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Bernd Haase: Erinnerungen an Gelsenkirchen
Abb.: Bernd Haase, 85. Geburtstag
Ich wurde 1926 in Gelsenkirchen geboren, in einer Stadt des Ruhrgebietes, in Westfalen, Deutschland. Es war eine Stadt von mehr als 300.000 Einwohnern und man nannte die Gegend Kohlenpott wegen der vielen Zechen, Eisen- und Stahlwerke. Die Familie Haase stammte eigentlich aus Norddeutschland, sie wurde aber angezogen durch die boomende Industrialisierung. Großvater Bernhard tat gut daran, nach Gelsenkirchen zu kommen. Er hatte ein Haus am Ende der Weststraße, (heute Ecke Robert-Koch-Straße/Husemannstraße) und blickte von dort über den Stadtgarten. Er hatte auch Eigentum an der Bahnhofstraße.
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Abb.: Grabstätte Familie Haase auf dem alten jüdischen Friedhof an der Wanner Straße/Ecke Oskarstraße in Gelsenkirchen-Bulmke, vor 1938
Zusammen mit seinem Bruder Sally war er an der Gründung der jüdischen Gemeinde beteiligt. Sally Haase war auch Stadtverordneter von Gelsenkirchen. Ihre Grabsteine finden sich noch auf dem alten jüdischen Friedhof an der Wanner Straße. Mein Vater Sally wurde 1891 geboren. Ich weiß nicht viel über seine Schulzeit, außer das er, wie viele andere, Schwierigkeiten auf dem Realgymnasium hatte. Nach der Schule machte er eine kaufmännische Ausbildung in der nahe gelegenen Stadt Essen. Als der erste Weltkrieg ausbrach, meldete er sich sofort freiwillig zur Armee. Er kämpfte an der französischen und der russischen Front und erhielt für seine Tapferkeit das Eiserne Kreuz. Er kam in französische Kriegsgefangenschaft, wo er sich als Übersetzer nützlich machte. Nach dem Krieg versuchte er sich in verschiedenen geschäftlichen Aktivitäten, darunter auch beim Import gefrorenem argentinischen Fleisches, was damals etwas ganz neues war. 1924 heiratete er meine Mutter Carola Cossmann, die 1898 in Bonn geboren war. Sie war eine Witwe mit einem kleinen Mädchen - meine Halbschwester Margot, die in North Carolina lebt. Meine Schwester Ingrid wurde zwei Jahre nach mir geboren.
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Abb.: Das Haus der Familie Haase an der damaligen Kaiserstrasse 10 in Gelsenkirchen (Heute Kurt-Schumacher-Strasse)
Wir lebten in einer großen Wohnung in einem vierstöckigen Haus an der Kaiserstraße (heute Kurt-Schumacher-Straße), dass mein Vater geerbt hatte. Dort gab es einen großen Hof und einen großen Garten. Es war eine schöne, von Bäumen gesäumte Straße nicht weit entfernt von Schalke, die Heimat des bekannten Fußball-Vereins. Gegenüber von unserem Haus war ein Tennis-Platz und im Unterschied zur Gegenwart keine Straßenbahnlinie, die durch die parallele Schalker Straße verlief. ich beobachtete gerne, wenn die Menschenmassen am Sonntagnachmittag vom Fußballstadion durch unsere Straße zurückkamen, oder ich beobachtete die Straße, wenn sie mit den farbigen Fahnen geschmückt war für die alljährliche Prozession der Georgskirche.
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Von 1932 bis 1939 ging ich in die jüdische Volksschule. Die Schule hatte acht Klassen, aber nur drei Klas- senräume. Diese Schule war jüdisch, weil alle Volksschulen nach Religionen getrennt eingerichtet waren. Religionsunterricht fand samstags nach dem Gottesdienst statt. Der Gottesdienst verlief nach eher konser- vativen Regeln, aber es gab auch eine Orgel und einen Chor, in dem meine Mutter sang. Ich mochte die Schule gern, außer den halbstündigen Fußweg dorthin. Um Ärger mit anderen Schülern aus dem Weg zu gehen, konnten wir immer eine Viertelstunde früher gehen. Ich wurde nur einmal belästigt. Im Stadtgarten beschimpfte mich eine Gruppe von Jungen als dreckigen Juden ("Jude Itzig, Nase spitzig, Augen eckig, ... dreckig") und wollten mich verprügeln. Irgendwie entwischte ich aber. ich erinnere mich nicht an andere Vorfälle. Viele Bergleute und Stahlarbeiter waren politisch links und keine fanatischen Nazis.
