: "Das ist eine Eiche, der musst du beim Gewitter weichen. Das ist eine Esche und das ist eine Birke, die taugt nur als Brennholz." Ein Gewitter zog herauf und ehe wir den Busch erreicht hatten, rauschte der Regen herab. Unter der nächsten größeren Buche suchten wir Schutz. Nach einiger Zeit kam der Regen durch das Blätterwerk. Mutter sagte: "Wir sind alle nass wie die Katzen. Wir müssen schnellstens zurück. Die Kleinen zittern in ihren nassen Klamotten.

Auf dem Weg zum Forsthaus hörte der Regen auf. Gertrud, die als zweites Kind, damit es schneller ging, im Wagen Platz gefunden hatte, musste diesen unter Tränen verlassen. Unser fluchtartiges Rennen ging in den normalen Spaziergang über. Erst als die Mutter uns eine Tasse warmen Kakao versprach wurde unser Schritt wieder schneller. Diese Worte der Mutter ließen uns, die wir uns frierend in der Straßenbahn zusammendrückten, wieder lachen. Bis die Mädchen ihre Haare trockengeföhnt hatten, waren wir Jungen längst in unsere Trainingsanzüge geschlüpft. Wir hatten keine Last mit den Haaren. Wir trugen Glatze mit Spielwiese. Alle vier Wochen konnte der Friseur bei uns voll zulangen. Er brauchte nur vorne den Pony stehen lassen.

Wir Jungen waren auch deshalb aus unseren sonntäglichen Bleyleanzügen gestiegen, weil sie im nassen Zustand noch mehr als gewöhnlich, erbärmlich kratzten. Die Mutter bereitete uns den versprochenen Kakao. Der Vater ging hinunter zur Gaststätte "die Handwerkskammer", um ein Bier zu trinken, der Mutter hernach eins im Krug mitzubringen, und um Kontakt mit anderen Geschäftsleuten und Handwerkern zu halten. Die Unterhaltung über die Politik und die wirtschaftliche Lage stand nur im Hintergrund. Er musste sich vom Ausflug erholen. Wir Kinder begannen mit der Mutter den Spielnachmittag. Wir spielten Mutters Lieblingsspiele, Halma und Tausend und eins. Das Spielen ging so lange, bis das Mogeln von Fritz zu auffällig wurde, oder bei Hermann, wenn er am Verlieren war, die Tränen kamen, oder, was alle begrüßten, Onkel Fritz, Mutters Bruder, allein oder mit seiner Familie zusammen, bei uns anklopfte. Heute musste ihm die Mutter die Geschichte vom Ausflug erzählen. Darüber fing er so an zu lachen, dass die Mutter und dann alle Kinder angesteckt wurden. Bis einer zur Tür rannte und rief: "Ich muss zum Klo!" – "Ich muss Pippi !" – "Ich muss auch pinkeln!"

Machtübergabe 1933

Alle vierzehn Tage, vom Montag zum Dienstag, hatte die Mutter große Wäsche. Die Waschküche befand sich überm Hof im Nachbarhaus. Des Montags wurde die Wäsche eingeweicht. Am anderen Morgen musste der Vater in der Frühe den Waschkessel anheizen. War das Wetter gut, so wurden die Wäscheleinen überm Hof gespannt. War das Wetter weniger gut, so musste die Wäsche durch die Werkstatt zum Trockenboden hinaufgetragen werden. Bevor die Mutter die Wäsche aufhängen konnte, mussten die Leinen mit einem Tuch abgerieben und vom Russ gereinigt werden. Wir Kinder konnten nur wenig helfen. Ein Lehrling half ihr beim hinauftragen. Das war aber auch alles. Wir durften schon mal die Wäsche durch den Wringer drehen. aber auch das musste gelernt sein. Wir patschten zu gerne im Wasser herum und es rutschte uns der Schlauch, der aus dem Wassermotor der Waschmaschine kam zu leicht aus der Hand, so dass draußen Vorbeigehende nass wurden.

Nach der Machtergreifung durch Adolf Hitler, im Jahr 1934 , hörte die finanzielle Not langsam auf. Es war wieder gute Arbeit in der Werkstatt. Die Mutter konnte sich vom ersten Kindergeld einen Balatumteppich für die Küche kaufen und etwas neue Bettwäsche anschaffen. Das Stroh in den Bezügen der Kinderbetten konnte regelmäßig gewechselt werden, und später langte es auch mal zu neuen Matratzen. Die Kinderschuhe mussten nicht mehr bis sie völlig aufgeschlissen waren, vom nächsten nachgetragen werden. Es waren auch ein paar Mark für eine Haushilfe und eine Schneiderin, die gelegentlich vorbei kamen, übrig. Der Vater erwarb sich eine gebrauchte Schreibmaschine, auf der wir Kinder mehr spielten, als er sie für seinen Schriftverkehr brauchte.

Maria und Fritz waren gute Schüler und brachten gute Zeugnisse mit nach Hause. Für den Besuch einer Oberschule fehlte es aber am Geld. Ich hatte es etwas schwer in der Schule. Ich nahm, wenn ich mich unbeobachtet fühlte, den Griffel der Schiefertafel in die linke Hand. Hanna hatte später die selben Probleme. Linkshänder hatten es in dieser Zeit noch schwer. Sie wurden zu den leicht Behinderten gezählt. Die linke Hand war das dumme Händchen und die rechte Hand die gute. Heute schreiben wir beide mit Rechts. Bei der Arbeit geht aber alles mit Links. Fast alle Bannings waren kurzsichtig. Wir konnten es auswendig, aber nicht von der Schultafel lesen. An eine Brille hatte keiner gedacht, und wir wollten uns auch nicht Brillenglotzer oder Ähnliches nachrufen lassen. Nella hatte pechschwarzes Haar, trug als zweites Mädchen die Kleider von ihrer Schwester Maria auf und war nicht wie die anderen Kinder in der B.D.M.-Mode gekleidet. Ihr rief man einige Male Zigeuner und Judenkind nach. Erst später, es war schon im Krieg, da erhielten alle unsere Mädchen eine Berchtesgadener Strickjacke.

Der Vater hatte von einem Kunden Schlägermützen, wie sie in den zwanziger Jahren Mode waren, für uns Jungen mitgebracht. Alle anderen Kinder trugen Hitlerjugendmützen. Wir schämten uns und liefen im Winter lieber mit kahlem Kopf oder Bommelmützen herum. Onkel Willi, Vaters Bruder, war bei uns Kindern genau so gern gesehen, wie Mutters Bruder Fritz. Onkel Willi war in Bocholt als Schlosser bei den Stadtwerken beschäftigt. Dort hatte die Familie mit ihren fünf Kindern ein Häuschen am Stadtrand mit Garten, Stall und einem Stückchen Land für Kartoffeln und Korn. Onkel Willi hatte immer einen Witz drauf, den er im Münsterländer Platt erzählte, und der bei groß und klein gut ankam. Dem Vater gab er gute Ratschläge und überlegte mit ihm einige Verbesserungen im Maschinenraum. In den großen Ferien durften zwei Kinder nach Bocholt. Die Mutter packte den Persilkarton mit unseren Sachen. Das Verschnüren besorgte der Vater. Er musste das Paket tragen. Am Sonntag gingen wir des Morgens um Sechs zur Kirche, in die Frühmesse, und dann kurz nach Hause. Eine Kniffte, (fertiggeschmierte Doppelschnitte Brot) wurde in Eile verdrückt und eine Tasse Milch getrunken. Ab ging es mit den Eltern zum Bahnhof. Die Bahnfahrt dauerte mit Umsteigen zwei Stunden. Es war für uns Kinder ein besonderes Erlebnis, wenn der Zug, mit der Dampflok zischend in den Bahnhof einfuhr. Zum ruhig sitzen bleiben brauchte es bestimmt keine Ermahnungen. Zu groß war dieses Erlebnis und wenn wir ans Fenster durften, drückten wir unsere Nasen platt.

In Bocholt angekommen, hieß es nach der Begrüßung: Die Kinder gehen nach draußen. Von der Küche aus, ging es achtern zur Deele mit dem Schweinestall und dem Plumpsklo zum Garten hinaus. Im Stall waren immer zwei Poggen (Schweine), die erst im Winter geschlachtet wurden. Dort war auch ein Wäscheofen, in dessen Bottich das Schweinefutter gekocht wurde. Eine Pumpe für das Wasser war draußen vor der Tür. Auf der Deele hingen allerlei Sachen an den Wänden, wie Sensen, Spaten, Mistgabel, Säge und Axt, alles schön aufgeräumt. Einer von Onkel Willis Sprüchen hieß: "Ordnung in Küch und Hus spart dir viel Verdruss.“ - Ein anderer Spruch: "Mir und mich, dat ist mir glich, doch mein und dein, dat trenn fein." Aus dem Futtertrog für die Poggen nahmen wir die Kartoffeln, die wir als Klebemittel für unsere Windvögel brauchten. Georg, etwas älter als ich, war im Bau von Windvögeln Meister. War der Drachen klein und wollte nicht recht fliegen, so war das ein Poggenvogel. Bei diesen rannte man unentwegt über die Stoppelfelder. Georg konnte das, zu unserer Bewunderung, in Barfuss.

Windvögel

Das Garn für die Windvögel war reichlich vorhanden. Es kam aus den Webereien in denen Willi und Heini, die großen Söhne beschäftigt waren. Man musste nur auf Schwachstellen im Garn achten, damit einem der Vogel nicht stiften ging. Wir wetteiferten mit der Flughöhe der Drachen und der Zahl der Saltos die sie machten. Die Poggen waren äußerst hellhörig. Meine Schwester Nella machte vorsichtig die Küchentür auf. Sie wollte zum Klo schleichen. Da schlug der Wind die Außentür zu, die Schweine quietschten voll auf, sprangen mit ihren Vorderpfoten auf den Rand der Trogklappe und grunzten und glotzten Nella an. Die lief erschreckt zum Stall hinaus, war am weinen und wollte in diesen Sommerferien nicht in Bocholt bleiben. Als Mutter und Vater des späten Nachmittags zum Bahnhof gingen, lief sie weinend hinterher. Die Eltern mussten sie wieder mit nach Gelsenkirchen nehmen.

