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Berlin: Attentat auf Wachs-Hitler


Symbolik allein ist nicht genug

Bei der Eröffnung am 5. Juli 2008 der Berliner Zweigstelle des Londoner Wachsfiguren-Kabinetts von Madame Tussaud (London) hat ein 41-jähriger Mann der umstrittenen Wachsfigur von Diktator Adolf Hitler den Kopf abgerissen. Rolf Potthoff schreibt für die WAZ über die Erinnerungskultur in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg und dem "ersten gelungenen Attentat auf Adolf Hitler":

"Er soll ja ein gutmütiger Mensch sein, sagen seine Attentat auf Wachs-Hitler Freunde über den Mann, der Hitler köpfte. Aber jetzt riss ihm der Faden: Hitler im Wachsfigurenkabinett als Attraktion - das ging ihm dann doch zu weit. Der Beifall vieler Gutmeinender ist ihm gewiss. Hitlers Enthauptung wird wie eine genugtuende Befreiung gewirkt haben. Was man verstehen kann; doch es ist nicht mehr als simple Symbolik. Und die schadet eher dem, was gegen Rechts noch zu tun ist. Schwer getan hat sich die Nation im Umgang mit diesem Teil ihrer Geschichte von Anfang an. Verkrampft, verdrängend, verharmlosend und zu oft ritualisiert lief die "Aufarbeitung" ab. Als sich Hitler 1940 als Sieger über Frankreich feiern ließ, lag ihm das Gros des Volkes zu Füßen.

Ohne zig-tausende Helfer wäre der Holocaust nicht denkbar gewesen. Doch nach dem Untergang schien es plötzlich so gut wie keinen NSDAP-Anhänger gegeben zu haben. Und in Scharen konnten Mörder und Menschenschinder untertauchen oder kamen finstere NSDAP-Karriereritter trotz NS-Prozessen unbehelligt, "unbefleckt" davon.

Es quälte Nazi-Opfer zu erleben, dass einstige Parteibonzen auch in der Republik wieder zu Ämtern und satten Renten gelangten, während viele Verfolgte und Entehrte vergeblich bis zu ihrem Tod auf Wiedergutmachung warteten. Rechtlich war das meist korrekt; doch politisch und moralisch blamabel. Auch war es falsch, die Opfer von Flucht, Vertreibung und Bombenkrieg zu übergehen. Erst ein halbes Jahrhundert "danach" holte Günter Grass mit seiner Thematisierung von Flucht-Schicksalen Politik und Gesellschaft in die Gefühlswelt der Menschen zurück. Weil man jahrzehntelang deren meist schrecklichen Leidenswege ignorierte, öffnete man hier leichtfertig der neonazistischen Demagogie Tor und Tür. Doch Geschichte wird nur dann bewältigt, wenn Nachgeborene Einsichten aus dem Vergangenen ziehen.

Manche versuchen heute jedoch, die Souveränität der "Berliner Republik" für den "Schlussstrich" unter die Vergangenheit zu nutzen. Bei anderen, die Vorbild sein müssten, verblasst die Erinnerung auf peinlichste Art. Etwa bei Ministerpräsident Oettinger, der den NS-Richter Filbinger in die Nähe des Widerstands rückte.
Und vor allem scheint sich bei manchem eine geistige und emotionale Abstumpfung gegenüber rechtslastigem Denken einzuschleichen. Das gilt es zu erspüren und zu bekämpfen.

Übrigens: Die mit den Springerstiefeln, die sieht man. Faschistoide im Nadelstreifen sieht man nicht. Aber sie sind gefährlicher als ein Hitler aus Wachs".

Quelle: WAZ vom 7. Juli 2008, von Rolf Potthoff

Andreas Jordan, Juli 2008