Abb.: Ausflug einer jüdischen Schülergruppe aus Gelsenkirchen. Unten: Erich Silberberg, Hans Alexander, Ernst Back, Heinz Löwenthal, Sam "Sami" Diament, Hermann Cohen. Oben: Werner Alexander, Meyer, Else Galliner, Uta Meyer, Rabbiner Dr. Siegfried Galliner, Fred Gompertz, Bernd Haase, Alexander, Hans Schul.
Meine ältere Schwester Margot konnte weiter zum Lyzeum gehen, bis dort die jüdischen Schülerinnen rausgeworfen wurden. Ich selber hatte nie die Chance, eine höhere Schule zu besuchen. Wegen der Emigration schrumpfte die Volksschule, so dass sie in einen Klassenraum passte. Herr Weinstock war der letzte Lehrer dort. Dort gab es auch einen jüdischen Turnverein. Weil Sport in der Schule obligatorisch geworden war, durften die Räume der Schule auch für den Sport genutzt werden. Weil Herr Weinstock schon älter und ungeübt war, durfte ich die sportlichen Aktivitäten leiten, die vor allem in Gymnastik und Geräteturnen bestanden. Obwohl ich erst dreizehn Jahre alt war, durfte ich diese Aufgabe übernehmen.
Nachdem Hitler an die Macht gekommen war, hatte mein Vater Schwierigkeiten, den Lebensunterhalt zu verdienen. Die Häuser an der Bahnhof- und Kaiserstraße mussten verkauft werden. Dann versuchte er, eine Tankstelle und Autowerkstatt an der Von-der-Recke-Straße zu betreiben, was aber auch scheiterte. So verlegte er sich auf Hausierhandel mit Haushaltsgeräten, was aber kaum etwas einbrachte.
Mein Vater wurde am 9. November 1938, dem Geburtstag meiner Schwester, verhaftet, als natürlich auch die Synagoge in der Neustraße niedergebrannt wurde. Ich erinnere mich nicht an mehr, denn mir wurde verboten, nach draußen zu gehen. Der Gottesdienst wurde von da an zuerst in einer Wohnung an der Hindenburgstraße und dann in der Wohnung von Dr. Meyer abgehalten. Dort hatte ich dann im März 1939 meine Bar Mizwah. Mein Vater war gerade aus dem KZ gekommen und sollte bald nach Belgien fliehen. Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah.
Im Sommer 1939 verließ uns unsere ältere Schwester, sie ging mit Hilfe von Verwandten ihres Vaters in die USA. Unsere eigenen Quoten-Nummern waren zu hoch, um Deutschland verlassen zu können. Zwischen 1939 und 1940 machte ich eine Lehre in einer Maschinenfabrik, die von der jüdischen Gemeinde Dortmund betrieben wurde. Dann arbeitete ich bei dem Galvanisierbetrieb Adolf Walter. Dort wurde ich vom Chef und den Mitarbeitern fair behandelt.
Finanziell wurden wir unterstützt von der Schwester meines Vaters, Lotte, und ihrem Ehemann, Ernst Spiegel, die in Köln lebten, bis sie nach Israel auswandern konnten. 1937 hatten wir schon umziehen müssen, von unserem Haus an der Kaiserstraße in eine Drei-Zimmer-Wohnung am Moltkeplatz. Das war nicht so schlecht, besonders weil ich jetzt nur einen Weg von vier Minuten zur Schule hatte. Wir mussten dann aber erneut umziehen und uns einen Raum mit der Familie Schettmar, den Inhabern der Wohnung, teilen. Das war grauenhaft. Wir konnten dann aber in einen etwas größeren Raum der Familie Neuwald an der Arminstraße ziehen. Bis zu dieser Zeit war es uns noch erlaubt, uns frei zu bewegen. Wir konnten einkaufen, wo wir wollten, und die Züge benutzen. Wir durften aber nicht ins Kino gehen oder an irgendeiner öffentlichen Veranstaltung teilnehmen. Einmal ging ich aber trotzdem zu einem Fußballspiel - Schalke gegen Manchester. Dann begann der Krieg und die Medien jubelten über die Siege, und ich fühlte manchmal wohl einen völlig unangebrachten Stolz.