Onkel Willi wollte meinen Mut auf die Probe stellen. Wir gingen in den Hühnerstall. Er fing einen jungen Hahn und zeigte mir, wie ich ihn festhalten musste. Wir gingen zum Holzklotz und drückten ihn mit dem Kopf darauf. Onkel Willi hielt seine Hand zum Schutz über die meine. Er nahm sein Beil und schlug sicher und genau zu. Ich sah nur den Kopf, der herabgefallen, den Schnabel lautlos auf und zu machte. Ich ließ vor Schreck alles los und Onkel Willi auch. Da flatterte der Rumpf des Hahnes durch den Stall und blieb ausblutend in einer Ecke liegen. Des Sonntags am Tisch in der guten Stube aßen alle mit, nur ich mochte die Hühnersuppe nicht, und für Soße und Fleisch war ich auch nicht zu haben. Ich aß nur die Kartoffeln und den Salat. In der Küche, auf der Fensterbank, stand immer ein Krug mit etwas Buchweizensauerteig. Wir konnten schon morgens zum Frühstück einen Buchweizenpfannekuchen mit Rübenkraut von Mutter Maria bekommen. Das war für alle ein Hochgenuss. Sie sagte dabei: "Mein Rübenkraut ist das reinste und beste, besser als jede gekaufte Marmelade." Bei schönem Ferienwetter, das war für sie fast immer, schickte sie uns, die wir sonst nichts zu tun hatten, zum Brombeersuchen und zum Baden an einen Bach hinaus. Hedwig führte uns Fußgänger an. Wir brauchten zu Fuß für den Weg eine volle Stunde. Georg und Agnes waren größer und kamen mit dem Fahrrad nach. Sie nahmen uns auf dem Rückweg, je einen auf dem Gepäckträger und einen auf der Stange mit. Bei den Sandwegen erforderte dieses schon eine besondere Geschicklichkeit und Können. Ein Handtuch hatten wir mit, ein Gefäß für die Brombeeren, ein Butterbrot, etwas zu trinken und einen Apfel. Weiteres Badezeug hatten wir nicht. Wir wollten auch nur mit den Füssen ins Wasser, was uns nicht immer gelang. Zum Schwimmen war der Bach nicht tief genug und wir konnten es auch nicht. Zum Plantschen reichte es allemal. Am Schluss hatten wir Jungen unsere Unterhosen nass und die Mädchen ihre Schlüpfer. Zum Brombeersuchen blieb noch Zeit genug. Beim Kartoffelausmachen durften wir helfen. Heini grub die Kartoffeln mit der Mistgabel aus und streute sie mit der Erde im Schwung übers Land. Einer sammelte das Strauchwerk, und die anderen lasen die Kartoffeln in die Körbe.

Das Wichtigste für uns war das Kartoffelfeuer. Wenn die Kartoffelfeuer schwelten, ging ein eigenartiger Geruch über das Land. Die Kartoffeln und die Äpfel aus dem Feuer schmeckten uns halt besser. Die spießten wir auf Stöckchen auf und hielten sie ins Feuer. Wir hatten Schleuderbüchsen. Es waren Konservendosen, die mit Löchern versehen an einem Draht hingen. Das Feuer kam dort hinein , dazu ein Apfel oder eine dickere Kartoffel. Wir schleuderten die Büchsen herum, das die Funken flogen. Heini und Georg hatten Zwillen, mit denen wir Probeweise auf die Büchsen schießen durften. Diese Zwillen waren streng verboten und wir durften nichts verraten. Nicht weit entfernt wohnten die Brockmanns. Die Mutter Anna war eine Schwester unseres Vaters. Sie hatten ein kleines Anwesen und neben Hühnern und Schweinen ein paar Schafe vor dem Haus auf einer Wiese, die etwas tiefer lag. "Die Lächte" ;sagten wir. Dort hielten wir einmal im Sommer ein Kinderschützenfest ab. Nella war die Königin. Zum Naschen gab es ein Tütchen Brausepulver, drei Bonbons und ein Stückchen Lakritz. Dieses Stückchen Lakritz steckten wir in eine mit Wasser gefüllte Flasche. Durch heftiges Schütteln löste es sich auf und oberhalb der dunklen Brühe bildete sich Schaum, den wir absaugten. Es war das Schäumchen ziehen. Noch hundert Meter weiter des Weges wohnten die Baumanns auch Verwandtschaft von uns. Deren Kinder kamen auch zum Schützenfest. Leider ist Tante Anna und die Familie Baumann in den letzten Tagen des Krieges noch zu Tode gekommen. Dieses steht hier geschrieben, weil jedes von uns Kindern wenigstens einmal in Bocholt war oder die Sommerferien dort verbringen durfte.

Stummelgasse

Zurück nach Gelsenkirchen in die Stummelgasse. Schwester Maria hatte hier als Älteste das Sagen, wenn die Mutter nicht zu Hause war. Sie ordnete alles: "Ich spüle, ihr trocknet ab, du holst das Brennholz aus der Werkstatt und die Kohlen aus dem Schuppen herauf, du fegst und du putzt die Schuhe." Jeder hatte immer seine bestimmte vorrangige Aufgabe und es klappte. Natürlich gab es auch Tränen. Fritz und ich kloppten sich, bis der Vater dazwischen kam. Hermann war für die beiden Brüder noch zu klein und schwach; er wurde im Streit verschont. Er war ruhiger und kriegte vom Vater weniger Hiebe ab. Für die Mädchen war die Mutter zuständig und da waren vor allem die mittleren, die sie erreichte, Gertrud und Ursel. Nach jedem Streit vertrugen wir uns besser und spielten miteinander. Von einer Scharlacherkrankung hatten Fritz und Hermann eine schwere Mittelohrentzündung bekommen, an der sie ihr Leben lang denken mussten. Sie durften nicht das Schwimmen erlernen. Der Ohrenarzt riet der Mutter: "Tun sie den Jungen, den Hermann auf das Gymnasium. Er hat das Zeug dazu und ist für das Handwerk zu schwach." Hermann war der einzige, der von uns eine Oberschule besuchte. Später wurde er stark und kräftig.

Im Advent, einige Tage vor Weihnachten, besuchte uns die Tante Maria aus Dortmund. Obwohl wir ein Telefon hatten, hatte sie sich nicht angemeldet. DerMutter war es nicht recht und sehr peinlich. Sie hatte in den Tagen vor Weihnachten doppelt so viel zu tun und da war nicht alles aufgeräumt, wie es Tante Maria immer haben wollte. "Ich wollte euch überraschen!" sagte sie. "Und ich habe euch etwas Schönes mitgebracht. Guckt mal in den Eimer, der draußen vor der Tür steht." Vater, der seine Arbeit in der Werkstatt unterbrochen hatte, um seine Schwester zu begrüßen, ging hin, hob den Deckel hoch: "OH - man! Das ist ja ein Riesenfisch."

"Der Karpfen soll ja auch für euch alle sein. Den hab ich vom Rudi, meinem Schwiegersohn. Der hat ihn auf dem Amt geschenkt bekommen, und für uns ist der Fisch zu groß. Da hab ich den Fisch in den Wassereimer gesteckt und ihn für euch mitgebracht. Das war eine Prozedur, so mit dem vollen Eimer im Zug. Jetzt muss er unbedingt in ein größeres Becken. Guck mal, wie der nach Luft schnappt." Mutter sagte: "Meine Badewanne kriegt ihr nicht. Die Kinder müssen schließlich noch gebadet werden. Geht in die Waschküche und holt euch den alten Zuber." - "Der ist doch viel zu schwer." - "Dann lasst das Vieh unten in der Waschküche schwimmen." - "Das geht nicht. Da ist die Wäsche von Kunzes drin." Der Vater eilte hinunter, über den Hof, in die Waschküche und kam mit der größten Zinkwanne wieder: "Die wird wohl groß genug sein. - Und wie macht man den Fisch kaputt?" - "Einer hält ihn fest, mit dem Kopf auf das Nageleisen, und mit ’nem Hammer betäubst du ihn. Dann kannst du ihn ausnehmen. So hat der Rudi mir das gesagt. Das machen die im Amt alle so." - "Dat kann ich nicht! Ich soll für Kunzes zu Weihnachten einen Hahn schlachten. - Und mit dem Hausherrn muss ich auskommen. Ich bin Schreiner und kein Metzger." - "Den Fisch nehm ich nicht wieder mit."

Das Gespräch ging hin und her. Die ganze Familie, und die Gesellen und Lehrlinge aus der Werkstatt hatten sich versammelt. Die Gesellen hatten die Wanne fast bis zum Rand gefüllt. Jetzt wurde der Karpfen mit dem Wasser des Eimers in die Wanne geschüttet und schwamm seine Bahnen in der Runde. "Meister!" - Hans, der Altgeselle hatte sich gemeldet: "Wenn das so weit ist, dann mach ich das schon." Mit der Zeit wurde der Fisch munterer und spritzte, wenn er mit seinem Schwanz an die Oberfläche kam. "Hui! Mutter, der macht mich ganz nass." "Stell dich nicht so an. Das war der Fritz, der da gespritzt hat." "Heißt der Fisch wirklich Fritz ?" - !"Das war dein Bruder Fritz, du Tünnes."

Weihnachten

Alle sahen die treuen Augen des Fisches. Damit der Karpfen nicht unnötig gefüttert wurde, erhielten wir noch vor dem Fest, ein Aquarium mit Goldfischen. Normaler Weise wäre ein Fisch für die große Familie zuwenig gewesen. Es blieb aber noch etwas über. Wir Kinder aßen lieber den Reisbrei mit Zucker und Zimt. Für uns war nur Wichtig: Die Tante Maria verschwand so schnell, wie sie gekommen. Es war alles gut von ihr gemeint, doch wir wollten unsere Freiheit, und sie nicht ständig hinter uns haben. Maria, unsere Große, durfte immer bei den Weihnachtsvorbereitungen mitmachen. Für alle anderen war das Christkind erst am Weihnachtsmorgen gekommen. Zur Christmesse mussten wir noch nüchtern sein. Das hieß: Es durfte vorher nicht an den Tellern genascht werden!

Von der Kirche zurück, fielen wir über unsere Geschenke und Weihnachtsteller her. Das Christkind hatte die Spielsachen immer gut verteilt. Mit Rücksicht auf die jüngeren Geschwister hieß es immer: Das Christkind. Ich hatte einmal eine Feuerwehr zum aufziehen bekommen, der Fritz eine Ritterburg, an der Onkel Fritz und der Vater im Advent des Abends gearbeitet hatten. Die Gratzfeldkinder hatten die gleiche Ritterburg bekommen. Der Hermann hatte einmal eine Eisenbahn zum aufziehen bekommen, die am Weihnachtsmorgen ihre Runden um den mit reichlich Lametta geschmückten Tannenbaum drehte. Für die Mädchen war der Kaufladen wieder gefüllt und die Puppen saßen frisch gekleidet neben den Weihnachtstellern. Wem das Spielmagazin anvertraut wurde, der hatte auch für die Ordnung zu sorgen. Mit den Laubsägen, die Fritz und ich bekommen hatten, durften alle einmal sägen. Wir schraubten die Brettchen fest, damit niemand in den Tisch sägte und wechselten nach Bedarf die zerbrochenen Sägeblättchen aus.

Ursel suchte für ihre Puppe etwas neues zum Anziehen. Da sagte die Mutter: "Geht doch mal in das Furnierlager. Das Christkind hat da die Sachen vergessen." Wir stürmten alle zur Küche hinaus, draußen die Treppe hinunter ins Furnierlager, wo auch die Kartoffelkiste und Vaters Fahrrad stand. Wir durchsuchten alle Regale und vor und hinter allen Kisten. Wir fanden die Puppenkleider und ein Päckchen Lametta. Von unserem Erfolg überglücklich, zeigten wir der Mutter unsere Funde.

Die schlug die Hände zusammen: "Oh mein Gott! Heute ist Weihnachten, und wie seht ihr denn aus? Sofort mit euch in die Werkstatt, nehmt die Kleiderbürste mit und bürstet eure Kleider ab, und wenn ihr euch die Hände wascht, krempelt bitte vorher die Arme hoch." Am Nachmittag flossen durch ein kleines Missgeschick noch einmal ein paar Tränen. Gertrud kämmte ihrer Puppe das schöne Haar. Sie kämmte aber so heftig, wie sie meinte, wie Maria es bei ihr immer machte. Da lösten sich die Haare vom Kopf der Puppe und Gertrud hielt in der einen Hand die Haare und den Kamm, in der anderen Hand die Puppe, in deren offenen Kopf sie entsetzt hineinsah. Da schrie sie auf, warf alles weg und verbarg sich weinend in Mutters Schürze.

Der Vater machte noch am Weihnachtstag den Werkstattofen an, setzte den Leimtopf auf und leimte der Puppe die Haare wieder an. Er sagte: "Es ist gut wenn der Werkstattofen mal zwischen den Feiertagen an ist. Dann kühlt das ganze Haus nicht so aus. Die Wasserleitungen frieren nicht zu, und man kann in der Werkstatt etwas basteln." Basteln und Arbeiten, das war für unserem Vater ein großer Unterschied. Man durfte des Sonntags etwas basteln, aber Arbeiten nicht. Einer seiner Aussprüche war: "Junge, Junge, du bastelst dich da wat zusammen." Ein anderer Spruch hieß: "Du murkst dir da wieder einen Stiefel zurecht."

Osterfest

So wie Weihnachten für einige Tage die Arbeit in der Werkstatt ruhte, so war es auch zum Osterfest. Ab Gründonnerstag wurde nachmittags die Werkstatt aufgeräumt und gefegt. Die Fenster wurden mindestens mit einem Handfeger oder alten Lappen gereinigt. In der Küche und im Korridor wurde am Karfreitag die eine Hälfte und am Karsamstag die andere Hälfte mit einer rotbraunen Fußbodenfarbe gestrichen. Bei dieser Gelegenheit wurde die Küche auf den Sommer umgestellt. Das hieß, die Küchenbank und der Tisch kamen wieder ans Fenster. Wir konnten auf die Bank klettern und durchs Fenster gucken und uns bei den in der Gasse Vorbeigehenden bemerkbar machen. Weiter zum Sommer hin hatte die Mutter immer Blumenkästen mit Petunien vor dem Fenster, die durch die Werkstatt bedingt, alle nach außen aufgingen. Einen Stups vors Fenster, es ging auf, und eine Wasserbombe fiel hinaus. (Ein Stück Papier, das kunstgerecht gefaltet, mit Wasser gefüllt war.) - Die Mutter durfte uns dabei nicht erwischen. - Einfacher und kürzer war der Weg vom Werkstattwasserkran durch den Korridor nach draußen zum Treppenaufgang, wir sagten: "Balkon. Dort war der Erfolg mit einer Wasserbombe immer gegeben. Entweder war einer auf der Schaukel, den es erwischte, oder es kam einer vom Klo, den es traf.

Nella lehnte sich einmal soweit über die Brüstung und turnte am Geländer herum, das es aushakte und sie mitsamt des Balkongitters und einem Blumenkasten in die Tiefe fiel. Es ist ihr aber nichts schlimmes passiert. Nur der Schreck saß ihr und allen Beteiligten in den Gliedern. Nur so war es zu verstehen, dass weder sie noch ein anderer "Sänge" kriegte. Wir sagten: "Die hat einen guten Schutzengel gehabt." Leicht hätte auch ein anderer, der unten auf der Schaukel war oder dort spielte unter das Gitter kommen können. - Wir hörten vorher etwas knistern, fürchteten von einer Wasserbombe erwischt zu werden und sprangen zur Seite. Am Abend betete Maria uns doppelt innig vor und die es konnten sprachen mit: "Heiliger Schutzengel mein. Lass mich dir Empfohlen sein, in allen Nöten steh mir bei und halte mich von Sünden frei. Amen!"

9. November 1938

Unserem Haus, in der Stummelgasse gegenüber, wohnten in einem kleinen Hinterhaus, die Lemkes mit ihren Kindern und eine jüdische Familie. Wir Kinder spielten viel zusammen in der Stummelgasse. Am neunten November 1938 brannte die Synagoge gegenüber unserer Marienschule und die Schaufenster jüdischer Kaufleute wurden eingeschlagen und geplündert.

In den Tagen darauf wurde dieses Hinterhaus, uns gegenüber, als Gebetsraum für die jüdische Gemeinde gebraucht. Wir sahen die Menschen, die mit dem Judenstern auf der Brust gekennzeichnet waren dort hineingehen. Eines Tages, in der Frühe, noch vor unserem Schulbeginn, hielt ein Lastkraftwagen mit einigen Uniformierten vor diesem Hinterhaus. Die Stummelgasse wurde abgesperrt. Wir Kinder mussten später zum Vorderhaus hinaus zur Schule gehen. Unsere Gesellen, die zur Werkstatt wollten, kamen nicht durch die Absperrungen und mussten warten. Die SS-Uniformierten gingen in das Haus hinein und trieben nach einiger Zeit die Menschen mit dem Nötigsten in Bündeln gepacktem hinaus. Sie mussten mit oder ohne Hilfe, nur hastig, notdürftig gekleidet, mit ihren Taschen, Netzen und Kartons unterm Arm auf den LKW steigen.

In den darauf folgenden Tagen wurde das Haus ausgeräumt und abgerissen. - Es entstand ein freier Platz auf dem wir Kinder spielten. Auf diesem Platz wurde später im Krieg, der Arminbunker gebaut. Dieser Luftschutzbunker steht noch heute. Für den Bunkerbau musste die nebenan gelegene Pferdemetzgerei Henschel weichen. In einem offenen Schuppen und in Blechtrommeln lagerten sie die nicht verarbeiteten Reste, die einmal in der Woche abgeholt wurden. Der Gestank und die Fliegenplage, die über die Mauer herüber kamen, stiegen bis zum Abholtag.

Im ersten Jahr des Krieges schickten uns die Gesellen schon mal hinüber, für sie ein Stück Fleischwurst zu kaufen. Zu Anfang des Krieges konnten wir dieses Pferdefleisch ohne einen Abschnitt der Lebensmittelkarte erhalten. Beim Bäcker Lessenich nebenan holten wir für sie Hefeteilchen von gestern. Die gab es für den halben Preis. Lessenichs Backstube war direkt neben unserer Werkstatt. Wenn die Stubentür aufstand, zog der Duft des frischen Gebäcks uns Kinder an. Gelegentlich fiel mal ein Teilchen auf die Erde, das wir aufheben durften. Mit den Lessenichs Kindern spielten wir gerne auf dem Bunkerplatz.

Theo hatte einen echten ledernen Fußball und das war der einzige in unserer Ecke. Lessenichs Brot war das beste in der ganzen Altstadt. Wir Kinder gingen es gerne kaufen. Oft war es schon angeknabbert, bis wir nach Hause kamen. Den Duft des frischen Brotes fanden wir unwiderstehlich. Dieses alles war nur in den ersten Monaten des Krieges möglich.

Zweiter Weltkrieg

Es war in den ersten Kriegstagen, an einem Nachmittag im September. Die Sirenen heulten auf und ab, ein Zeichen für die akute Luftgefahr. Wir waren alle mit irgend etwas in der Wohnung beschäftigt. Die Mutter rief und ermahnte: "Macht schnell! Packt eure Sachen und ab in den Luftschutzkeller ins Vorderhaus!" - Sie hatte es nicht ganz ausgesprochen, da gab es einen Knall, der die Pappwände in unserer Wohnung rappeln ließ, weit stärker als das Getöse der Flak (Fliegerabwehrkanone). - Trotz des Sirenengeheules hörten wir ein Zischen, das aus dem Korridor kam. Der Fritz machte ein wenig die Korridortür auf und sah den grellen Schein und das Sprühen der Brandbombe. Wir waren von Löschmitteln und Fluchtweg abgeschnitten.

Die Mutter rief: "Lasst die Tür zu! Lasst alles liegen! Wir müssen nach hinten durch das Kinderzimmerfenster übers Glasdach nach Lessenich in die Backstube hin. Hoffentlich brennt es dort nicht. Gott hilf uns! Das Glasdach muss halten." Die Mutter nahm die Kleinste, die Hanna aus ihrem Bettchen auf ihren Arm und trieb uns weiter zum hinteren Fenster hin. Wir Kinder stiegen nach einander durch das Fenster auf das Glasdach und krochen auf allen Vieren, entlang eines Steges, der die Glasscheiben verband zur Backstube hinüber und stiegen dort durch ein Fenster ein. Jetzt musste die Mutter mit der Kleinen auf dem Arm hinüber. Ein Bäckergeselle stützte von unten her auf einer Leiter stehend das Glasdach ab. Als die Mutter in der Mitte war, knackte es ein wenig und die Scheibe erhielt einen Sprung. Sie sah sich um und wollte zurück. Da kam ihr der Vater entgegen gekrochen und nahm ihr das Kind aus den Armen. Der Vater war beim Bombeneinschlag im Maschinenraum gewesen und rannte nach Lessenich hinüber.