Wie jeder junge Mensch mochte ich den Ort, an dem ich aufgewachsen war und wo ich meine prägenden Jahre hatte. Gelsenkirchen war keine besonders schöne Stadt. Man versuchte Großstadt zu seien, und war ja auch mit der Zusammenlegung von Buer und Horst sehr groß geworden. Es gab viele Straßenbahnen, die ich bis zur Gegenwart besonders mag. Die Stadt hatte einen schönen Bahnhof mit einem außergewöhnlichen Mosaikfenster und einen schönes Postgebäude. Die roten Ziegelsteine entsprachen damals dem Zeitgeschmack. Ich mochte den Stadtgarten und die Zeppelinallee, die Richtung Restaurant Waldhaus, Rennbahn und Flughafen führte. Und dann gefielen mir natürlich auch die Bahnhofstraße, die Haupteinkaufsstraße, und das Hans-Sachs-Haus mit seinem Paternoster - also einem kontinuierlich laufendem Fahrstuhl, bei dem man hoffte, dass nichts passieren würde, wenn man ihn betrat.
Abb.: Der TRIX-Metallbaukasten
An vielen Wochenenden fuhr ich mit dem Fahrrad mit meinem Freund Chaim Häusler nach Buer in den schönen Norden Gelsenkirchens. Die Fahrt bergauf nach Buer war sehr anstrengend, aber dabei vergaßen wir alle Sorgen. Zu Hause las ich, ich malte und baute etwas mit meinem TRIX-Baukasten. Sobald ich 50 Pfennige zusammen hatte, kaufte ich mir eine neue Schachtel mit Bauteilen. Chaims Vater wurde bald nach Polen deportiert und die Mutter und seine vier Geschwister mussten in Silberbergs leeres Ladenlokal an der Bochumer Straße ziehen. Das war sehr primitiv und erniedrigend. Uns ging es ab Mitte 1941 immer schlechter, als wir auch noch den Judenstern tragen mussten und wir nur noch in bestimmten Geschäften einkaufen durften. Wir hatten zwar Lebensmittelkarten wie alle anderen, aber wir durften immer nur am späten Nachmittag einkaufen und bekamen dann nur das, was übrig geblieben war. Meine Mutter kannte aber noch ein oder zwei Händler, die ihr gelegentlich etwas unter der Hand verkauften.
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Im Dezember 1941 wurden meine Mutter, meine Schwester und ich aufgefordert, unsere Habseligkeiten für eine Umsiedlung nach Osten zusammenzupacken. Wir kennzeichneten unsere Möbel und packten Bettzeug und Kleidung in Rucksäcke. Am Abreisetag packten wir noch Butterbrote ein. Es kam ein Bus und brachte uns zur Gelsenkirchener Ausstellungshalle (Wildenbruchplatz). Für unsere Nachbarn fuhren wir äußerlich normal weg.
Abb.: Ausstellungshalle Wildenbruchplatz, von den Nazis 1942 als temporäres "Juden-Sammellager" genutzt.
Aber in der Ausstellungshalle mussten wir dann wie Tiere auf dem strohbedeckten Boden liegen. Am fünften Tag, früh am Morgen, mussten wir durch Schnee und Dunkelheit zum Güterbahnhof marschieren. Dort schickte uns die Gestapo in einen Personenzug, brüllend und Peitschen schwingend. Wir wurden durchsucht und unser Geld und andere Wertgegenstände wurden uns weggenommen. Wir hatten unsere Rucksäcke mit im Zugabteil, unsere Koffer und die Haushaltsgegenstände wurden in einen angehängten Waggon gepackt. Dieser Wagen wurde später abgekoppelt und sein Inhalt an Fremde verteilt. Langsam verließ der Zug Gelsenkirchen. In Dortmund wurden weitere Waggons angehängt, so dass wir etwa 1.100 Seelen waren. Als der Zug immer nach Nordosten kam, wurden die Heizungen abgestellt. Die Toiletten froren ein und es begann ein wirklicher Jammer. Die Fahrt endete in Riga, Lettland. Erst waren wir im Ghetto, dann im Konzentrationslager.
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Als die Russen im Herbst 1944 näher kamen, wurden wir nach Stutthof bei Danzig geschickt. Dort sah ich meine Mutter und meine Schwester zum letzten Mal. Ich wurde im März 1945 befreit, meine Mutter und meine Schwester überlebten die letzten drei bis vier Monate nicht. Als die die Deutschen im Westen vorrückten, floh mein Vater von Brüssel nach Südfrankreich. Von den USA aus versuchte meine Schwester, ihn dort herauszuholen. Aber als Deutschland der USA den Krieg erklärte, war es zu spät. Mein Vater wurde in Auschwitz vergast.