Es kamen alle gut hinüber. - Als wir uns im Luftschutzkeller vom Schreck erholten, kam Heinz Beckert, unser junger Schreinergeselle, zu uns. Er war beim Bombeneinschlag in der Bankwerkstatt gewesen, und hat mit den bereitstehenden Löschmitteln den Brand gelöscht. Er war nur noch wenige Tage bei uns. Er wurde eingezogen, musste zur Infanterie und ist an der Ostfront gefallen. Er hatte mit Fritz, der in die Schreinerlehre gekommen war, eine Freundschaft geschlossen. Sie gingen zusammen nach Bulmke in die Pfarrjugend der Nachbargemeinde.

Wir mussten alle zur Hitlerjugend und die Mädchen zum BDM, trotzdem verteilte Fritz Briefe vom Bischof von Münster, dem Graf von Galen, die von der Partei, der NSDAP aus verboten waren. Diese Briefe und anderes wurden von der Bulmker Jugend vervielfältigt und verteilt. Später sagte man: "Den Heinz Beckert hat man wegen seiner Ansichten in die vorderste Front gesteckt. Dort gab es Bewährung oder Tod."

Fritz hatte jung seine Schreinerlehre beendet und die Gesellenprüfung abgelegt. Zum Militärdienst zu jung, zog man ihn zum Reichsarbeitsdienst ein und steckte ihn zur Flak. Bei einem Luftangriff in der Nähe von Eindhoven wurde er verletzt. Nach seiner Genesung kam er zu seiner Einheit nach Schleswig-Holstein. Dort geriet er in englische Gefangenschaft. Unsere Älteste, die Maria hatte nach ihrer Volksschulzeit, im Pflichtjahr, bei einem Bauer in Marbeck-Heiden gearbeitet. Dieses kam der Familie im Laufe des Krieges und der Nachkriegszeit zu gute. Die Maria war wie ihre Tante Maria, nur mit der Sorge um ihre Nächsten bemüht. Jetzt war sie in der Kaufmannslehre im Kaffee-Stammhaus Grewer beschäftigt. Hier lernte sie über die Elisabeth Gettler, die auch dort in der Lehre war, den Franz kennen. Franz wurde nach seiner Malerlehre zum Militär eingezogen und kam nach Frankreich. Auf der Insel Jersey geriet er in die Gefangenschaft und kam nach England. Während seiner Gefangenschaft half er dort zeitweise beim Bauer.

Im Krieg

Jetzt zum Beginn des Krieges waren diese, von feindlichen Fliegern abgeworfenen Brandbomben, eine Sensation. Es setzte eine Völkerwanderung von Neugierigen durch die Stummelgasse ein, denn auch in den Nachbarhäusern waren Brandbomben eingeschlagen, und in der Presse hieß es: Angriff auf die deutsche Zivilbevölkerung. In den nächsten Tagen wurden alle Schäden beseitigt und es wurde schöner als vorher. Beim zweiten Bombenschaden war die Sensation vorbei, und beim dritten, verloren wir alles.

Der Vater wurde nicht mehr zum Kriegsdienst an der Front eingezogen. Er wurde für den SHD. (Sicherheits- und Hilfsdienst, im Volksmund: Sauhaufen Deutschlands) und für die Arbeiten zur Beseitigung der Bombenschäden auf den Stahl- und Hydrierwerken freigestellt. Alle Kinder, außer Hanna, die noch zu klein war, waren wir mindestens einmal in die Erholung geschickt worden. Heimweh hatten alle Kinder. Die Ursel, im Kindergartenalter weinte und konnte sich nicht beruhigen. Sie musste heimgeholt werden.

Der Vater war immer schlank. Aber jetzt verlor die Mutter zusehends an Gewicht. Sie schob das Stückchen Blutwurst auf dem Brot immer weiter zurück und legte es dann zum Schluss auf die nächste Schnitte für den Vater. Vielleicht wollte sie nur etwas verbergen. Sie war in Umständen und das brauchte in dieser schweren Zeit nicht jeder sehen. Am 26. Juli 1942 wurde die Elisabeth im Marienhospital geboren. Dort waren die Mauern stärker und der Transport in den Luftschutzkeller leichter. Zu Hause regelte Maria alles. Die Mutter hatte ein paar Tage Ruhe.

1941 - Der Krieg weitete sich aus. Die deutschen Truppen marschierten in Russland ein. Hitlers Endsieg blieb aus. Da schickte man die Kinder der Industriegebiete mit ihren Schulklassen ins KLV (Kinderlandverschickung). - Ich war das erste der Banning Kinder und kam nach Gars am Inn. Die Nella kam mit ihrer Schulklasse bis weit in die Slowakei. Der Hermann kam später mit dem Schalker Gymnasium zum Schliersee. Auch Gertrud und Ursel kamen noch in die Kinderlandverschickung. Die Zeit der KLV bekam uns Kindern gut. Wir mussten von Mutters Schürze gelöst, selbständig werden und uns in anderer Umgebung behaupten.

Ich war in einem der größten Lager mit über fünfhundert Kindern in einem für uns geräumten Kloster. Wir schliefen in einem Saal mit fast fünfzig Kindern. Da war immer etwas los. Zum Glück hatten wir einen guten Klassenlehrer, der sich für uns einsetzte. So kamen wir zu verschiedenen Ausflügen, wie: Nach Rosenheim, Wasserburg, zum Königsee und einer Bergtour mit Übernachtung in der Hütte. Am Ende des KLV kam an uns die Aufforderung: Meldet euch zur Kriegsvorschule nach Sonthofen. Wir mussten die Einwilligung der Eltern haben. Der Vater schrieb: "Junge - Lass es! Wir haben den Krieg noch nicht gewonnen." Der Brief ist zum Glück nicht geöffnet worden oder unser Klassenlehrer, der den Briefverkehr kontrollierte, hat ihn nicht an die Lagerleitung weitergegeben. Diese lief immer in der Parteiuniform herum.

Es kam der kalte Kriegswinter. Für die Truppen an der Ostfront wurde warme Kleidung gesammelt. Sie waren nach ihrem Siegesmarsch, vor Moskau, im russischen Winter stecken geblieben und wurden durch große Verluste geschwächt. Bei mir machte sich ein immer stärkender Schmerz in der Hüfte bemerkbar. Als ich gar nicht mehr gehen konnte, setzten mich Vater und Mutter auf einen Schlitten und zogen mich zum Krankenhaus. Die Diagnose: Entzündung und Knochenerweichung des Hüftgelenkes. Ich kam in einen Streckverband, der aussah, wie ein Galgen oder Foltermaschine. Zur Schulentlassung lag ich im Streckverband. Nach vier Monaten wurde ich mit einer Beinverkürzung als geheilt entlassen.

Vorbei war es erst mit dem Laufen, Springen und Fußballspielen. Am Nachbarsjungen, Klaus Lessenich, den es mit dem gleichen Leiden stärker getroffen hatte als mich, sah ich, wie ich humpeln musste. Das Marschieren in der Hitlerjugend war vorbei. Ich brachte sie aus dem Marschrhythmus. Zu Hause spielte ich, kam zum Lesen und half, soweit ich es konnte in der Werkstatt. Meine Volkschulzeit war ja zu Ende. Trotz meiner Linkshändigkeit war ich nicht ungeschickt und arbeitete mich immer mehr und besser ein. Der Vater sagte: "Das Beste ist's wohl, ich nehm dich richtig in die Schreinerlehre. Die Gesellen sind alle im Krieg und der Fritz muss auch bald weg, dann ist die Werkstatt leer." So begann meine Lehrzeit im Oktober des Jahres 1942. Die Berufsschule fiel mir leicht, und beim Lehrer Sperling, den wir Spatz nannten, hatte ich eine besonders gute Nummer. Manch guten Streich durfte ich bei ihm, der nie ein Parteiabzeichen trug, machen.

KZ

Der Jugendvikar Willi Wickel hatte mich schon im Krankenhaus besucht und bat mich, bei den Messdienern und in der Pfarrjugend mitzumachen. Wir machten eine Gruppe auf. Des Werktags blieb uns nach der Arbeit nur die Abendstunde. Des Sonntags fuhren wir mit dem Fahrrad hinaus. Vor allem gingen die Fahrradtouren mit meinen engsten Freunden, dem Alfons Kampert und Fritz Fahle zum Baldeneysee. Dort konnten wir uns von Bekannten ein Paddelboot leihen. Gerne fuhren wir mit dem Rad in die Heide, nach Deuten. Hier warfen die Engländer, um die deutsche Luftabwehr zu irritieren, dünne Metallstreifen ab. Wir fanden Flugblätter, Aufklärungsmaterial und Reisemarken. Wir lasen das für uns fast Unglaubliche, was in den KZ, den Konzentrationslagern, passierte. Sie ließen uns an der deutschen Kriegsberichterstattung zweifeln.

In den Tagen vor Pfingsten machten acht Jungen ihre Räder klar, um am Festtag nach Marbeck-Heiden zu radeln. Unsere Maria hatte beim Bauer, bei dem sie ihr Pflichtjahr geleistet hatte, für uns eine Übernachtungsmöglichkeit in der Scheune angefragt und bekommen. Am Pfingstmorgen, nach der Frühmesse um sechs, fuhren wir bei herrlichstem Sonnenschein los. Den Buerschen Berg ging’s hinauf und dann liefen die Räder ins ebene Münsterland nach Hervest. Da gab es eine kleine Panne. Einer hatte einen Platten am Hinterrad. Mit diesem hatten wir wohl bei den alten Drahteseln, die wir aufgetrieben hatten, gerechnet. Mit Hilfe der Freunde war der Schaden in kurzer Zeit behoben.

Unsere Karawane zog weiter. Hinter Lembeck überholte uns ein Auto. Es war das erste, das wir an diesem Morgen sahen. Es schnitt uns den Weg ab. Einer aus unserer Kolonne rief: "Die sind verrückt. Der Erich wäre fast auf gefahren." Drei Männer in Zivil stiegen aus, hielten uns eine Kelle vor und teilten uns mit: "Geheime Staatspolizei." Jetzt erst bemerkten wir die Parteiabzeichen an ihren Ledermänteln.

Sie nahmen uns unsere Ausweise ab. Zum Glück hatten wir jeder einen Hitlerjugendausweis mit. Sie verhörten uns kurz. Wir waren arglos und vom Schreck getroffen. Unsere stotternde Antworten waren nur kurz. Erich, der sonst eine große Klappe hatte verstummte ganz. Er konnte nicht eine rein arische Abstammung nachweisen. Zum weiteren Verhör wurde uns ein Termin nach Pfingsten in Gelsenkirchen genannt. Ohne unsere Ausweise durften wir unsere Fahrt fortsetzen. "Pass auf! Die schneiden uns Glatze. Die lochen uns bestimmt ein. Der Vikar König ist schon im K.Z. Wer wird der nächste sein? - Ach, ich kenn' den Ludwig Hölscher. Der ist Fähnleinführer in der H.J., der muss uns helfen. Wir waren doch alle regelmäßig beim Hitlerjugenddienst." Solches und anderes mehr ging als wir wieder unter uns waren, durch unsere Reihen. "Was soll's! Wir fahren weiter." In Heiden, beim Bauer angekommen, kriegten die auch einen Schrecken: "Unser Hans, der Älteste ist im Osten vermisst, und jetzt kommen die mit so etwas!" Wir durften bleiben und uns auf dem Hof und in der Scheune frei bewegen.

Ein Lagerfeuer wurde hinterm Hof am Wiesenrand entfacht. Es durfte bis zum Einbruch der Dunkelheit brennen. Dann musste es gelöscht werden. Wir hätten ja feindlichen Fliegern ein Zeichen geben können. Unter uns hieß es nur noch: "Achtung! Der Feind hört mit." - Wir schütteten Wasser über das Feuer und pinkelten es aus. Zischend erlosch die Glut. Davor brodelte das Essen in unserem Fahrtentopf. Einige Jungen aus dem Dorf, wir sagten: "Die Bauernknüppel", gesellten sich zu uns. Es begann ein schöner Sommerabend. Die Klampfe erklang und mit Fahrtenliedern und Geschichten ging es bis zum Einbruch der Dämmerung.

Beim Einbruch der Dunkelheit, im Mondschein durfte kein Licht gemacht werden. Wir krochen auf unser Strohlager in der Scheune. Es kehrte aber noch keine Ruhe ein. In der Dunkelheit flog eine Schweinekartoffel, und bald war eine Schlacht im Gange. Das mit der Gestapo war nicht mehr das Gesprächsthema. Am anderen Morgen, vor dem Gang zur Kirche, wurde aufgeräumt. - Am Nachmittag, bei der Heimfahrt, traten wir mächtig in die Pedale. Dem Heinz Schröer ging es zu schnell. Er rief zu einer kleinen Verschnaufpause und zur Mäßigung. Heinz ist später als Flakhelfer zu Tode gekommen.

Alltag

Über die Aufregung zu Hause bei einem jeden von uns, brauch ich nicht zu schreiben. Es wurde uns geheime Hilfe von verschiedenen Seiten zuteil. Trotzdem! Es kam zum Einzelverhör und Kreuzverhör. Wir standen im blendenden Licht bei der Gestapo in der Munkelstrasse. Man schubste und stieß uns, und mir trat man in den Hintern. Man ließ uns auf Hitler schwören und drohte uns mit dem Nervenarzt Dr. Mucha. Am Schluss durften alle nach Hause.

Zu Beginn des Krieges war Fritz in die Schreinerlehre gekommen. Er war eine gute Hilfe für den Vater. Er war für das Kinderzimmer zu groß geworden. Er durfte das Furnierlager nach oben auf den Boden verlegen, so entstanden unten zwei Räume mit einem Wasseranschluss und ein kleiner Kanonenofen konnte die Räume erwärmen. Im Vorderzimmer standen zwar die Fahrräder der Gesellen und ein Rad der Familie und allerlei Gerümpel. Das hintere Zimmer durfte er sich mit der Hilfe vom Heinz Beckert anstreichen und nach seinem Belieben einrichten.

Mit dem Rad der Familie fuhr der Vater fast nie. Wir Kinder lernten aber alle darauf das Fahren. Die Nella kam noch nicht über die Stange und längst nicht auf den Sattel. Sie steckte einen Fuß unterhalb der Stange durch und hielt das schrägstehende Fahrrad mit ihrem Körper im Gleichgewicht. In den ersten Kriegstagen erhielten wir ein Radio, einen Volksempfänger, von einem Händler, der anders seine Rechnung nicht bezahlt hätte. Der Volksempfänger diente uns für die Nachrichten und die Warnmeldungen: Feindliche Flugzeuge sind im Anflug auf das Ruhrgebiet. Der Fritz versuchte des öfteren andere Sender zu bekommen und später gelang dies allen. Der Knopf musste gleich wieder verdreht werden, denn Feindsender in deutscher Sprache durften nicht gehört werden.

Nach meiner KLV-Zeit und der Krankenhauszeit zu Beginn meiner Schreinerlehre, durfte ich zum Fritz hinunter in sein Zimmer ziehen. Unsere Rangelei der Kinderzeit war vorbei. Es entwickelte sich eine brüderliche Freundschaft. Die Angst vor der Gestapo war bald vorüber. Unsere Gruppe und Freundschaft schweißte die Drohung noch mehr zusammen. Als Fritz zum Militärdienst eingezogen worden war, trafen wir uns in unserem Zimmer und machten daraus ein Heim für die Gruppe. Es störte uns nicht, das unser Hauswirt, Herr Kunze und unser Blockleiter unseren Treff missbilligten. Frau Lübbemeyer sagte abmildernd: "Lasst doch den Klub der Ungeküssten. Sie tun ihre Arbeit, halten alles sauber und sind immer hilfsbereit."

Bis zu der Zerstörung des Kolpinghauses, durch den Absturz eines feindlichen Flugzeuges dienten wir Jungen vor unserer Arbeit, des Morgens früh um sechs, wenn die Meister der Vereinigten Werkstätten und einige geladene Gäste sich dort versammelt hatten, bei der heiligen Messe. Der Präses, der Kolpingfamilie, Vikar Heinrich König war im KZ gestorben, und seine Asche in der Urne auf dem Friedhof beigesetzt. Der Jugendvikar Wickel kam in unser Heim und es kamen junge Männer aus der früheren bündischen Bewegung zu uns. Wenn sie im Heimaturlaub waren, so hatten sie sicherheitshalber ihre Militäruniform an. Oberleutnant Müller, von dem wir die Paddelboote hatten, ist später im Osten gefallen.

Wir bauten unser Heim aus. Heribert Haverkamp fing mit der Wandmalerei an. Er malte das Bild vom Erzengel Michael, der mit dem Drachen kämpft. Es folgten weitere Wandmalereien in Gemeinschaftsarbeit. Der Fritz Fahle besorgte Steine und Mörtel für einen Kamin. Ich fertigte eine Reihe einfacher Hocker an. Alfons Kampert machte die ersten Fotos und entwickelte sie. Wir hatten einen Geheimpfiff und unser Treffen sollte geheim bleiben. Unsere Maria hatte auch eine Mädchengruppe. Als der Erzbischof Lorenz Jäger aus Paderborn zur Visite in der Propstei war, kannte der Propst Preising ihren Namen nicht. Unsere Devise: Nimm dich nicht so wichtig. Unsere Gruppe machte trotz Verbot und den Kriegsumständen noch mehrere Fahrten. Die Fahrt zum Schliersee, wo der Hermann in einem KLV-Lager war, sei erwähnt.

Schliersee

Wir fuhren mit sechs Jungen unter abenteuerlichen Bedingungen mit Fliegeralarm und anderen Fahrtunterbrechungen mit der Bahn bis zum Schliersee. Beim Anflug von feindlichen Bombern, hielt der Zug und musste aus Sicherheitsgründen verlassen werden. Unsere Zeltausrüstung war mehr als mangelhaft. Es regnete. Wir kamen durchnässt am KLV- Lager an. Wir konnten selbstverständlich, trotz Hermanns Reden und Bitten beim Direktor, keine Aufnahme im Lager bekommen.

Wir gingen durch den Regen zum See hinunter. In einem leerstehenden Bootsschuppen, in den wir von der Seeseite aus einstiegen, errichteten wir unser Quartier. Aus einem Stadel, in der Nähe, besorgten wir uns trockenes Heu, legten es auf die Planken und breiteten unsere Sachen zum Trocknen aus. Wir mussten uns etwas zum Essen besorgen. Zu Hause hatten wir beim Amt unsere Lebensmittelkarten in Reisemarken umgetauscht. Dazu kamen die von uns gesammelten Reisemarken, die von der englischen Luftwaffe, in der Heide bei Deuten zusammen mit den Flugblättern abgeworfen waren, und wir gefunden hatten. Die Reisemarken waren sich so täuschend ähnlich, dass wir sie hier in Bayern, wo man sie nicht kannte, umsetzen konnten. Der erste Einkäufer wurde ausgelost. Wir hatten Herzklopfen. Das Geld spielte für uns keine wichtige Rolle. Das hatten wir genügend gespart und in die Gemeinschaftskasse gesteckt. Der geringfügige Unterschied in der Farbe ist nicht aufgefallen.

Des weiteren war es uns nur wichtig, wie wir beim Eintritt in einen Laden grüßen sollten. Am besten kamen wir mit dem "Grüß Gott" zurecht. Sagte der Ladenbesitzer: "Bei mir heißt es; Heil Hitler! Bei mir kriegt ihr Preußen nichts." So gingen am nächsten Tag zwei andere, in Braunhemden gekleidet in den Laden und sagten: "Heil Hitler ! Wir hätten gerne Leberkäs auf Reisemarken." An Lebensmittel hatten wir keinen Mangel und an Wasser auch nicht. Durch den ständigen Regen war der Schliersee so angestiegen, dass wir unser Lager nur mühselig, turnend erreichen konnten.