Nach der Befreiung kehrte ich im Juli 1945 nach Gelsenkirchen zurück. Die Stadt war stark zerstört und es war schwer Unterkunft und Verpflegung zu finden. Zuerst kam ich bei Fritz Beine unter. Seine Frau war vor dem Holocaust unsere Haushaltshilfe gewesen, und Fritz war ein alter Bergmann und gegen die Nazis eingestellter Kommunist. Da ich nicht dauerhaft bei ihm bleiben konnte, zog ich zu meinem Freund Chaim Häusler, der Riga und Buchenwald überlebt hatte. Schließlich fand die Stadtverwaltung für mich einen schönen Raum bei der Familie Herwig. Herr Herwig war ein leidenschaftlicher Antifaschist und Sozialist, dort bekam ich gutes Essen. Als ein früherer "politischer Gefangener" erhielt ich doppelte Lebensmittelrationen und Herr Herwig kombinierte sie erfolgreich mit deren Lebensmittelkarten. Ich war immer noch dauernd hungrig.
In Gelsenkirchen gab es damals etwa 10 bis 15 Juden, die den Holocaust überlebt hatten und nach Gelsenkirchen zurückgekehrt waren. Dann gab es dort noch ungarische Jüdinnen, die auf einem der Werke hatten Zwangsarbeit verrichten müssen, und schließlich einige "Halbjuden" und die jüdischen Ehepartner nichtjüdischer Menschen, die nicht deportiert worden waren. Mit Hilfe von Juden innerhalb der britischen Besatzungsmacht konnte ich Kontakt mit meiner Schwester Margot in New York und Lotte und Ernst Spiegel in Israel aufnehmen. Lotte schickte mir sofort Carepakete.
Abb.: Schalker Verein
Meine Arbeit in der Maschinenfabrik, meine Liebe zum Zeichnen und das Spiel mit dem TRIX-Baukasten führte dazu, dass ich mir überlegte, technischer Zeichner oder Ingenieur zu werden. Dafür musste ich meine unterbrochene Ausbildung fortsetzen. Die Ingenieurschule in Essen war sehr freundlich zu mir und nahm mich auf, obwohl ich nur eine Volksschulausbildung hatte. Ich nahm an dem ersten Mathematikkurs teil und verstand kein Wort. Damit war diese Ausbildung nicht möglich.
Dann nahm ich an Fernkursen teil, darin hatte ich Erfolg. Schließlich bekam ich eine Anstellung als Zeichner bei einem Eisen- und Stahlwerk, dem Schalker Verein. Mit Hilfe meiner Schwester Margot verließ ich Deutschland im Januar 1947, um in die USA zu gehen. Dort arbeitete ich als Zeichner und ging zu einer höheren Schule und abends zum College. 1958 bekam ich meinen Bachelor als Ingenieur.
Seit 2010 erinnern in Gelsenkirchen vor dem Haus Kurt-Schumacher-Straße 10 Gunter Demnigs Stolpersteine an Familie Haase. "Jetzt hat sich der Kreis geschlossen" sagte der am 9. März 1926 in Gelsenkirchen geborene Bernd Haase nach der Stolpersteinverlegung im Juni 2010.
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Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Bernd Haase, USA.
Dieser lebensgeschichtliche Bericht wurde von Bernd Haase niedergeschrieben. Der Bericht wurde erstmals im Januar 2004 in dem Buch von Stefan Goch, "Jüdisches Leben. Verfolgung - Mord - Überleben", erschienen im Klartext-Verlag, veröffentlicht.
Jüdische Schülergruppe 1938: ISG - Fotosammlung
Gezeichnete Erinnerungen
Die Erlebnisse der Häftlinge in den Konzentrationslagern gelten für uns, die wir nicht dort waren, als unbeschreiblich. Bernd Haase hat das Erlebte nach seiner Befreiung aus dem KZ in Zeichnungen gefasst. Dargestellt sind in seinen Zeichnungen exemplarische Szenen aus dem täglichen Horror der KZ-Gefangenen im Ghetto Riga und im KZ Kaiserwald. Der Überlebende des Holocaust hat so für sich einen Weg gefunden, sich mit dem Erlittenen auseinanderzusetzen und sein Leid mittels dieser Kunstwerke auszudrücken. Die Zeichnungen sind 1945 entstanden, hier eine Auswahl.
Abb.: Selektion von Kindern, sie sollen in den Wäldern vom Riga ermordet werden
Abb.: Der Weg zum Wasser holen führte am Galgen auf dem Blechplatz im Ghetto Riga vorbei
Abb.: Appell im Konzentrationslager Kaiserwald, Riga
Abb.: Prügelstrafe wird von der SS im KZ Kaiserwald vor den versammelten Häftlingen vollzogen
Zeichnungen: Privatbesitz Bernd Haase. Alle Rechte vorbehalten.
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