Nach einer Aussprache beschlossen wir: Wenn es morgen halbwegs trocken ist, machen wir morgen eine Bergtour zur Brecherspitze, und Übermorgen reisen wir ab. - So war es. Wir hatten den Tipp bekommen, in einem Stadel auf der Alm, die letzte Nacht zu verbringen. Wir nahmen unsere gepackten Affen mit. Den nassen Weg, den Berg hinauf ging unser Schritt. Die Schuhe waren lehmverschmiert und klebten am Weg. Den Berg hinauf, das Waldende erreichend, fanden wir auf der Alm eine neue, noch nicht bezogene Berghütte: "Die gehört bestimmt einem großen Parteibonzen." Wir gingen näher und um die Hütte herum. Alles war ruhig. Wer sollte sich auch bei diesem Wetter hier oben vergnügen. Ich fand eine Fensterblendlade, die nicht gesichert war und die man unbeschädigt ausheben konnte. Wir zogen unsere lehmverschmierten Schuhe aus und stiegen ein. Der Letzte reichte uns das Gepäck herein und kam selbst nach. Die Hütte war noch nicht bewohnt gewesen. Es war alles neu und nach unseren Vorstellungen vom Feinsten. Wir wollten nur zur Nacht ein Dach über dem Kopf haben.

Vorsichtig breiteten wir unsere Sachen auf dem Boden aus und verteilten die Stellen zum schlafen und die Stunden der Nachtwache. - Es konnte ja ein Unberufener hereinkommen. Wir stiegen wieder aus und schlossen die Blendläden. Mit leichtem Gepäck setzten wir unsere Bergtour fort und stiegen zur Brecherspitze auf. Oben angekommen, verschwanden die Nebel und die Wolkendecke riss auf. Wir sahen den Schliersee tief unter uns und die Almen und Berge um uns.

Am anderen Morgen verließen wir die Hütte, wie unberührt und hatten auch nichts mitgehen lassen. Unten am Bahnhof angekommen, stellte Bubscha fest: "Ich habe bei meiner Nachtwache meinen Schreckschussrevolver ins Regalfach gelegt und ihn dort vergessen." – "Vergiss ihn! Wir müssen von hier weg." Auf der Rückreise trennten wir uns in Rüdesheim. Alfons, Fritz und ich, wir hatten noch Urlaub und wollten unsere echten Reisemarken verleben. Die anderen fuhren weiter, nach Hause. Wir drei stiegen zum Niederwalddenkmal hinauf. Bei gutem Wetter dort oben angekommen interessierten uns mehr die reifen, süßen Früchte an den verwilderten Kirschbäumen, als das Niederwalddenkmal und die schöne Aussicht in den Rheing au. Es war ja auch nichts, gegen die Aussicht und das Erlebnis von der Brecherspitze. Wir taten uns gütlich an den süßen, wenn auch mageren Kirschen und spuckten mit den Steinen um die Wette.

Nebenbei füllten wir ein Kochgeschirr. Gegen Abend stiegen wir hinab. Unten am Rhein schlugen wir unser Zelt auf. Am Abend gab es Kirschpfannekuchen und ein Bad im Rhein. Dieser war, durch die Kriegszeiten bedingt, sauber. Unser letzter Fahrtenabend. Es wurde schon dunkel, als wir den Drachenfels hinaufstiegen. Stockdunkel war es, als wir am Hang unterhalb der Ruine, zwischen den Bäumen, provisorisch unser Zelt aufschlugen. Licht durfte nicht gemacht werden. Das Gestein des Felsens machte uns in der Dunkelheit zu schaffen. Am Morgen waren wir, durch die Hanglage bedingt, alle aus dem Zelt gerutscht. Geweckt wurden wir durch Kommandos und Gesang, die von der Burg herabschallten. Über uns befand sich ein SS- oder HJ-Lager. Schnellstens packten wir unsere Sachen und verschwanden zum Bahnhof. In den nächsten Zug, der in die Richtung des Ruhrgebietes fuhr, stiegen wir ein.

6. November 1944

Zu Hause waren wir wieder mit dem Bombenalarm und der Beseitigung der Bombenschäden beschäftigt. Im Frühjahr 1944 begann die große Evakuierung aus den Städten des Ruhrgebietes. Die Mutter kam mit den Kleinen, die nicht im KLV-Lager oder bei der Arbeit waren nach Gehlenbeck am Wiehengebirge. Unser Haushalt wurde geteilt und mit der Schreinerkarre zum Güterbahnhof gebracht. In Gelsenkirchen blieb der Vater, Maria und ich. Die Mutter musste sehen, wie sie mit dem anderen Teil der Familie zurecht kam. Die Nella leistete in Gehlenbeck ihr Pflichtjahr. Die Maria war Verkäuferin im Stammhaus Grewer. Sie musste nebenbei den Haushalt in Gelsenkirchen versorgen. Der Vater und ich hatten mit der Beseitigung von Bombenschäden in der Stadt und auf dem Hydrierwerk Gelsenberg zu schaffen. Die Schreinerkarre schob ich mit einem anderen Lehrling zusammen die fünf Kilometer nach Horst hin und zum Feierabend wieder zurück.

Eines Morgens fehlte uns ein Teil der Bretter, die wir an dem Tag verarbeiten sollten. Unsere Arbeit war noch nicht fertig und daher auch nicht abgenommen. Der Vater meinte: "Das gibt es nicht. Man kann das Werk nur mit besonderem Ausweis durch die Kontrolle betreten und verlassen. Tut so, als ob ihr am Arbeiten wäret. Nehmt die Reste und sägt lauter kleine Klötzchen. Ich geh mal los." Nach einer Stunde kam er mit drei Bretter auf dem Rücken zurück: "Mich durfte keiner erwischen und ich geh noch einmal. Beschäftigt euch schön langsam und macht mir keinen Murks." Am Abend war unsere Arbeit fertig und wir konnten sie abnehmen lassen. Auf dem Heimweg sagte er nur: "Ich habe bislang noch nie geklaut. Was sollte ich den machen, wenn man uns beklaut und die halbfertige Arbeit kaputt macht." Wie er die Bretter organisiert hat, ist sein Geheimnis geblieben.

Es kam der sechste November 1944. Die Sirenen heulten des öfteren in der Nacht und am Tag. Akut wurde es erst am Mittag um zwei. Ein Christbaum (ein Rauch oder Feuerzeichen) feindlicher Flieger stand über der Stadt und den Eisenwerken. Alles flüchtete in den Bunker. Nur gut, dass sich der Stau vor dem Eingang des Bunkers rechtzeitig auflöste. Ein Bombenteppich fiel auf die Stadt und den Eisenwerken herab. Auch der Arminbunker wurde getroffen. Er hopste nur und hielt allem stand. Die Menschen schrieen auf und weinten. Sie rochen den Brand von draußen und hielten sich, wie es geboten, nasse Tücher vor das Gesicht. In einer halben Stunde war der Hexenkessel vorbei. Wir konnten den Bunker verlassen.

Die Stadt brannte in einer unvorstellbaren Feuersbrunst. Unsere Werkstatt, das Haus mit all' dem Holz stand wie alles ringsum in hellen Flammen. Das Fenster meines Zimmers war durch den Luftdruck herausgeflogen. Ich wollte hineinklettern. Der Vater hielt mich zurück: "Die Decke stürzt ein. Siehst du das nicht?" Rief er mir zu. Mich über die Fensterbrüstung hineinlegend griff ich etwas aus dem Feuer und Qualm. Es war meine Gitarre, deren Boden war eingedrückt.

Das Haus, zum Teil aus Fachwerk, fiel in sich zusammen. Einigen Leuten half ich über den Trümmern hinweg aus der Feuersbrunst hinaus in die Richtung zum Stadtgarten. Da traf ich Nella am Machensplatz im Qualm umherirrend mit einem Tuch vor dem Mund. Sie rief: "Unsere Maria muss bei der Marianne Evers sein. Am Markt sind nur die Fenster und Türen herausgeflogen und ein par Pfannen vom Dach. Sie räumen dort schon auf." - Am Abend und in der Nacht heulten wieder die Sirenen.

Nach einigen Tagen sammelten wir die Eisenreste der ausgebrannten Maschinen und Werkzeuge und stellten alles in eine Garage, in der wir kampierten. Wir wollten in der Nähe unserer Werkstattreste bleiben. In der folgenden Zeit ging es mehr nur um das eigene Überleben. Als Werkzeug brauchten wir nur den Hammer, die Zange, die Säge und viele Nägel. Wir Schreiner machten alles dicht und nagelten es zu. Wo es durchregnete, stellten wir einen Eimer hin. In der Garage konnten wir nicht bleiben. Wir hatten weder Licht noch Wasser. Eine Wohnung, die nur leicht beschädigt, und deren Besitzer evakuiert waren wurde uns zu gewiesen.

Am Wochenende ging es auf Hamstertour. Da kam uns Marias vergangenes Pflichtjahr beim Bauern wieder zugute. Der Zug nach Heiden hielt an, als ein Tiefflieger nahte. Alles warf sich draußen hinter den Büschen in den Graben. Groß war unsere Hamsterbeute nie. Ware zum Tauschen hatten wir nicht. Wir konnten uns wenigstens einmal ohne Marken satt essen. Die Spitze unseres Hungers war, als Nella, die vorübergehend am Arbeitsamt beschäftigt war, nach langem Schlangestehen, nur Fischköpfe für eine Suppe erhielt. In der Reihe murmelte man: "Möge den Bonzen die Fische quer im Magen liegen. –Psst ! Der Feind hört mit."

Weihnachten 1944

Die Maria versuchte einmal aus getrockneten Steckrüben, mittels Lebertran, einen Reibekuchen zu backen. Im ganzen Haus stank es erbärmlich. Heiß aus der Pfanne konnten wir jeder einen essen. Dann ging nichts mehr. Der Magen rebellierte und wir hatten nur eine Toilette die immer besetzt war. Zum Weihnachtsfest fuhren wir zur Mutter nach Gehlenbeck. Wie wir da in der Enge geschlafen haben, weiß ich nicht mehr. Wir hatten aber einen kleinen Tannenbaum mit Lametta und selbstgefertigten Schmuck. Zur Mitternachtsmesse gingen wir Kinder zur sechs Kilometer weit entfernten Stadt Lübbeke, durch die Winternacht. Mutter und die Kleinen blieben zu Hause. Die Kirche war rappelvoll, so dass wir stehen mussten. Nella stand an einer Säule angelehnt. Als bei dem Lied "Stille Nacht" sie die ersten Weihrauchwolken erreichten, sackte sie in sich zusammen. Sie fiel in meine Arme, schlug nach kurzer Zeit die Augen auf und sagte: "Wo bin ich?" - Nach der Feier und dem Weg zurück, war im Haus alles dunkel und wir krochen leise in unsere Betten.

Am Weihnachtstag wurde gekocht und gespielt. Maria hatte ein Spielemagazin organisiert. Es lag unterm Weihnachtsbaum. Wir spielten: Mühle, Dame, Halma,Tausend und eins und Mensch ärgere dich nicht. In Gelsenkirchen folgten weitere, schwere Luftangriffe. Auf dem Kirchplatz lag ein Straßenbahnwagen, der von einer Luftmine getroffen, wie nichts über die Mauer geflogen war. Das Hans-Sachs-Haus war wie ein Kartenhaus einseitig zusammengeklappt. In diesem "bombenfesten" Haus gab es allein über hundert Tote.

Wir beerdigten mit der Schreinerkarre. Auf dem Friedhof gab es Bombentrichter, die die Toten herausgaben. Es entstand der Schrei: "Gott lass das Bomben aufhören, wir wollen lieber immer weiter hungern." Der Fritz auf einem Genesungsurlaub suchte uns. Er fand uns, nach dem er die Kenkenbergs getroffen und gefragt hatte, in einem Keller, wo das Wasser von der Decke tropfte, erbärmlich hausen. Mich steckte man in den letzten Kriegstagen in den Volkssturm. Der jüngste der Kompanie war ich. So fiel es mir zu, bei einer Übung, einen Probeschuss mit der Panzerfaust auf eine Eisenplatte zu machen. Die Kompanie sah zu. Zitternd stand ich da und schoss. Die Platte habe ich getroffen. Der Kompanieführer, einer von der Partei, in der Uniform, mit dem goldenen Parteiabzeichen sagte: "Junge, den Panzer hättest du erledigt."

Die Amis rückten heran. Wir bezogen Stellung am Kanal und buddelten die Schützengräben aus. In der Kompanie war noch eine Panzerfaust und jeder hatte ein altertümliches Gewehr mit einem Bajonett und zwölf Schuss Munition. Wir fühlten uns wie das verlorene letzte Aufgebot. Gegen Abend ging ich zum Kompanieführer: "Ich habe wieder in der Hüfte große Schmerzen. Ich kann nur noch am Stock gehen und muss unbedingt in der Stadt zum Arzt." In der Stadt suchte und fand ich den Fritz Fahle: "Machst du mit? Ich setze mich aus dem Ruhrkessel, bevor er dicht ist, ab. Meine Schwester Maria fährt auch mit. Wir besuchen unsere Mutter in Gehlenbeck." - Fritz machte mit.

Ganz in der Frühe fuhren wir drei mit unseren Rädern und den nötigsten Sachen in der Richtung Buer, zur Autobahn. Hinter uns hörten wir, wie die Kanalbrücken gesprengt wurden. Wir fuhren mit unseren Fahrrädern am Rand der Autobahn. Nicht wegen dem Autoverkehr, den es nicht gab, sondern um den Tieffliegern auszuweichen. Nur selten überholte uns ein Militärfahrzeug, oder ein alter LKW mit einem Holzvergaser. Wir Jungen hätten uns gerne bergauf hinten an ihnen angehängt, mit der Rücksicht auf Maria, ließen wir es sein. Die Autobahn nach Herford war manchmal unterbrochen, und ich weiß es nicht mehr, wie wir die hundertachtzig Kilometer ohne einen Platten an einem Tag geschafft hatten.

In Gehlenbeck konnten wir nicht untätig sein. Die Decke der Wohnung wäre uns in der Enge auf den Kopf gefallen. Wir zogen mit einem Bollerkarren zum Müller und ließen für uns und den Nachbarn ein Sack Korn mahlen, den wir irgendwoher organisiert hatten. Wir zogen in den Wald, sammelten Holz und schnitten es zu Brennholz. Als Nella, Gertrud und Ursel mit uns im Berg beim Sammeln waren und Fritz und ich den Karren zogen, pfiffen uns plötzlich Gewehrkugeln um die Köpfe. – "Alles hinwerfen!" schrieen wir. Im Berg war noch Kampfgebiet. Wir waren da hineingeraten. Als es nach einiger Zeit ruhig wurde, standen wir auf und liefen, den Karren hinter uns her ziehend und schiebend den Berg hinunter. Wir mussten einen Umweg nehmen. Auf glattem Wege kommend, setzten wir die Jüngeren auf den nur halbvollen Wagen.

Später, als es vorgesehen war, kamen wir im Dorf an. Die Mutter hatte sich große Sorgen um uns gemacht. Sie hatte das Schiessen gehört. Aufatmend sagte sie: "Ich hatte so ein netten Besuch gehabt und ich glaub, ihr wolltet ihn nicht sehen." Einige Tage vor dem Kriegsende rückten die Amis ein. Auf der Dorfstrasse fuhren sie mit ihren leise surrenden Fahrzeugen vorbei. Wir schwenkten weiße Tücher. Im Dorf fiel kein Schuss. Wir sahen zum erstenmal Soldaten mit schwarzer Haut. Sie saßen die MP haltend oben auf ihren Fahrzeugen und winkten uns freundlich zu.

Frühjahr 1945

Fritz Fahle, der in diesen Tagen, unser Bruder war, dachte an seine Eltern, sein Zuhause. Wir drei versuchten in den letzten Kriegstagen, als der Ruhrkessel schon von den Alliierten besetzt war, nach Gelsenkirchen zu kommen. Wir kamen nicht weit. Durch Schiessereien behindert, mussten wir umkehren. Am anderen Morgen staunte die Mutter und war froh, dass wir gesund zurück gekommen waren. Nach einigen Tagen versuchten wir es aufs neue. Dieses mal war es die Mutter, die uns antrieb: "Ihr könnt den Vater nicht so lange allein lassen. Fritz, deine Eltern machen sich Sorgen um dich." Wir fuhren in der Frühe, der Morgendämmerung los. Es war ganz ruhig auf der Strasse. Die Sperrstunden der Nacht waren gerade vorbei. Bei Brakel hatten wir eine Kontrolle durch belgisches Militär. Sie nahmen den Fritz, der sein Soldbuch, den Militärpass gezeigt hatte, fest. Marias Bitten half nichts. Wir mussten ohne ihn weiter fahren. Fritz kam ins Gefangenenlager bei Rheinberg. Dort lebte er, wie die vielen Tausende, in einem sich gebuddelten Erdloch bei Sonnenschein und Regen.

Nach einigen Wochen durfte er nach Hause und erfuhr jetzt erst, dass sein Vater in den letzten Kriegstagen, bei Rettungsarbeiten unter einer einstürzenden Mauer begraben wurde und man ihn tot herausholte. Maria und ich, wir setzten unsere Fahrt mit dem Fahrrad nach Gelsenkirchen fort. Die Räder hatte man uns gelassen. Das Fahrtengepäck mussten wir abgeben. Uhren hatten wir keine. Durch Hunger, durch Umwege und zerstörte Strassen bedingt, ging uns gegen Abend die Kraft aus. Wir konnten nicht mehr auf dem Sattel sitzen, und die Beine schmerzten bei jeder Anstrengung. Ab neun Uhr war die Sperrstunde. Es durfte niemand auf der Straße sein. In einem überfüllten Krankenhaus in der Nachbarstadt Wanne, ließen uns die Nonnen auf dem Flur, auf einer Bank übernachten. Am anderen Morgen hatten wir es nicht mehr weit. Etwas erholt setzten wir unsere Fahrt über Nebenstrassen und um Bombentrichter fort. Wir trafen den Vater gesund wieder. Er war mit den Aufräumungsarbeiten beschäftigt. - Der Krieg war vorbei.

Der Krieg ist vorbei

Die Menschen, die zu Kriegszeiten die Stadt verlassen mussten und die Flüchtlinge strömten nach Gelsenkirchen, in die zerstörte Stadt. Die Wohnungsnot war unvorstellbar groß - Wir mussten die Wohnung am Rundhöfchen verlassen. Die Eigentümer kamen zurück. Auch der Hermann war aus dem KLV-Lager zurück und die Mutter mit den kleineren Kinder wollte auch kommen.

Die Beskenstrasse Nr. 35 : Das Vorderhaus war zerstört. Über den Schutt konnte man zum Hinterhaus, der früheren Tanzschule Fischbach gelangen. Das Dach war abgedeckt, die Fenster und Türen vom Luftdruck der Bomben herausgeflogen und im Saal war vom Regen der Fußboden hochgekommen. Der Parkettfußboden war nur Stückweise vorhanden. Man hatte ihn als Brennholz gebraucht. Der Besitzer des Hauses war die Erbengemeinschaft Fischbach. Sie erlaubten es uns, das Haus notdürftig in Stand zu setzen und zu bewohnen. Mit vereinten Kräften machten wir das Haus wetterfest. Der Vater besorgte von den Eisenwerken dünne Bleche, mit denen wir es notdürftig deckten. Die Fenster, darin hatten wir Erfahrung, wurden verglast. Oben im Saal richteten wir den Fußboden einigermaßen wieder her. Aus dem Bunker besorgten wir Notbetten und füllten die Säcke mit Stroh. Den Schutt vom Vorderhaus scheppten wir zur Seite. Das Hinterhaus konnte wieder ohne Mühe erreicht werden.

Die Mutter kam mit den Kindern und dem Mobiliar zurück. Wir hatten wieder einen Küchenherd, einen Tisch und einen Schrank. Vor dem Haus kam eine Luftschutzbank aus dem Bunker. Diese wurde in der folgenden Zeit der Treffpunkt der Jugend. Das Erdgeschoss teilten wir durch eine Holzwand auf, belegten den Steinboden mit Teppichresten und richteten die Wohnung ein. Der obere Saal musste uns als Werkstatt dienen. Unser Fritz kam aus der Gefangenschaft zurück. Arbeit war für alle in Mengen da. Man schuftete bis in die Abendstunden und auch des Samstags. Nur was man für die geleistete Arbeit erhielt, war etwas anderes, das Geld war nichts mehr wert. Die Lebensmittelkarten und der Hunger blieben.

Für unsere geleistete Arbeit versuchten wir neben dem Geld , Brot, Kartoffeln und Gemüse zu bekommen. Die Beschaffung von Nahrung stand im Vordergrund. So blieben zum Wochenende die Hamsterfahrten. Die Maria war wieder mit dabei. Am Kanal mussten die Hamsterer mit einem Kahn herüberrudern. Die Brücken waren zerstört. Ab Buer-Nord ging es mit einem überfüllten Hamsterzug nach Heiden zu ihrem Bauer. Es konnte passieren, dass man nur auf dem Trittbrett oder dem Dach des Zuges einen Platz fand. Schnell fuhr der Zug nicht und bei einer Brücke musste man sich flach hinlegen. Dazu musste jeder etwas zum Tauschen mithaben und wenn es die letzte Taschenuhr der Familie war. Auf dem Rückweg hielt der Zug auf freier Strecke. "Alles aussteigen! Es spricht die Militärpolizei", ertönte es über Lautsprecher. "Ihre Ausweise und Fahrkarten! Jeder muss hinter seinem Gepäck stehen." Ich nahm den halben Zentner Kartoffeln auf den Rücken und stieg aus. Maria hielt vorsichtig dass Bauernbrot und ein Dutzend Hühnereier in einem Beutel gepackt im Gedränge, hoch über ihren Kopf. Bei der Kontrolle konnte es passieren, dass man das Mühsam erbettelte, abgeben musste. Es half kein Verstecken des Hamstergutes. Was im Zug liegen blieb, wurde ohne eine Frage beschlagnahmt. Der Schreck war größer als die Wirklichkeit. Wir hatten unsere Sachen heil nach Hause bekommen.

Das, was wir bei der Hamstertour gegessen hatten, bekam uns nicht. Wir hatten uns auf dem Bauernhof, den Magen so richtig schön voll geschlagen. Die derbe, fette Bauernmahlzeit war unser Magen nicht gewohnt. Vielleicht hatte sich der Magen auch nur vor Schreck gedreht. Er rebellierte und gab nach der Kontrolle, noch an den Bahngleisen stehend, alles heraus. Zu Hause wurde das mitgebrachte, von allen begutachtet. - "Oh, Mutter ! Jetzt gib bitte, bitte eine Schnitte von dem Bauernbrot. Das alte Maisbrot lass heute im Kasten." Die Mutter gab nach. Maria musste das frische Brot herausgeben. Sie durfte es anschneiden und sagte: "Der Knappen bleibt liegen, der ist für mich."

Wir hatten die Zeit des Steineklopfens, der Nachbarschaftshilfe und des Kompensierens. Hermann und ich brachten zwei ausgebrannte Elektromotoren mit der Handkarre zu einem zehn Kilometer entferntem Werk. Über Marias Beziehungen konnten wir unsere ausgebrannten Maschinen zu einem Werk bringen, wo sie halbwegs zum Gebrauch hergerichtet wurden. Nach vierzehn Tagen durften wir wieder mit der Handkarre dorthin und mit der zusätzlichen Abgabe von altem Kupfer einen Motor abholen.

Nachkriegszeit

Natürlich ging die Sache nur mit einer Gegenleistung. Spaßeshalber riefen wir beim Probelauf einer Maschine: "Alles in Deckung! Ich stell die Maschine an." - Onkel Willi aus Bocholt, der Schlosser, goss die Gleitlager der Abrichte aus. Wenn die auf Touren kam, dachte man, die fliegt gleich auseinander. Die Schreinerwerkstatt blieb glücklicherweise ohne große Unfälle. Beim Vater verklemmte sich ein Brett an der Kreissäge. Es flog zurück und traf ihn in der Magengegend. Außer einem Bluterguss blieb nichts zurück.

An einer Baustelle stahl man uns die über den Krieg gerettete Schreinerkarre. Sie war mit einer schweren Eisenkette befestigt. Mit einem Bolzenschneider hatte man die Kette getrennt. Die ganze Familie, die Firma und die Freunde suchten sie drei Tage lang. Sie blieb verschwunden. Wir mussten uns bei einem Schlosser eine neue, gebrauchte Handkarre beschaffen. Diese war schwer und längst nicht so gepflegt, wie unsere alte. Jeder Meter Boden wurde überall als Gartenland genutzt. Wir bauten zwischen Werkstatt und den Trümmern, Bohnen, Erbsen und ein paar Tabakpflanzen an. Der Tabak erhielt nach der Ernte vom Vater eine besondere Behandlung mit einer speziellen Tabakbeize. Selbst die im allgemeinen nicht gebrauchten Pflanzenstiele schnitt er nach seinem Patent vorsichtig auf der Kreissäge und steckte sie in seine Pfeife. Die Werkstatt brannte nicht ab und auch die Pfeife nicht.

Maria ging weiter als Verkäuferin ins Kaffeehaus Grewer. Fritz und ich, wir waren mit in der Werkstatt tätig. Nella begann die Lehre als Schneiderin. Hermann machte das Einjährige am Gymnasium. Er ging danach auf das Eisenwerk und wurde Maschinenbauingenieur. Gertrud erlernte das Handwerk der Weißnäherin, und Ursel das der Putzmacherin. Hanna und Elisabeth gingen noch zur Schule.

Unser Haus und die Tür waren immer für jeden offen. Jeder von uns war in oder leitete eine Jugendgruppe. Beim Aufbau der Propsteikirche und des Kolpinghauses halfen wir mit. Das Schuttscheppen und Steineklopfen war eine selbstverständliche Ehrensache. Es gab schon mal eine Kleinigkeit, wie ein Stückchen Schokolade, das der Vikar aus einem "CARE-Paket" verteilte. Wir freuten uns darüber und teilten es. Mutters Bruder Peter, der Franziskanerpater und Professor Gaudentius, schickte ein "CARE-Paket" aus Brasilien. Die Mutter verteilte es gleichmäßig an alle Kinder und Gäste. Es war immer etwas los, auf der Bank vor dem Haus, bei den Bastelarbeiten in der Werkstatt und beim Spiel in der Wohnung.

Nella hatte mit ihren Freundinnen am Ostertag einen Ausflug nach Haltern zum See gemacht. Es war so schön, dass sie am Abend den letzten Zug verpassten. Auf dem Bahnhof in Haltern ließ sie ein Bahnbeamter in einem Abteil eines stehenden Zuges übernachten. Zu Hause war nichts aufgefallen. Am Ostermontag wurde sie in aller Frühe begrüßt. "Oho! Kommst du schon aus der Frühmesse ?"

Die Währungsreform

Die Währungsreform war gekommen. Wenn das Geld auch knapp war, in den Läden konnte man alles kaufen, oder es sich in den Schaufenstern nur ansehen. Für die Beskenstrasse 35 konnten wir einen Vorverkaufsvertrag abschließen. In gemeinsamer Arbeit scheppten wir das zerstörte Vorderhaus aus und der Aufbau begann. Marias Freund, Franz Gettler, war aus der englischen Gefangenschaft heimgekehrt. Auch er half beim Aufbau. Mit ihm zusammen legte ich die Balken für den Fußboden und nagelte singend die Bretter auf. Maria und Franz blieben zusammen. Die Hochzeit war zum Osterfest 1953. Sie zogen für die ersten Monate ihrer Gemeinsamkeit, wie alle folgenden Paare, oben unterm Dach in die Stube ein. Unsere beiden Jüngsten wuchsen auch heran.

Hanna wurde zunächst Apothekenhelferin bei Butz und Elisabeth nach der Handelsschule, Steuerberaterin. Obwohl sie auch in der Jugendarbeit tätig waren, und älter werdend, mit uns ausgingen, kamen sie nicht in die Reihe der Hochzeiten, die alle halbe Jahre in der Familie stattfanden. Fritz lernte Marlene Kramer, die Tochter Mutters Freundin Margarete kennen. Sie waren das zweite Hochzeitspaar. Fritz hatte zuvor die Meisterschule besucht und übernahm als junger Schreinermeister die Werkstatt.

Die Mutter hatte eine Vorliebe für Bahnbeamte. Sie dachte dabei immer an ihren so früh verstorbenen Bruder Fritz. Heinz Kerkhoff, der Freund unserer Nella war es. Sie waren das dritte Paar, das sich in der Propsteikirche das Jawort gaben. Evi Grabowski war die Freundin von Nella. Evi und ich, wir hatten beide eine Jugendgruppe und lernten uns kennen. Evi ging zuvor schon immer bei uns ein und aus. Sie sagte: "Ich hab dich immer mit dem Reiner Gratzfeld Schachspielen gesehen." 1955 war die Hochzeit. Hermann lernte Lore Wiegand von nebenan kennen. Josef Wiegand von nebenan verliebte sich in unsere Ursel. Die Mutter sagte: "Die kannten sich schon vom Kindergarten her." Sie waren die nächsten Hochzeitspaare.

Gertrud lernte den Karl-Wilhelm Kremer, einen Jungen aus meiner Gruppe kennen. Karl-Wilhelm kam aus Epe im Emsland und war hier in Gelsenkirchen bei seinem Onkel in der Malerlehre. In Düsseldorf ging er zur Meisterschule. Die Hochzeiten wurden in wenigen Jahren hintereinander gefeiert, ebenso die Geburten und Taufen. Am Ende hatten unsere Eltern zwanzig Enkelkinder. Die Rufnamen der Enkelkinder sind: Traudmarie, Nella, Klaus und Elisabeth Gettler. Thomas, Georg und Christine Banning. Ursel und Hermann Kerkhoff. Stefan, Eva-Maria, Johannes und Norbert Banning. Trude, Maria und Mechthild Banning. Marlis und Peter Kremer. Martin und Monika Wiegand.

Dieses ist der Versuch, etwas aus der Familiengeschichte zu erzählen. Manches in der Familie erlebte kam gewiss zu kurz oder wurde von mir vergessen. Es kann erweitert werden.

Erzählt von Heinz Banning, * 5. Dezember 1927 in Gelsenkirchen. Mit freundlicher Genehmigung, alle Rechte vorbehalten.

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Andreas Jordan, November 2008

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